| # taz.de -- Schwangerschaftsabbruch in Deutschland: Weite Wege | |
| > Im Westen Niedersachsens müssen Frauen weit fahren, um eine | |
| > Schwangerschaft abzubrechen. Ministerin Carola Reimann (SPD) leugnet das | |
| > Problem. | |
| Bild: Viele Frauen wollen die weiten Wege zur Abtreibungsklinik nicht hinnehmen | |
| Bremen taz | Ungewollt Schwangere haben ein Problem. „Wir haben | |
| zweifelsohne Versorgungslücken in Deutschland“, sagte | |
| Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) vor zwei Wochen in der | |
| Talkshow von Anne Will – Titel „die neue Debatte über Abtreibungen“. Und | |
| sie bekräftigte: „Das ist ein Riesenfeld, bei dem wir etwas tun müssen.“ | |
| Bekannt ist das seit genau zwei Jahren. Damals hatte [1][die taz diese | |
| deutschlandweiten Lücken aufgedeckt]. Eine von ihnen befindet sich im | |
| Westen Niedersachsens. Dort müssen Frauen je nach Wohnort bis zu 150 | |
| Kilometer weit fahren, um eine Klinik oder eine Arztpraxis zu erreichen, | |
| die Schwangerschaftsabbrüche durchführt. In den Landkreisen Emsland, | |
| Grafschaft Bentheim, Vechta, Cloppenburg und Diepholz gibt es nach Auskunft | |
| der staatlich anerkannten Beratungsstellen für Schwangerschaftskonflikte | |
| keine Mediziner*innen, an die sich ungewollt Schwangere wenden können. | |
| Doch Niedersachsens Frauen- und Gesundheitsministerin Carola Reimann kann | |
| keine Lücke, wie sie ihre Parteifreundin, die Bundesfamilienministerin, | |
| benannt hat, in ihrem Bundesland erkennen. „Niedersachsen kann nicht | |
| gemeint gewesen sein“, sagt ihre Sprecherin der taz am Telefon. In einer | |
| Email schreibt sie: „Aus hiesiger Sicht besteht derzeit in Niedersachsen | |
| ein ausreichendes Angebot an ambulanten und stationären Einrichtungen zur | |
| Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen.“ So gebe es „108 niedergelassene | |
| Ärztinnen und Ärzte, die befähigt und grundsätzlich bereit sind, | |
| Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen“. Wo diese ihren Sitz in dem | |
| flächenmäßig zweitgrößten Bundesland haben, verrät das Ministerium aber | |
| nicht. | |
| Zudem sei „grundsätzlich in jedem Krankenhaus mit gynäkologischer Abteilung | |
| in Niedersachsen ein Schwangerschaftsabbruch möglich“. Das hatte Reimanns | |
| Ministerium [2][vor zwei Jahren schon einmal behauptet] – in einer Antwort | |
| auf eine Anfrage der FDP im Parlament. | |
| ## Viele katholische Kliniken | |
| Das ist deshalb eine verblüffende Aussage, weil allgemein bekannt ist, dass | |
| katholische Kliniken grundsätzlich keine Abtreibungen durchführen. In | |
| Niedersachsen gab es im April 2017 nach Auskunft des katholischen | |
| Krankenhausverbands Deutschlands 22 katholische Kliniken mit | |
| Gynäkologie-Abteilungen. Noch mehr hat nur Nordrhein-Westfalen. | |
| Deshalb können Frauen in Niedersachsen gleich in mehreren Landkreisen nicht | |
| in die Klinik zum Schwangerschaftsabbruch. Und im katholisch geprägten | |
| Westen Niedersachsens sind auch die niedergelassenen Ärzt*innen nicht | |
| bereit, Abtreibungen zu machen. Nach taz-Recherchen gibt es vereinzelt | |
| Praxen, die ausschließlich bei eigenen Patientinnen gelegentlich Ausnahmen | |
| machen. | |
| Wenn das Gesundheits- und Frauenministerium dennoch darauf besteht, dass es | |
| keine Probleme mit der Versorgung gebe, dann kann das nur bedeuten, dass es | |
| nicht mit den Trägern der staatlich anerkannten Beratungsstellen wie Pro | |
| Familia oder dem Diakonischen Werk redet. | |
| ## „Berichte über Versorgungslücken“ | |
| Denn die wissen aus ihrer Beratungspraxis, wie weit die Wege in manchen | |
| Regionen sind und vor welche Probleme das Frauen stellt. Zum einen werden | |
| Fahrtkosten nicht übernommen, zum anderen müssen sie sich oft vor | |
| Mitwisser*innen offenbaren, weil die Praxis darauf besteht, dass sie in | |
| Begleitung zurückfahren oder weil Kinder untergebracht werden müssen. | |
| Das Bundesfamilienministerium hingegen informiert sich offenbar aus erster | |
| Hand. „Uns liegen Berichte von Beratungsorganisationen über | |
| Versorgungslücken vor Ort vor“, schreibt Giffeys Pressestelle in einer | |
| Mail. Und: Man sei „intensiv mit Pro Familia in Kontakt“. Ein anderes Indiz | |
| sei die sinkende Zahl von Kliniken und Praxen, die beim statistischen | |
| Bundesamt als Meldestellen für Abbrüche registriert sind. Nach Recherchen | |
| der taz ist diese Zahl in den vergangenen 15 Jahren um mehr als 40 Prozent | |
| gesunken. | |
| Wo genau Giffey die Versorgungslücken entdeckt hat, will ihr Sprecher | |
| allerdings auch nicht sagen. Denn dann würde sie definieren, was überhaupt | |
| eine Lücke ist. Damit wäre sie die erste seit den sieben Richtern und einer | |
| Richterin des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1993. Die hatten damals in | |
| ihrem [3][Urteil über den Paragrafen 218] beschieden, es könne eine Hilfe | |
| in der Not sein, wenn die ungewollt Schwangere „für einen ersten Arztbesuch | |
| die An- und Rückreise – auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln – an einem | |
| Tag bewältigen kann“. | |
| ## Angebote beim Nachbarn | |
| Dieser Definition zufolge, nach der eine Tagesreise als zumutbar gilt, gibt | |
| es in Deutschland noch keine Versorgungslücken – und auf sie beziehen sich | |
| alle Gesundheitsministerien, die die taz zu dem Thema befragt hat. Wege von | |
| 100 Kilometern und mehr haben auch ungewollt Schwangere in Hessen, Bayern | |
| und Rheinland-Pfalz vor sich. Aber aus diesen Bundesländern kommt dieselbe | |
| Antwort wie aus Niedersachsen. Demnach besteht in allen Ländern ein | |
| „ausreichendes Angebot“ – diese Formulierung entstammt dem | |
| [4][Schwangerschaftskonfliktgesetz]. | |
| Die Sprecherin von Niedersachsens Gesundheitsministerin verweist dann noch | |
| darauf, dass Niedersachsen als einziges Bundesland an gleich neun andere | |
| Länder angrenze. „Dieser geographische Vorteil führt zu einem | |
| Pendelverhalten in schnell erreichbare Orte, Städte oder Großstädte anderer | |
| Länder.“ | |
| Holland ist damit allerdings nicht gemeint. | |
| So haben die Frauen im äußersten Westen Niedersachsens wenig davon, dass | |
| die Versorgung in Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und | |
| Sachsen-Anhalt um einiges besser als in Niedersachsen ist. Und in Münster, | |
| der nächstgelegenen größeren Stadt in Nordrhein-Westfalen, [5][hört jetzt | |
| der letzte Arzt auf], der noch Abtreibungen gemacht hat. Einen Nachfolger | |
| oder eine Nachfolgerin hat er nicht gefunden. | |
| 20 Feb 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Abtreibung-in-Deutschland/!5386152 | |
| [2] /Aerztliche-Versorgung-in-Niedersachsen/!5393898 | |
| [3] http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv088203.html | |
| [4] https://www.gesetze-im-internet.de/beratungsg/BJNR113980992.html | |
| [5] /Diskussion-um-Paragraf-218/!5565165 | |
| ## AUTOREN | |
| Eiken Bruhn | |
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