Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ausstellung „Exile Is a Hard Job“: Rissige Tapeten, Text auf Ba…
> Die Retrospektive der Künstlerin Nil Yalter vereint Werke aus ihrem
> jahrzehntelangen Schaffen. Darin erforscht sie Materielles und
> Erfahrbares.
Bild: „Soziologisch“ nennt Yalter ihre Arbeit. Phänomenologisch ist sie au…
Ist es möglich, sich in einem schlauchförmigen Raum zu verlieren, wenn der
Weg geradeaus führt und sein Ende sichtbar ist? Was passiert, wenn die
Sicht versperrt wird, etwa durch Stimmen, die von allen Seiten auf Sie
einprasseln? Haben Sie schon mal Stimmen sehen können?
In der Ausstellung „Exile Is a Hard Job“ im Kölner Museum Ludwig gerät man
in solch ein akustisches Dickicht. Stimmen tönen aus Videos: Von der einen
Seite lassen sich gedämpfte, verschiedensprachige Männerstimmen vernehmen,
sie hören sich klagend an, von der anderen die Stimme einer Frau mittleren
Alters, die auf Türkisch erzählt, warum sie nie Lesen und Schreiben lernte.
Aus einer anderen Ecke pfeift leise orientalische Musik. Das Hörbare drängt
zwar das Sehbare in den Hintergrund, jedoch nicht das Sichtbare.
Erhörtwerden kann auch [1][Sichtbarkeit verschaffen], die oft im
Kunstbetrieb fehlt: Für Frauen, queere Menschen, Schwarze und People of
color, Arbeiter*innen und Migrant*innen.
Am Tag vor der Ausstellungseröffnung sitzt die Künstlerin Nil Yalter im
Museumscafé, ihre Augen umrahmt mit Kajal, vor ihr steht ein Glas Weißwein.
„Die Stimmen sollen organisches Flüstern erzeugen“, sagt sie auf Türkisch,
„sie sollen eine gemeinsame Stimme erschaffen.“ Darauf, diese Stimme einer
breiten Öffentlichkeit hörbar zu machen, musste Yalter lange warten. Sie
ist 81 Jahre alt. Und das ist ihre bisher größte Einzelausstellung, die
erste überhaupt in Deutschland. Die Retrospektive umfasst Arbeiten aus den
letzten fünfzig Jahren ihres Schaffens.
1965 zog Yalter – in Kairo geboren und in Istanbul aufgewachsen – nach
Paris und arbeitete dort als eine der ersten Künstlerinnen mit Video. Sie
experimentierte mit Bild, Ton und Musik, kombinierte Zeichnungen,
Fotografien und Schrift. Yalter segmentiert sorgfältig, fast schon
ökonomisch Wahrgenommenes und Wahrnehmung an sich. Kanten und Kreise ziehen
sich bis zuletzt durch ihre Arbeiten. Sie werden ergänzt durch verspielte
Ornamente, die an byzantinische und osmanische Kunst erinnern.
## Soziologisch und phänomenologisch
Yalters erste Arbeiten führen auch in die Ausstellung „Exile Is a Hard Job“
ein: In den ersten Jahren in Paris malte sie, abstrakt und geometrisch,
beeinflusst von den russischen Konstruktivist*innen – bis Yalter sich für
konzeptionelle, sozialkritische Kunst entschied. Grund war die Erfahrung
politischer Unruhen in der Türkei und des faschistischen Militärputsches im
Jahr 1971, im Zuge dessen wurden Zehntausende festgenommen, gefoltert und
getötet. Auch die künstlerische Annäherung an diese Zeit hat in der
Werkschau ihren Platz eingenommen.
„Soziologisch“ nennt Yalter ihre Arbeit. Phänomenologisch ist sie auch: Sie
erforscht Materielles und Erfahrbares gleichermaßen, wie etwa in der
Installation „La Roquette, Prison for Women“ (1974). Eine Frau berichtet in
dem für das Werk zentralen Video regungsarm vom Alltag als Insassin in
einem französischen Frauengefängnis. Ihre Erzählungen hangeln sich entlang
an Gegenständen, die im Gefängnis gebraucht und getauscht werden.
Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen Nahaufnahmen von Händen, die Besteck
halten und Tabak rollen.
Yalter porträtierte auch [2][türkische Arbeitsmigrant*innen] in
Frankreich. Sie zeichnete die Fotos der Serie „Turkish Immigrants“
(1977–2016) nach, ließ die Gesichter der Porträtierten jedoch weiß.
Türschlösser, die ihnen gehören, und Risse in Tapeten hat Yalter hingegen
in gleichsam mikroskopischen Aufnahmen festgehalten. Diese Unsichtbaren,
wie die Insassinnen von La Roquette, werden erzählt über Dinge und Räume,
die ihr Sein strukturieren und determinieren.
## Es fehlen Gegenbehauptungen
Diese Akribie in der Dokumentation führt dazu, dass Yalters Blick nicht
fremd macht oder exotisiert. Er protokolliert migrantische Biografien
genauso unaufgeregt wie den Alltag von Frau Meisel aus „Neuenkirchen“
(1975) in Niedersachsen, der aus eintöniger Haus- und Erwerbsarbeit
besteht. Yalter versteht ihre Kunst als feministisch, bleibt in der
Umsetzung jedoch zuweilen kurzsichtig. In einem veröffentlichten Gespräch
mit der Kuratorin Rita Kersting sagt sie etwa zu ihren geometrischen
Leitmotiven: „Die runde Form ist eine weibliche Form.“
Weiblichkeit bezieht Yalter wenig später auf Mütterlichkeit, sagt etwa,
dass ihre Arbeiten „Topak Ev“ und „The Headless Woman or The Belly Dance�…
aus dem Jahr 1974 zusammenhängen, weil „beide den Mutterleib darstellen“.
Ersteres ist die Nachbildung einer runden Jurte von Nomad*innen im
türkischen Anatolien. Das Zelt sei die Sphäre der Frau gewesen, so Yalter.
Die andere Arbeit ist ein Video, das den Bauch der Künstlerin zeigt.
Während er sich zu Musik bewegt, wird er mit einem Text beschrieben, der
von der Klitoris und weiblicher Lust handelt.
Die Erzählung des vermeintlich Weiblichen mag zwar zunächst eine empirische
Beobachtung gesellschaftlicher Zuschreibungen sein. Doch fehlt es in dem
gezeigten Ausschnitt aus Yalters Arbeiten oftmals an Gegenbehauptungen – an
Bildern, die irritieren, die queer sind. So besteht die Gefahr, die
diskursive Binarität von weiblich und männlich und damit einhergehende
angebliche Eigenschaften visuell zu konservieren. „Exile Is a Hard Job“ ist
dennoch dringend: Yalter macht sichtbar, was lange eine Leerstelle blieb.
Wir hätten ihre Arbeiten hier bloß früher gebraucht. Nil Yalter musste zu
lange warten.
16 Mar 2019
## LINKS
[1] /Gruendung-der-Queer-Media-Society/!5572716
[2] /Zafer-enocak-ueber-das-Fremdsein/!5577272
## AUTOREN
Seyda Kurt
## TAGS
Kunst
Frauen
Ausstellung
Exil
Türkei
Berlin-Kreuzberg
Maxim Gorki Theater
Frauenkampftag
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kunst politisieren: Bitte in die Patronenhülse sprechen
Mit List und kollektiver Kraft: Die Ausstellung „In the Blink of A Bird“ in
Berlin blickt auf die eingeschränkte Meinungsfreiheit in der Türkei.
Ein Pionier in der kurdischen Musik: Einmal ins Universum schreien
Kurdische Musik, volkstümliche Erinnerung, queere Texte: Dem Berliner
Musiker Adir Jan ist die Liebe ein Anliegen. Er legt seine erste Platte
vor.
Yael Ronens neue Inszenierung in Berlin: Eigentlich zum Heulen
„Third Generation – Next Generation“ knüpft im Gorki-Theater an den
2008er-Erfolg „Third Generation“ an – in einer anderen BRD.
Künstlerinnen stellen in Leipzig aus: Verpuffte Frauenpower
Die Ausstellung des MalerinnenNetzWerks Berlin-Leipzig zeigt 28
Künstlerinnen. Allerdings verzichtet das Museum auf ein diskursives
Programm.
Zum Tod von Carolee Schneemann: Extrem einfallsreich, extrem radikal
Die Perfomancekünstlerin Carolee Schneemann schrieb Kunstgeschichte. Sie
fand es richtig, weibliche Lust und Begehren in die Kunstwelt zu bringen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.