# taz.de -- Kommentar Schwangerschaftsabbrüche: Von wegen „Kompromiss“ | |
> Im Streit um Paragraf 218 wird es keine Lösung geben, die alle | |
> zufriedenstellt. Eine Verschärfung des Gesetzes muss aber niemand | |
> fürchten. | |
Bild: Weil Abtreibungen als Verbrechen behandelt werden, gibt es immer weniger … | |
Für Samstag hat [1][das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung] zu einem | |
bundesweiten Aktionstag aufgerufen. Dabei soll es nicht nur um Proteste | |
gegen die geplante Neuregelung des Paragrafen 219a gehen – also darum, wie | |
Ärzt*innen in Zukunft über Abtreibungen informieren dürfen. | |
Zu Recht fordert das Bündnis, auch den Paragrafen 218 aus dem | |
Strafgesetzbuch zu streichen. Denn anders als viele Politiker*innen und | |
Kommentator*innen unterstellen, handelt es sich beim § 218 nicht um einen | |
guten Kompromiss und damit [2][Ausdruck von Politikfähigkeit.] | |
Ein Kompromiss würde voraussetzen, dass sich zwei gleich starke Lager | |
gegenüberstehen: Auf der einen Seite diejenigen, die | |
Schwangerschaftsabbrüche verbieten, auf der anderen diejenigen, die sie – | |
in der Frühschwangerschaft – erlauben wollen. Diese zwei Lager existieren | |
nicht. Was es gibt: Menschen, die akzeptieren, wenn Frauen eine | |
Schwangerschaft beenden wollen und dass dies ihre ganz persönliche | |
Entscheidung ist. | |
Und es gibt Menschen, die das nicht ertragen und in einen Konflikt geraten: | |
Auf der einen Seite steht das Entsetzen darüber, dass eine Frau das Kind, | |
das in ihr wächst, wegmachen lässt. Auf der anderen Seite steht das Wissen, | |
dass ungewollt Schwangere nicht zum Austragen gezwungen werden können und | |
Frauen bei illegalen Abtreibungen sterben. | |
## Ein juristisches Kuriosum | |
Wer diesen inneren Konflikt nicht bewältigt, hält den § 218 für einen guten | |
Ausweg aus seinem persönlichen Dilemma. Denn Schwangerschaftsabbrüche | |
gelten danach als Tötungsdelikt, werden aber nicht als Straftat verfolgt, | |
wenn bestimmte Auflagen eingehalten werden. Dieses juristische Kuriosum – | |
weltweit einmalig – ist die Lösung einer [3][1993 vom | |
Bundesverfassungsgericht gestellten Aufgabe]. Das hatte eine | |
„grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes“ erkannt und daraus die | |
Notwendigkeit eines strafbewehrten Verbots abgeleitet. | |
Ganz vorbei an den Grundrechten der Frau kamen das Gericht – sieben Männer, | |
eine Frau – nicht und erfand ein „Schutzkonzept“, das die Frau durch | |
„individuelle Beratung und einen Appell an ihre Verantwortung gegenüber dem | |
ungeborenen Leben […] dafür zu gewinnen sucht, sich der Aufgabe als Mutter | |
nicht zu entziehen“. | |
Seitdem gibt es die Pflichtberatung, die laut | |
[4][Schwangerschaftskonfliktgesetz] „ergebnisoffen“ sein und „dem Schutz | |
des ungeborenen Lebens“ dienen soll. Eine Generation hat sich an diesen | |
Widerspruch gewöhnt. Über zweieinhalb Millionen Frauen haben sich vor dem | |
Abbruch beraten lassen, auch wenn der Entschluss bei zwei Dritteln | |
feststand. Das hatte 2016 [5][eine Befragung von 340 Frauen] im Auftrag der | |
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ergeben. | |
Jetzt rächt sich, dass SPD und Grüne, die eine Fristenregelung bevorzugen, | |
nach der Abtreibungen in den ersten zwölf Wochen erlaubt sind, seit 24 | |
Jahren nichts dafür getan haben, um Mehrheiten für die Abschaffung des § | |
218 zu organisieren. Denn das Gesetz hat Nebenwirkungen, [6][wie die taz | |
vor zwei Jahren aufgedeckt hat]: Weil Abtreibungen in Deutschland als | |
Verbrechen behandelt werden, gibt es immer weniger Ärzt*innen, die sie | |
machen. Deshalb müssen Frauen für einen Abbruch in einigen Regionen 100 | |
Kilometer und mehr fahren. Dennoch beharrt die SPD darauf, der § 218 würde | |
den Zugang zum sicheren Abbruch garantieren. | |
## Öffnet die AfD die „Büchse der Pandora“? | |
Politiker*innen von Grünen und SPD reden sich auch gerne damit heraus, dass | |
sie eine Debatte über den § 218 vermeiden wollten, um zu verhindern, dass | |
er verschärft würde. Das Ergebnis: Jetzt sind es die Rechtspopulisten, die | |
das Thema besetzen. Die erste Debatte seit 1995 im Deutschen Bundestag, | |
[7][die explizit die Abschaffung des § 218 zum Thema hatte], fand im | |
Dezember statt: Auf Antrag der AfD, die die Jusos dafür angriffen, dass | |
diese die Streichung des § 218 forderten. Die Jusos würden es gutheißen, | |
wenn „Babys“ „eine Minute vor der Geburt getötet werden“ können, so d… | |
AfD. | |
Das Motiv der AfD ist menschenfeindlich, aber man muss fast hoffen, dass | |
sie „die Büchse der Pandora“ öffnet, wie es ein CSU-Abgeordneter in der | |
Debatte nannte. Eigentlich muss der Gesetzgeber nämlich überprüfen, ob der | |
§ 218 seinem Schutzauftrag gerecht wird. Das hat das | |
Bundesverfassungsgericht 1993 in seinem Urteil verlangt. Aber um das | |
beurteilen zu können, müsste es belastbare Zahlen geben. Die gibt es nicht. | |
Das Einzige, was derzeit als Beweis für die Wirksamkeit des | |
„Schutzkonzepts“ bemüht wird, sind die Daten des Statistischen Bundesamts. | |
Danach ist die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche rückläufig, mit | |
Ausrutschern nach oben. Aber ob alle niedergelassenen Ärzt*innen und | |
Kliniken [8][ihrer Meldepflicht nachkommen]? Wenn niemand sie kontrollieren | |
kann? Und ob die Beratungspflicht ursächlich für den Rückgang ist? Oder | |
vielmehr Lebensumstände? | |
## Pures „Lebensschützer“-Denken | |
Es gibt noch mehr Fragen, die nicht gestellt werden – aus Angst vor den | |
Antworten. Zum Beispiel: Wie wirkt sich die Beratungspflicht auf das | |
Beratungsergebnis aus? Die erwähnte Studie der Bundeszentrale ist die | |
einzige, die sich mit Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland beschäftigt. | |
Darin finden sich Hinweise, dass Frauen, die befürchten, zum Austragen des | |
Kindes überredet zu werden, den Gedanken verdrängen, dass sie es vielleicht | |
doch bekommen möchten. Und wie oft wird unentschlossenen Frauen wortlos der | |
Schein rübergeschoben, weil die Beraterin sie nicht unter Druck setzen | |
will? | |
Die Bundesregierung interessiert sich dafür nicht, will aber „die | |
seelischen Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen“ untersuchen lassen. Das | |
ist zwar pures „Lebensschützer“-Denken, bietet aber eine Chance. Denn wer | |
seriös erforscht, warum Frauen nach einer Abtreibung leiden, wird zu dem | |
Ergebnis kommen, dass dies eng mit dem Grad der Tabuisierung des Themas | |
verknüpft ist. | |
Letztlich muss sich niemand vor einer möglichen Verschärfung des § 218 | |
fürchten: Ein Bundesverfassungsgericht, das der Ehe für | |
gleichgeschlechtliche Paare und dem drittem Geschlecht den Weg ebnete, wird | |
Frauen keine Austragungspflicht mehr auflegen. | |
25 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.sexuelle-selbstbestimmung.de/11238/berliner-call-for-acts-arts-… | |
[2] https://www.zeit.de/2019/01/paragraph-219a-werbeverbot-schwangerschaftsabbr… | |
[3] http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv088203.html | |
[4] https://www.gesetze-im-internet.de/beratungsg/BJNR113980992.html | |
[5] https://www.forschung.sexualaufklaerung.de/fileadmin/fileadmin-forschung/pd… | |
[6] /Abtreibung-in-Deutschland/!5386152 | |
[7] http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19071.pdf#P.8256 | |
[8] https://www.focus.de/familie/100-000-fehlen-experte-sicher-in-deutschland-t… | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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