| # taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Gesellschaft gibt es nur mit anderen | |
| > Zerfällt unsere Gesellschaft in eine Vielzahl von Gemeinschaften? Wichtig | |
| > für alle Individuen ist der Umgang mit den Unterschieden. | |
| Bild: Wichtig ist für eine Gesellschaft der Umgang mit Unterschieden und die S… | |
| Im Zeitalter der gespaltenen, gar zerfallenden Gesellschaft taucht immer | |
| öfter ein Ruf auf: Überlassen wir Konzepte wie Heimat oder Zugehörigkeit | |
| nicht den Rechten! Ich möchte hiermit Skepsis anmelden. Denn was heißt | |
| eigentlich, die Gesellschaft zerfällt? | |
| Seit Ferdinand Tönnies unterscheidet die Soziologie zwischen Gesellschaft | |
| und Gemeinschaft. Gemeinschaften sind Gruppierungen mit einer eigenen | |
| Verbundenheit – durch Emotion, durch Tradition –, die als „natürliche“, | |
| organische erlebt wird. Eine Gesellschaft hingegen ist eine wesentlich | |
| losere Verbindung, in der die Individuen miteinander in Austausch treten, | |
| interagieren, kooperieren – aber doch getrennt bleiben. Für den Einzelnen | |
| bedeutet das den Unterschied zwischen Teilsein und Teilhaben: In einer | |
| Gemeinschaft ist man Teil des Ganzen – in einer Gesellschaft hat man teil. | |
| Was eine Spaltung der Gesellschaft bedeutet, kann man sich sofort | |
| vorstellen. Was aber bedeutet der Zerfall der Gesellschaft? Es ist dies der | |
| Rückfall in eine Vielzahl von Gemeinschaften. Natürlich gab es solche | |
| Gemeinschaften auch schon früher, als man die Gesellschaft noch nicht in | |
| Frage stellte. Es gab politische, religiöse, kulturelle Subgruppen. Heute | |
| aber erodiert das Verbindende zwischen all diesen Gruppen – was deren | |
| jeweiligen Gemeinschaftscharakter umso mehr verstärkt. | |
| [1][Populismus] ist die eminenteste – aber nicht die einzige – Kraft dieses | |
| Moments, der die Gemeinschaft befördert. So ist sein Nationalismus der | |
| Versuch, ein ganzes Volk in eine Gemeinschaft zu verwandeln. Was aber | |
| halten die offenen, die toleranten, die linken Kräfte dem entgegen? | |
| ## Demokratie und Europa beschwören | |
| Da, wo sie versuchen, die Gesellschaft stark zu machen, herrscht das | |
| Bekenntnis zu Begriffen vor. Es ist wie beim magischen Denken: Schon deren | |
| Beschwörung soll Gefahr bannen. Demokratie etwa. Oder Europa. All das will | |
| man, wie es ist – nur ein bisschen anders: Demokratie – nur demokratischer. | |
| EU – nur europäischer, sozialer. Kapitalismus – nur etwas weniger davon, | |
| etwas regulierter. All das ist richtig, all das ist redlich. Aber seien wir | |
| ehrlich zu uns selbst – fulminant ist es nicht. | |
| Nun gibt es da die neue Schiene: Man kehrt den Spieß um, macht seine | |
| eigenen Gemeinschaftsappelle. So kommt es, dass auch Progressive von | |
| Zugehörigkeit sprechen, nach dem Wir-Gefühl Ausschau halten, nach Heimat | |
| suchen. All das neu, integrativ definiert – als Formel eben, wie man diese | |
| Konzepte eben nicht den Rechten überlässt. | |
| Das Problem dabei ist: Damit tappt man selbst in die Falle der | |
| Gemeinschaft. Und das ist kein Ausweg. Es geht doch vielmehr darum, das, | |
| wonach man sucht, aus der Sprache der Gemeinschaft zu lösen – es in die | |
| Sprache der Gesellschaft zu übersetzen. Um eine Gesellschaft zu befestigen, | |
| braucht es kein neues Wir-Gefühl, sondern einen Umgang mit Unterschieden – | |
| mit unterschiedlichen Gemeinschaften, mit unterschiedlichen Vorstellungen | |
| vom guten Leben. | |
| ## Solidarität statt Zugehörigkeitsgefühl | |
| Es braucht nicht mehr Zugehörigkeitsgefühle, sondern Vorstellungen, wie man | |
| Solidarität befördert in einer Gesellschaft, in der Individuen einander | |
| eben nicht mehr alle ähnlich sind. Es braucht keine neue Heimat, sondern | |
| vielmehr eine vermehrte soziale Durchmischung. | |
| Es braucht keine Verstärkung des Gemeinschaftstextes, sondern das | |
| Entwickeln von Gesellschaftskategorien. Ebenso verhält es sich mit dem | |
| neuen Narrativ, nach dem jeder ruft und das niemand findet. Es braucht | |
| keine neue Erzählung, um Gesellschaft zu befördern. Es braucht vielmehr | |
| etwas ganz Anderes: geteilte Praxis, geteilte Erfahrungen. Die so | |
| unterschiedlichen Gesellschaftsmitglieder müssen wieder Erfahrungen teilen. | |
| Dazu braucht es Orte der Durchmischung, Bereiche der Kooperation – statt | |
| Ghettoisierung und soziale Abkoppelung. Es braucht „gefährliche | |
| Begegnungen“, wie Heinz Bude das genannt hat. Und das ist etwas anderes, | |
| als „mit Rechten reden“! Ohne diese drohen die offenen, toleranten Kräfte | |
| selbst zu einer Gemeinschaft zu werden – zur Gemeinschaft der Progressiven. | |
| Denn Gesellschaft kann man nicht allein machen. Die gibt’s nur mit anderen. | |
| 23 Mar 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
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