| # taz.de -- Ethikrätin über Relevanz von Bioethik: „Alles soll zur Verfügu… | |
| > Spielt Bioethik heute keine große Rolle mehr? Sigrid Graumann sitzt im | |
| > Deutschen Ethikrat und bedauert, dass viele aktuelle Fragen aus dem | |
| > Blickfeld geraten sind. | |
| Bild: Damals wie heute: Protestmarsch gegen Paragraf 218 Ende der Siebziger in … | |
| taz: Seit einem Jahr sind Frauen wieder auf der Straße, um [1][gegen den | |
| §219a und letztlich auch gegen den §218] zu demonstrieren. Das gab es schon | |
| einmal in den 1970er Jahren im Westen und gesamtdeutsch in den 1990ern. | |
| Haben sich die Verhältnisse verändert oder haben sich Frauen zu sehr auf | |
| die scheinbar befriedeten Verhältnisse nach dem BVG-Urteil 1993 verlassen? | |
| Sigrid Graumann: In der alten Kontroverse Selbstbestimmungsrecht der Frau | |
| und der Schutzwürdigkeit ungeborenen Lebens ging es immer auch um die Rolle | |
| der Frau in der Gesellschaft. Geändert hat sich, dass sich die | |
| konservativen Kreise, die sich auf das Schutzkonzept beziehen, die aber | |
| letztlich die alten Geschlechterrollen restaurieren wollen, nicht mehr | |
| direkt auf den §218 abzielen, sondern versuchen, über Randthemen Boden gut | |
| zu machen. Eines dieser Themen ist das Werbungsverbot nach §219a. | |
| Mir fällt bei den Aktionen auf, dass die jungen Frauen ganz | |
| selbstverständlich wieder mit Parolen wie „Mein Bauch gehört mir“ oder | |
| „mein Uterus – meine Entscheidung“ auftreten, also auf ein völlig | |
| unhinterfragtes [2][Selbstbestimmungsrecht] rekurrieren. Wie sehen Sie das | |
| als Ethikrätin, die seit vielen Jahrzehnten in bioethische Debatten | |
| involviert ist? | |
| Ich unterrichte junge Studierende in Ethik, und der Schwangerschaftsabbruch | |
| ist dabei immer ein Thema. Mein Eindruck ist, dass wir es mit einer starken | |
| Individualisierung von moralischer Urteilsbildung zu tun haben. Viele junge | |
| Frauen sagen, dass für sie selbst eine Abtreibung nicht infrage kommen | |
| würde, finden gleichzeitig das Abtreibungsverbot aber völlig | |
| unverständlich. Während man in meiner Generation sagte, wann ich ein Kind | |
| bekomme, bestimme ich alleine, empfinden die jungen Frauen den | |
| Schwangerschaftsabbruch als tiefgreifende moralische Frage, die sie aber | |
| für sich selbst entscheiden wollen. Das ist das eine. | |
| Auf der anderen Seite wird das Selbstbestimmungsrecht mit großer | |
| Selbstverständlichkeit auf viele andere Bereiche ausgedehnt, wie | |
| Pränataldiagnostik, Eizellspende oder sogar Leihmutterschaft. Alles soll | |
| zur Verfügung stehen, um höchst individuell auswählen und entscheiden zu | |
| können. Wir haben es also nicht mehr mit Selbstbestimmung als Abwehrrecht | |
| gegenüber dem Staat zu tun, sondern es setzt sich zunehmend ein | |
| Anspruchsrecht auf ein eigenes, gesundes Kind durch, und zwar unter | |
| Rückgriff auf alle medizinischen Möglichkeiten und ohne die Betroffenheit | |
| Dritter, wie etwa der Eizellspenderinnen, zu bedenken … | |
| … oder im Falle des Bluttests auf behinderte Menschen … | |
| … genau, auch ob ich ein behindertes Kind haben will oder nicht, wird zur | |
| persönlichen moralischen Entscheidung. | |
| Im Jahr 2000 hat die damalige Gesundheitsministerin Andrea Fischer einen | |
| legendären Fortpflanzungsmedizinkongress organisiert. Nie mehr seither ist | |
| der Diskurs zwischen Fachwissenschaft und engagierter frauenpolitischer | |
| Öffentlichkeit so intensiv geführt worden. Spielt Bioethik heute keine | |
| relevante Rolle mehr? | |
| Ende der 90er Jahre gab es eine Hochphase des bioethischen Diskurses: nach | |
| den langen Diskussionen um das Embryonenschutzgesetz wurde um | |
| Präimplantationsdiagnostik, Stammzellgesetz, Klonverbot usw. gerungen. | |
| Fischer hatte eine gewisse Sympathie für die damals starken | |
| frauengesundheitspolitischen Positionen in der Debatte, die aber eher | |
| sozialethisch motiviert war: Was bedeutet die Institutionalisierung | |
| bestimmter reproduktiver Methoden und vorgeburtlicher Maßnahmen, wie wirkt | |
| sich die zunehmende Ökonomisierung solcher Gesundheitsleistungen aus? | |
| Die Anbieterseite, die sich immer für die Etablierung und Ausweitung | |
| solcher Verfahren eingesetzt hat, argumentiert rein individualethisch mit | |
| Einzelfallproblematiken und dem Recht auf ein eigenes, gesundes Kind, | |
| bestreitet jedoch problematische gesellschaftliche Auswirkungen. Diese | |
| Seite hat sich inzwischen weitgehend durchgesetzt. Und man muss sehen, wer | |
| eine Kinderwunschpraxis betreibt und für die Zulassung der Eizellspende | |
| streitet, hat geschäftsmäßige Interessen. Es ist etwas völlig anderes, wenn | |
| gesellschaftliche Bedenken vorgetragen werden. | |
| Sie sind seit 2016 von den Grünen berufene Ethikrätin und sagen selbst, | |
| dass Sie sich die Entscheidung nicht leichtgemacht haben. Im Rat sitzen | |
| ziemlich unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen ethischen | |
| Vorstellungen und Haltungen. Wie geht man in der Tagesarbeit damit um? | |
| Es gibt bei manchen Themen, die wir entweder von außen angetragen bekommen | |
| oder selbst auf die Tagesordnung setzen, kontroverse und harte | |
| Diskussionen. Es ist aber auch möglich, Minderheitenpositionen zur Geltung | |
| zu bringen. | |
| … in Form der berühmten Sondervoten … | |
| Ja, auch durch Sondervoten. Ich habe bisher nie eines abgegeben, weil ich | |
| mich mit meinen Positionen in den Stellungnahmen wiederfinden konnte, auch | |
| wenn man dabei Kompromisse machen muss, das gehört dazu. | |
| Sie haben im Rat zuletzt federführend an einer Stellungnahme zu | |
| Zwangsmaßnahmen in professionellen Sorgebeziehungen gearbeitet, eine sehr | |
| komplizierte Materie, die Differenzierung verlangt. Haben Sie das Gefühl, | |
| Ihre Anliegen in der Öffentlichkeit wirklich vermitteln zu können? | |
| Es ging in der Stellungnahme um die Vermeidung von Zwangsmaßnahmen in drei | |
| große Bereichen, der Psychiatrie, der Kinder- und Jugendhilfe und der | |
| Pflege. Am stärksten hat die Psychiatrie reagiert, weil sie aufgrund von | |
| aktuellen Gerichtsentscheidungen und Gesetzesänderungen sehr sensibilisiert | |
| dafür ist und sich viele Einrichtungen bemühen, Zwang zu vermeiden. In der | |
| Kinder- und Jugendhilfe wird eher in der Fachöffentlichkeit diskutiert, und | |
| am wenigsten kam unsere Stellungnahme wohl im Bereich Pflege an. Das ist | |
| erstaunlich, weil die Pflege im Moment ja durchaus im Fokus steht, aber | |
| unter anderen Aspekten. Aber Sie haben recht, die großen Medien haben auf | |
| das Thema nicht reagiert. | |
| Woran arbeitet der Ethikrat aktuell? | |
| Aktuell arbeiten wir an einer kleinen Stellungnahme zu Fragen des Impfens … | |
| … ein angesichts der militanten [3][Impfkritiker] äußerst vermintes Feld �… | |
| … ja, nach der Anhörung stellen sich Fragen doch komplexer dar, als zuvor | |
| gedacht wurde. Außerdem bereiten wir eine Stellungnahme zu | |
| Keimbahnveränderungen am Menschen vor | |
| Es geht um die [4][mittels Genschere veränderbare Keimbahn] des Menschen, | |
| wie sie kürzlich in China durchgeführt wurde, um bei einem Kind HIV zu | |
| verhindern. Ist das Thema angesichts der ablehnenden Haltung hierzulande | |
| überhaupt relevant? | |
| Zunächst muss man sehen, dass es bei der Keimbahnintervention nicht um die | |
| Entwicklung und das Angebot von Therapien an geborenen Menschen geht, | |
| sondern um eine Technik, die im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation | |
| angewendet werden soll. Es sollen also im Labor Embryonen gezeugt und | |
| genetisch verändert werden. Meines Erachtens ist es aber weder sinnvoll | |
| noch ethisch vertretbar, diese Technik überhaupt zu entwickeln. Die | |
| Patientengruppe, die für die klinische Anwendung im Blick ist, Patienten | |
| mit monogenetischen Erkrankungen wie Mukoviszidose oder Chorea Huntington, | |
| ist sehr klein und könnte nach geltender Rechtslage die PID in Anspruch | |
| nehmen. | |
| Eine Ausnahme wäre der extrem seltene Fall eines Paares, in dem Frau und | |
| Mann von Mukoviszidose betroffen und nicht so schwer krank sind, sodass | |
| eine Elternschaft infrage kommt. Sie könnten auch mit PID kein gesundes | |
| Kind zeugen, aber mit einer Samenspende. Gegen die Keimbahnintervention | |
| sprechen die unabsehbaren Risiken für die Kinder und deren Nachkommen. Alle | |
| anderen Ideen der Anwendung, etwa durch Schutzfaktoren das Risiko für | |
| multifaktorielle Krankheiten wie Krebs oder HIV zu verringern, mehrere Gene | |
| oder komplexe Eigenschaften zu verändern, machen wenig Sinn, weil das | |
| Zusammenspiel von Genen und Umweltfaktoren viel zu komplex ist, um gezielt | |
| und mit einem akzeptablen Risiko einzugreifen. | |
| Die vorhin erwähnte Andrea Fischer wollte schon vor fast 20 Jahren ein | |
| Fortpflanzungsmedizingesetz auf den Weg bringen. Das steht bis heute aus, | |
| es gibt aber Vorstöße seitens Wissenschaftsakademien wie der Leopoldina. | |
| Brauchen wir ein modernes Fortpflanzungsmedizingesetz? | |
| Bei dem um die Jahrtausendwende diskutierten Fortpflanzungsmedizingesetz | |
| ging es um die Regelung des gesamten Feldes, also nicht nur um | |
| Embryonenforschung, Eizellspende usw., sondern um Qualitäts- und | |
| Beratungsstandards, also den gesamten Kontext der In-vitro-Fertilisation. | |
| Bei den späteren einzelnen Gesetzesinitiativen sollten bestimmte Verfahren | |
| wie etwa die PID liberalisiert werden, was ja auch gelungen ist. Momentan | |
| machen sich Fortpflanzungsmediziner für die Eizellspende stark. Ich weiß, | |
| dass in der Leopoldina an einer Stellungnahme für ein | |
| Fortpflanzungsmedizingesetz gearbeitet wird, aber eine | |
| Wissenschaftsgesellschaft ist meines Erachtens nicht der richtige Agent, um | |
| das auf den Weg zu bringen. Dafür bräuchten wir eine breite und kontroverse | |
| gesellschaftliche Debatte. | |
| Für die es, wir hatten es schon, momentan kein großes Interesse gibt … | |
| Das stimmt, im Moment werden andere Themen diskutiert, internationale | |
| Konflikte, die Krise des demokratischen Systems, Rechtsextremismus … dabei | |
| geraten bioethische Fragen dann leicht aus dem Blickfeld. Ich würde mir von | |
| der Politik wünschen, die öffentliche Diskussion über bioethische Fragen | |
| unter Beteiligung aller davon Betroffenen zu fördern, denn es geht dabei ja | |
| nicht nur um konkrete Verfahren und Gesetze, sondern auch um | |
| Rollenerwartungen und gesellschaftliche Werte, die sich verändern. | |
| 8 Mar 2019 | |
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| Ulrike Baureithel | |
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