Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Unterdrückung der Uiguren: Lektion China lieben lernen
> Chinas repressiver Umgang mit Minderheiten hat Tradition. Die Situation
> der Uiguren zeigt: Es ist höchste Zeit, dagegen etwas zu tun.
Bild: Eine Uigurin steht zusammen mit ihrer Tochter und ihren Nachbarn vor ihre…
BERLIN taz | Was sagt man einem weinenden Kind, dessen Eltern plötzlich
nicht mehr da sind? Was antwortet man ihm, wenn niemand weiß, wo sie sind
und wann sie wiederkommen?
Weil Nachbarn, Polizisten oder die Lehrer damit überfordert sind, den
vielen uigurischen Kindern in der chinesischen Grenzregion Xinjiang
vernünftig zu antworten, geben Chinas Behörden den Erwachsenen
Argumentationshilfen an die Hand.
Sie sollen sagen: Kein Grund zur Sorge, die Eltern seien zur „Fortbildung“
unterwegs. Die Regierung helfe ihnen dabei, sich vor dem „Virus“ des
religiösen Extremismus und vor terroristischem Gedankengut zu schützen.
Die Kinder selbst sollten sich ruhig verhalten, denn damit täten sie sich
und ihren Eltern den größten Gefallen.
Diese Argumentationshilfe findet sich in einem Packen interner
[1][Dokumente, die die New York Times] und das [2][Netzwerk investigativer
Journalisten] jüngst zugespielt bekamen.
## China verharmlost Lager als „Berufsbildungszentren“
Sie bestätigt, was die Pekinger Regierung bis vor Kurzem stets geleugnet
hat: In den vergangenen drei Jahren sind Hunderttausende – wahrscheinlich
weit über eine Million – Uiguren, Kasachen und Angehörige anderer
muslimischer Volksgruppen in den offiziell „Berufsbildungs- und
Trainingszentren“ genannten Lagern in Chinas nordwestlicher Region Xinjiang
eingesperrt worden. Das ist [3][rund ein Zehntel der gesamten uigurischen
Bevölkerung].
In diesen „Zentren“ sollen sie die Liebe zu China und seiner Regierung, zur
Han-chinesischen Kultur erlernen – und vor allem Disziplin. Und sie sollen
unerwünschte Gewohnheiten ablegen, also etwa die, zu viel im Koran zu
lesen, zu viel zu beten, sich zu lange Bärte wachsen zu lassen und sich zu
stark zu verschleiern.
Pekings Politiker streiten die Existenz der Internierungslager inzwischen
nicht mehr ab, weisen aber jede Kritik daran als „Einmischung in interne
Angelegenheiten Chinas“ zurück. Und sie argumentieren mit dem Kampf gegen
den Terrorismus. In den letzten Jahren hätten Extremisten „Tausende“ von
Anschlägen verübt.
Das „Verschwindenlassen“, das Verschleppen und Festhalten ohne rechtliche
Grundlage ist in China nichts Ungewöhnliches. Die Kommunistische Partei
(KP) ist das Gesetz, Polizei, Armee und Geheimdienste sind ihre
Erfüllungsgehilfen.
Diese Willkür trifft nicht nur Uiguren, sondern Angehörige aller
Volksgruppen, etwa der Tibeter. Aber auch Han-Chinesen sind Opfer. Die
Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte zeigt – und das weiß jeder in China:
Niemand ist sicher.
Rechtsanwälte, Lehrer, Künstler, Blogger, Journalisten, Gewerkschafter,
Wissenschaftler, Christen, Angehörige von Sekten, Nonnen, Geschäftsleute
sind ebenso wie Parteifunktionäre in sogenannten schwarzen Gefängnissen
verschwunden – und manche sind nie wieder aufgetaucht.
## Auf dem Weg zum totalitären Albtraum
Aber was derzeit in Xinjiang geschieht, ist ein weiterer Schritt auf dem
Weg in einen totalitären Albtraum. Auch wenn sich innerhalb der Verwaltung
Unmut regt, wie die Tatsache beweist, dass die internen Unterlagen an die
Öffentlichkeit gelangen konnten: Es gibt derzeit offenkundig niemanden, der
die Masseninhaftierungen stoppen kann oder will.
Wer nur halbwegs bei politischem Verstand ist, muss sich fragen, wie es
sein kann, dass die Politiker in Peking und ihre Statthalter in Urumqi
ernsthaft glauben können, etwas anderes als heillose Wut, tiefe Kränkung
und heftige Aggressionen in einer wichtigen Region ihres Landes zu ernten,
wenn sie uigurische Frauen und Männer, Alte und Junge, hinter Stacheldraht
sperren?
Wenn sie „Ich liebe China“ in chinesischen Schriftzeichen und rote
Papierherzchen über deren Pritschen kleben lassen? Wenn sie die Insassen
zwingen, für das Fernsehen traditionelle Tänze vorzuführen? Wenn ihnen
erklärt wird, sie sollten sich vom ihrem Glauben und ihren Sitten
distanzieren und stattdessen ihre Verehrung für die Partei samt ihrem
Vorsitzenden zu erklären. Wenn sie unterdessen Han-chinesische Nachbarn und
Funktionäre in die Wohnungen von Uiguren schicken, damit diese über deren
Bücher und Bilder, Schränke und Betten Bericht erstatten?
Die Antwort: Es ist ihnen völlig egal. Die Generation, die heute an der
Macht ist, hat ihre Jugend in der Kulturrevolution der sechziger und
siebziger Jahre erlebt, als Denunziationen, Folter und Massenkampagnen an
der Tagesordnung waren. Xinjiang war ein Ort der Verbannung – wie für den
Vater des Künstlers Ai Weiwei, den Dichter Ai Qing.
Peking schickte Siedler und Soldaten aus Zentralchina bereits in den 50er
Jahren in die Wüsten und Täler Xinjiangs, um mit dem militärisch geführten
„Produktions- und Aufbaucorps“ Neuland zu gewinnen und zugleich
widerstrebende Uiguren zu befrieden.
## Gedämpfter Optimismus nach der Kulturrevolution
In meiner Zeit in China habe ich Xinjiang öfter besucht: zuerst 1980, als
ich bei einer uigurischen Studentin in Urumqi zu einer Hochzeitsfeier in
der Familie eingeladen war. Damals war Mao Zedong erst wenige Jahre tot und
die Kulturrevolution erst seit Kurzem vorbei. Niemand wurde mehr gezwungen,
sich die Haare abzuschneiden, Schweinefleisch zu essen oder sich vor
Mao-Porträts zu verneigen. Die ersten Moscheen durften wieder öffnen, auf
den Märkten gab es Melonen, Rosinen und Nüsse zu kaufen.
Die Stadt war arm, Hochhäuser ragten noch nicht in den Himmel, in den
Straßen sah ich Frauen in bunten Kleidern – aber keine trug Hidschab oder
Schleier.
Han-chinesische Nachbarn waren nicht zum Fest geladen. Beide Volksgruppen
lebten nebeneinanderher. Die Stimmung war gedämpft optimistisch: In Peking
waren in den 80er Jahren liberalere Parteifunktionäre – darunter der Vater
des heutigen KP-Chefs Xi – an der Macht, die sich für einen respektvollen
Umgang mit den ethnischen Minderheiten starkmachten.
Zwanzig Jahre später war es aus mit dem Optimismus. So kam es am 5. Juli
2009 zu blutigen Auseinandersetzungen, bei denen Uiguren plötzlich mit
Macheten und Messern auf Han-Chinesen losgingen. Tags darauf rächten sich
Han-Chinesen an den Uiguren, 200 Menschen starben an diesen Tagen. Die
meisten von ihnen waren Han-chinesische Migranten, die inzwischen die
Mehrheit der Bevölkerung von Urumqi stellten.
Die Stadt hatte sich ungeheuer gewandelt: breite Straßen, Hochhäuser,
Shoppingcenter, allgegenwärtige Polizeikontrollen – und viele stark
verschleierte Frauen. Die Atmosphäre aus wechselseitigem Misstrauen und
Angst vor neuen Attacken war mit Händen zu greifen.
## Han-Chinesen dominieren heute Urumqui
Damals war ich China-Korrespondentin und sprach vor Ort mit einer jungen
Uigurin, voll verschleiert in einem knallgelben Tuch. Ihr ehemaliger
chinesischer Chef hatte ihr verboten, sich so zu kleiden. Sie hatte deshalb
den guten Verwaltungsjob aufgegeben und arbeitete nun in einem kleinen
Telefonladen. Sie war zornig und hatte Angst.
Abends saß eine Gruppe gut gekleideter Männer über Schaschlik in einem
Gartenlokal. Sie seien Händler, berichteten sie – allerdings hätten sie
ihre Reisepässe abgeben müssen, weil die Behörden nicht wollten, dass
Uiguren nach Pakistan oder anderswo in Zentralasien reisten. Jetzt hätten
ihre Han-chinesischen Konkurrenten die Geschäfte übernommen; die konnten
problemlos reisen.
Seither hat sich die Situation noch verschärft. Politiker wie der heutige
KP-Chef Xi Jinping sind mit der Überzeugung aufgewachsen, dass politisch
nur überlebt, wer stärker und härter ist als die anderen. Und sie glauben
fest, Han-Chinesen mit ihrer angeblich 5.000-jährigen Geschichte seien
anderen Volksgruppen intellektuell und kulturell überlegen. Deshalb müssten
sie die vermeintlich rückständigen Ethnien erziehen und disziplinieren.
Diese zutiefst paternalistische Sicht auf Minderheiten ist im offiziellen
Geschichtsbild, in Museen, Filmen und im Alltag verbreitet. Die
Parteiführung hat sich offenbar so sehr in ihrer politischen Paranoia
verfangen, dass es ihr egal ist, wenn auch Hongkonger und Taiwaner mit
Schaudern auf Xinjiang starren.
Was die Lage der Uiguren noch verzweifelter macht: Sie haben unter der
Mehrheit der Bevölkerung Chinas keinen Rückhalt. Ernsthafte Debatten in der
Öffentlichkeit über die Frage, wie die Han-chinesische
Mehrheitsgesellschaft (über 90 Prozent) mit ihren ethnischen Minderheiten
umgehen sollte, sind tabu. Es gibt keine allgemeine Verständigung darüber,
wie Konflikte um Land, um Geschäfte, um Posten und Jobs fair gelöst werden
könnten, damit das Zusammenleben besser klappt.
Xinjiang ist eine riesige, rohstoffreiche Region – doch die wichtigen
Industrien und Ämter sind in der Hand der Han-chinesisch dominierten KP.
Deren Chef ist mächtiger als jeder Gouverneur.
Uigurische Intellektuelle, die solche Debatten führen und Auswege suchen
wollten, sitzen heute wegen „Separatismus“ im Gefängnis, [4][wie etwa der
Wirtschaftsprofessor Ilham Tohti].
Auf der anderen Seite haben sich nur wenige Han-Chinesen – eine Ausnahme
ist der Schriftsteller Wang Lixiong – ernsthaft für die Geschichte
Xinjiangs und das Leben der Uiguren interessiert.
## Die Regierung setzt auf totale Einschüchterung
Die Regierung setzt, und das nicht erst in den letzten Jahren, auf totale
Einschüchterung. Manche Uiguren reagieren, indem sie sich in eine
konservativere oder radikalere islamische Gemeinschaft zurückziehen.
Unter der Devise „Augen und Ohren zu“ und mit der Ausrede „Wandel durch
Handel“ entschieden sich die VW-Manager 2011, dem von den chinesischen
Behörden forcierten [5][Bau einer Fabrik in Urumqi] zuzustimmen. Der
Vertrag sieht sogar vor, mit der Bewaffneten Volkspolizei
zusammenzuarbeiten, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete.
Die VW-Leute nahmen auch hin, dass einer ihrer Manager festgenommen wurde,
nachdem eine [6][Grünen-Abgeordnete 2012 kritische Fragen gestellt hatte].
Wie die VW-Leute müssen sich inzwischen auch Siemens- und BASF-Manager, die
Werke in Xinjiang haben, fragen lassen, wie sie auf die jüngsten Ereignisse
reagieren wollen. Weiterhin wegsehen?
Können sie ihre uigurischen Beschäftigten davor schützen, in diese Lager
abtransportiert zu werden? Haben sie es überhaupt je versucht? Wenn nicht,
gibt es nur eine Antwort: Die deutschen Firmen müssen raus aus Xinjiang.
1 Dec 2019
## LINKS
[1] https://www.nytimes.com/interactive/2019/11/16/world/asia/china-xinjiang-do…
[2] https://www.icij.org/investigations/china-cables/exposed-chinas-operating-m…
[3] /China-und-die-Uiguren/!5642452&s=Uiguren/
[4] /Sacharow-Preis-des-Europaparlaments/!5633332&s=Uiguren/
[5] /Archiv-Suche/!5053483/
[6] https://www.sueddeutsche.de/politik/china-cables-vw-verantwortung-xinjiang-…
## AUTOREN
Jutta Lietsch
## TAGS
China
KP China
Xinjiang
Uiguren
muslimische Uiguren
Menschenrechte
Umerziehungslager
Xi Jinping
Kulturrevolution
Menschenrechte
China
muslimische Uiguren
China
USA
China
Uiguren
Abschiebung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Menschenrechtsverletzungen in China: Australiens Uiguren-Enthüller
Der 23-jährige Nathan Ruser hat maßgeblich dazu beigetragen, das System
geheimer Umerziehungslager für Muslime in Xinjiang aufzudecken.
Unterdrückung von Uiguren in China: Verbotener Kinderwunsch
China reduziert laut einem Medienbericht die Geburtenrate der Muslime in
Xinjiang stark – mit Zwangsabtreibungen und Strafverfolgung.
Verfolgte Uiguren in China: Deutsche Firmen kuschen
Viele deutsche Firmen unterhalten Werke in der Provinz Xinjiang, wo Muslime
zu Hunderttausenden weggesperrt werden.
Alternativer Nobelpreis: Kämpferin für Frauenrechte
Die chinesische Anwältin Guo Jianmei wird für ihren jahrelangen Mut
ausgezeichnet. Nach Stockholm konnte sie aber nicht reisen.
US-Kongress verabschiedet Gesetz: Hilfe für Uiguren
Das US-Repräsentantenhaus fordert Sanktionen gegen China wegen der dortigen
Verfolgung der Uiguren. Peking reagiert empört und droht mit
Gegenmaßnahmen.
China und die Uiguren: Keine Gnade
Eine Enthüllung interner Dokumente der Kommunistischen Partei Chinas
schildert die Masseninternierung in der Provinz Xinjiang.
Uiguren im Exil: Ein Baum ohne Wald
Regelmäßig verschwinden in China Uiguren. Tahir Qahiri kämpft für die
Freiheit seines Vaters – und gegen die eigene Verzweiflung.
Abgeschobener Uigure in China: D. Adilie lebt – und sitzt in Haft
Im April wurde ein in München lebender Uigure nach China abgeschoben. Die
Uiguren werden in ihrer Heimat Xinjiang systematisch unterdrückt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.