# taz.de -- Lage der Uiguren in China: „Zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit“ | |
> In der Region Xinjiang hat China einen Polizeistaat aufgebaut, aus dem es | |
> für Uigur:innen kaum einen Ausweg gibt. Tahir Hamut Izgil konnte | |
> fliehen. | |
Bild: Chinesische Autoritäten benennen uigurische Dörfer um. „Welcome to th… | |
taz: Herr Izgil, Sie sind seit 2017 im Exil nahe Washington. Gelingt es | |
Ihnen, auf irgendeine Art Kontakt zu dem Umfeld, das Sie verlassen haben, | |
zu halten? | |
Tahir Hamut Izgil: Ich habe seit der Flucht keinerlei Kontakt mehr zu | |
Freunden und Verwandten aus meiner Heimat. Es wäre zu gefährlich für sie. | |
Hier bin ich nun von der größten Exilgemeinschaft von Uiguren in den USA | |
umgeben. Das hilft mir, sowohl mental als auch in vielen anderen | |
Beziehungen. Wir schaffen es, etwas von unserer Sprache und Religion, | |
unseren kulturellen Traditionen – vor allem Tanz und das Erlernen | |
traditioneller Musikinstrumente – zu pflegen und an die zweite Generation | |
weiterzugeben. | |
Sie waren drei Jahre im Gefängnis, weil Sie einst zum Studium in die Türkei | |
wollten. Aber in Ihrem Buch „Warten auf meine nächtliche Verhaftung“ | |
schreiben Sie nicht darüber, sondern über die strukturelle Kriminalisierung | |
der Uigur:innen in China. Was ist der Grund für diese Entscheidung? | |
Die aktuelle Krise ist so bedrängend, dass ich zunächst meine Erfahrungen | |
[1][des Unterdrückungssystems] thematisieren wollte. Nachdem ich das nun | |
getan habe, arbeite ich bereits an einem Buch über die Gefängniszeit. Ich | |
habe immer den Plan gehabt, auch darüber zu schreiben. Nicht von China aus | |
selbstverständlich, das wäre nicht möglich gewesen. | |
Es ist schwierig, sich das Bild eines traditionsorientierten uigurischen | |
Lebens zusammen mit einem hochtechnischen chinesischen Überwachungsapparat | |
vorzustellen, mit repressiven „Smart Cities“. | |
Ja, das ist ein seltsamer Widerspruch. [2][Das uigurische Gebiet] war | |
jahrelang ziemlich abgeschnitten vom Rest der Welt. Daher lebten viele | |
Menschen ein traditionelles Leben. Als dann das Internetzeitalter auch bei | |
uns dämmerte, bedeutete es nicht eine größere Verbundenheit mit der Welt, | |
sondern das Gegenteil: eine neue Stufe der Isolation durch [3][das | |
Hightech-Überwachungssystem des Staates]. Nur sehr wenige Menschen konnten | |
sich damals vorstellen, was Überwachungstechnologie heißt. Bald konnten die | |
KI-Programme in ganz China Uiguren identifizieren. Sobald du eine Kamera | |
passierst, die dich als „verdächtiger Uigure“ erfasst, wird ein Alarmton | |
gesendet oder die Daten werden an Sicherheitszentren übermittelt. Jede | |
lokale Polizeistation hat ihr eigenes Internetzentrum. | |
Wie blicken Sie auf die gewalttätigen Unruhen in der für Uigur:innen | |
zentralen Verwaltungsstadt Urumtschi zurück? | |
Es wird oft darauf referiert als der Aufstand vom 5. Juli. Es handelt sich | |
jedoch um eine Zeitspanne von Ende Juni 2009, als zwei Fabrikarbeiter in | |
einem anderen Teil Chinas angegriffen wurden, bis Oktober, als auch | |
Intellektuelle unter dem Vorwurf, mit dem Aufstand zu tun zu haben, | |
verhaftet wurden. Es wurde viel über die Hintergründe geschrieben, aber | |
meiner Meinung nach begann der Vorfall mit einem friedlichen | |
Studierendenprotest. Seit der Machtübernahme der Kommunisten 1949 kam es | |
wiederholt vor, dass friedlicher Widerstand mit Waffengewalt endete. Der | |
sogenannte 5.-Juli-Vorfall endete damit, dass die chinesische Regierung | |
ihren Sieg über die Separatistenbewegung erklärte. | |
Kurzwellenradios wurden von der Regierung verboten, außerdem wurden | |
Funkstörgeräte gegen ausländische Sender eingesetzt, Auslandskontakte | |
generell überwacht. Wie schaffen Sie es, unter diesen Umständen, sich eine | |
Meinung zu bilden? | |
Es gibt zwei Antworten darauf: Zunächst gibt es für diejenigen, die sich im | |
Internetzeitalter orientieren können, immer irgendwelche Wege, an | |
Nachrichten zu kommen. Darüber hinaus ist es, um die Situation in Xinjiang | |
einschätzen zu können, nicht unbedingt notwendig, die Welt zu verstehen. | |
Wobei es darüber hinaus selbstverständlich wichtig ist, die Welt zu | |
verstehen und ebenso wichtig, zu wissen, wie viel die Welt von dem | |
versteht, was in unserem Heimatland vor sich geht. | |
Sie schreiben in Ihrem Buch von Nachbarschaftskomitees, in denen unter | |
anderen auch Uigur:innen eingesetzt werden, um Uigur:innen zu | |
kontrollieren. Gelingt es, Misstrauen und Feindschaft unter ihnen zu säen? | |
Diesen Aspekt habe ich nur kurz erwähnt in meinem Buch, aber es ist | |
sicherlich ein Thema, über das vieles gesagt werden kann. Uiguren leben | |
innerhalb eines Systems in China, sie sind gewissermaßen Teil davon. Obwohl | |
die uigurische Region ein kolonialisiertes Gebiet ist, spielt das Wissen | |
darum im Alltag nicht immer eine Rolle. Die Menschen erfahren die Dinge | |
direkter: Sie denken vor allem daran, wie sie durchkommen, an die möglichen | |
Quellen der Freude, die erreichbar für sie sind. Sie versuchen, sich auch | |
noch an die widrigsten Bedingungen anzupassen, um kleine Alltagsfreiheiten | |
zu erlangen. Auf diese Art werden sie Teil des Unterdrückungssystems. Das | |
entspricht dem Ziel der Regierung, die Kultur der Uiguren auszulöschen und | |
sie komplett zu assimilieren. | |
Es gibt ein Bewusstsein für das Unrecht. | |
Es wäre falsch zu sagen, eine Anzahl X unterstützt die Regierung und eine | |
Anzahl Y nicht. Denn es ist natürlich nicht so, dass das Bewusstsein für | |
die Unrechtssituation erloschen wäre. Die Ausgangssituation ist, dass seit | |
1949, seit die Kommunistische Partei die Macht in unserer Region übernommen | |
hat, [4][den Uiguren permanent Rechte verweigert werden]. Gleichzeitig | |
wurde das Versprechen einer autonomen Region nicht eingehalten. Das führt | |
zwangsläufig zu Forderungen. Manche beruhen auf einem intellektuellen | |
Verständnis dessen, was nicht rechtmäßig ist, andere sind eher direkt, | |
simpel, geradeaus: Sie reagieren auf eine spezifische Situation, in der | |
jemandes Rechte mit Füßen getreten wurden. Aber wie auch immer die | |
Forderung nach den Rechten ausfällt: Es ist eine Reaktion auf eine | |
permanente und systemische Unterdrückung. Die Regierung charakterisiert | |
diese Forderungen nach Rechten jedoch systematisch als Konterrevolution | |
oder Aufstand, als Separatismus, Extremismus oder gar Terrorismus. | |
Inwiefern gibt es islamistischen Extremismus unter Uigur:innen, | |
beziehungsweise besteht ein Einfluss aus anderen Ländern mit | |
extremistischen Bewegungen? | |
Es gibt diese Tendenzen. Uiguren sind seit 1.000 Jahren ein muslimisches | |
Volk. Die Verbreitung des Islamismus seit den 1990er Jahren in Afghanistan | |
und anderen Teilen Asiens ging auch an der uigurischen Region nicht | |
komplett vorbei. Es ist jedoch eine große Frage, wie wir „islamischen | |
Extremismus“ definieren. In China gilt der Besitz eines Korans schon als | |
extremistisch. Die chinesische Regierung hat 9/11 insofern für sich | |
beansprucht, als sie das Konzept des Terrorismus generell auf die | |
uigurische Minderheit anwendet. Ich interpretiere Zeichen von islamischem | |
Extremismus vor allem als eine Entwicklung in Beziehung auf die starke | |
Unterdrückung der Rechte und nicht als eine immanent vorhandene Tendenz. | |
Als Intellektueller ist meine Haltung, dass ich selbstverständlich hoffe, | |
dass jede Bestrebung sich innerhalb des Rechts äußert sowie dass wir auf | |
Grundlage des Rechts regiert werden. Aber so funktioniert es in China | |
leider nicht. Es gibt dort keine klare Unterscheidung zwischen Politik und | |
Gesetz. Deshalb werden wir permanent zermalmt zwischen den Regeln des | |
Gesetzes und Gesetzlosigkeit. | |
Als Sie 2017 ins Exil gingen, war weit weniger über die Situation der | |
Uigur:innen bekannt als heute, nach diversen Leaks, Augenzeugenberichten | |
und Ähnlichem. Hat die internationale Aufmerksamkeit die Situation in Ihren | |
Augen beeinflusst? | |
Seit 2017 wurden zwischen einer und drei Millionen Uiguren interniert. | |
Aufgrund kontinuierlicher Berichte internationaler Zeitungen und | |
Nachrichtenagenturen sowie den Leaks wurde ein gutes Jahr später bekannt, | |
was los war. Als Antwort auf den internationalen Druck begann die | |
chinesische Regierung ab Ende 2019, einige Menschen aus den Camps zu | |
entlassen. | |
2021 haben die USA und einige andere Länderparlamente die Geschehnisse in | |
der Region als „Genozid“ beziehungsweise „Verbrechen gegen die | |
Menschlichkeit“ gewertet. Vor allem die Versuche der USA und anderer | |
Länder, politische Verantwortliche und Firmen zu boykottieren, hat einen | |
Effekt gehabt. Eine wesentliche Rolle spielte das Erlassen eines Gesetzes | |
der USA gegen den Handel mit Produkten, die unter [5][Einsatz von | |
Zwangsarbeit] in den Uigurengebieten entstehen. Zunächst hat dies zu einer | |
Verschiebung der Situation geführt. Die internierten Menschen wurden in | |
verschiedene Kategorien geteilt: solche, die zu Gefängnisstrafen verurteilt | |
werden, solche, die in den Camps bleiben, und solche, die in ein Leben | |
unter Überwachung entlassen werden. | |
Mit Dank an Joshua L. Freeman in Taipeh für die Übersetzung aus dem | |
Uigurischen ins Englische. | |
9 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
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