| # taz.de -- Eine Nacht am Kältebahnhof Lichtenberg: Im Vorbeigehen pöbeln die… | |
| > An zwei Kältebahnhöfen in Berlin werden Obdachlose nicht vertrieben. | |
| > Unbehelligt bleiben sie dort trotzdem nicht. | |
| Bild: Kältebahnhof Lichtenberg: Wenn die Temperaturen fallen, ist es auch hier… | |
| Durch die hellerleuchtete Unterführung im U-Bahnhof weht ein kalter | |
| Luftzug. Links und rechts, angelehnt an die gelb gefliesten Wänden des | |
| Fußgängertunnels, schlafen bereits dick in Schlafsäcke eingewickelt einige | |
| Obdachlose. Auf dem eine Ebene tiefer gelegenen Gleis fährt gerade eine | |
| U-Bahn ein. Nicht sichtbar, aber dafür deutlich hörbar. Die gesamte | |
| Unterführung vibriert. „Ist zwar nicht besonders wohnlich hier“, sagt Andre | |
| Hoek einladend, „aber fühl dich wie zu Hause“. | |
| 22 Uhr, für den 49-Jährigen und drei weitere Sozialarbeiter der Karuna | |
| Sozialgenossenschaft e. V. beginnt die Nachtschicht im U-Bahnhof | |
| Lichtenberg. Die Station ist zusammen mit dem Moritzplatz einer der beiden | |
| Kältebahnhöfe, welche die BVG diesen Winter durchgängig öffnet, damit | |
| Odachlose hier übernachten können. | |
| Kollegen von der Stadtmission, die einmal die Woche kommen, sind bereits da | |
| und verteilen warme Suppe und Getränke. Um die Essensausgabe bildet sich | |
| eine Menschentraube. Während die Obdachlosen auf das Essen warten, nutzen | |
| die Sozialarbeiter die Zeit für Gespräche. Ein Wohnungsloser berichtet | |
| freudig in gebrochenem Deutsch, er hätte einen Job auf dem Bau gefunden. | |
| „Ein ganz seltener Moment“, sagt Hoek. | |
| Die meisten, die hier übernachten, haben weniger Glück. Zu Arbeits- und | |
| Wohnungslosigkeit kommen nicht selten psychische Probleme und | |
| Suchterkrankungen. Trotzdem wirkt die Stimmung an diesem Abend entspannt, | |
| fast schon kollegial. Selbst die Sicherheitskräfte unterbrechen ihre Runde | |
| für eine kurze Unterhaltung. Auch wenn sie nebenbei das ein oder andere Mal | |
| das Rauchverbot durchsetzten müssen, nimmt es ihnen niemand übel. Viele der | |
| Obdachlosen kommen schon länger, auch Andre Hoek arbeitet hier seit der | |
| Eröffnung des Kältebahnhofs Mitte November. Heute, bei Temperaturen um den | |
| Nullpunkt und Schneefall, sind es 35 Menschen, die in dem Fußgängertunnel | |
| Zuflucht suchen. | |
| ## „Sie behandeln uns nicht wie Müll“ | |
| Eine von ihnen stellt sich als Kampfzwerg vor. Der Name scheint nicht | |
| zufällig gewählt, die kleine 23-Jährige macht einen äußerst toughen | |
| Eindruck. Seit zwei Jahren lebt sie auf der Straße. Zusammen mit ihren | |
| Freunden Filmriss, Koko, Dragon und ihrer Ratte Spike übernachten sie schon | |
| einige Wochen auf dem Bahnhof. Sie passen aufeinander auf; schlagen sich | |
| auf der Straße gemeinsam durch. Am Rand der Unterführung haben die jungen | |
| Punks ihr Lager aufgeschlagen. Sie sitzen im Kreis und essen Suppe. | |
| Rundherum liegen ihre wenigen Habseligkeiten: Isomatten, Schlafsäcke, ein | |
| paar Tragetaschen und der Käfig für Spike. | |
| „Manchmal ist es schon ein bisschen anstrengend“, sagt Kampfzwerg. Sie muss | |
| laut anreden über die grölenden Stimmen der ein paar Meter weiter | |
| entfernten Gruppe, die heute etwas mehr getrunken hat. Das gehe oft bis | |
| tief in die Nacht. Häufig werden sie auch mitten in der Nacht von Passanten | |
| angepöbelt oder bespuckt. Aber sonst sei der Bahnhof ein vergleichsweise | |
| guter Ort. Sie sind hier nie alleine und müsse keine Angst haben, dass ihre | |
| Sachen geklaut werden. Dankbar ist Kampfzwerg auch den Streetworkern und | |
| den Sicherheitskräften. „Sie kümmern sich um die Menschen und behandeln uns | |
| nicht wie Müll.“ | |
| Im Kältebahnhof ist die Gruppe nicht nur vor Diebstahl und der zunehmenden | |
| Gewalt durch Passanten geschützt, sondern auch vor Räumungen durch Polizei | |
| und Ordnungsamt. „Wir werden überall verjagt“, sagt Kampfzwerg. Eine | |
| Aussage, der die meisten Obdachlosen hier zustimmen können. Es werde immer | |
| schwieriger, geeignete Übernachtungsplätze zu finden, und selbst wenn, sei | |
| man ständig von Verdrängung bedroht. Erst vergangen Samstag machte die | |
| brutale Räumung eines Obdachlosen-Camps in Mitte Schlagzeilen, bei der | |
| einer Frau ein Sack über den Kopf gezogen wurde, und die BSR ihr Hab und | |
| Gut entsorgte. Auch wenn diese Räumung besonders brutal war, ist sie kein | |
| Einzelfall. | |
| Für viele Menschen sind Kältebahnhöfe die letzte verbleibende Option, wenn | |
| sie nicht im Freien übernachten wollen. Doch sie sind alles andere als | |
| geeignete Unterkünfte. Wenn die Temperaturen weiter fallen, wird es auch in | |
| der zugigen Unterführung zu kalt, außerdem gebe es keinerlei Möglichkeiten | |
| sich zu waschen. Immer wieder treten Konflikte unter alkoholisierten | |
| Obdachlosen auf. | |
| Gerade am Moritzplatz ist offener Drogenkonsum ein Problem, weshalb | |
| Kampfzwerg und ihre Freunde den „Junkie-Bahnhof“ bewusst meiden. Erst vor | |
| wenigen Wochen wurde dort ein Mann tot aufgefunden, gestorben vermutlich an | |
| einer Überdosis. Fahrgäste klagten dort immer wieder über Müll und Urin. Es | |
| ist „nicht die friedlichste Situation“, sagte eine Sprecherin der BVG über | |
| die Situation am Moritzplatz der taz. | |
| Ein Uhr nachts, Andre Hoek macht eine kleine Pause und raucht vor dem | |
| Bahnhof eine Zigarette. Wenn Hoek über Obdachlosigkeit redet, dann nicht | |
| nur aus der Sicht eines Sozialarbeiters. Er war selbst viele Jahre lang | |
| obdachlos, stand mehrere Male kurz vor dem Kältetod. Nur mit Unterstützung | |
| schaffte er den Weg zurück; jetzt hilft der ehemalige Webdesigner selbst | |
| als Streetworker. | |
| Plötzlich dringt Lärm aus der Unterführung. „Es gibt Stress.“ Hoek drüc… | |
| schnell seine Zigarette aus und eilt zurück in den Tunnel. Angekommen, ist | |
| die Situation schnell klar: Ein Passant hat die schlafenden Obdachlosen | |
| angepöbelt. Der stark angetrunkene Mann weigert sich zunächst zu gehen, | |
| wird dann aber von den Sicherheitskräften, die bereits vor Ort sind, | |
| unsanft nach draußen eskortiert. „Das passiert hier andauernd“, sagt Hoek. | |
| Aggressive Passanten sind mit Abstand das größte Problem im Kältebahnhof, | |
| das können Sozialarbeiter, Sicherheitsdienst und Obdachlose einhellig | |
| bestätigen. Nur sehr selten gehe die Aggression von den Obdachlosen aus. | |
| „Obdachlose sind oft nur normale Menschen“, sagt Hoek „die irgendwann mal | |
| in ihrem Leben ganz viel Pech hatten“. Viele Passanten scheinen das zu | |
| vergessen. | |
| Der 60-Jährige Uwe ist noch wach: „So richtig schlafen kannste hier sowieso | |
| nicht“. Er sitzt auf einem Stapel Isomatten, unterhält sich bei einem Bier | |
| mit seinem Kumpel Frank über vergangene Zeiten, als er noch einen Job und | |
| eine Wohnung hatte. Uwe hat lange, graue Haare und einen gepflegten | |
| Vollbart. Er ist erst seit wenigen Monaten obdachlos. Im Juli wurde er | |
| zwangsgeräumt. Seine Freundin, in dessen Wohnung er lebte, sei nach einem | |
| Schlaganfall gestorben. Da er weder Mietvertrag noch Anmeldung hatte, | |
| musste er raus. Für einige Monate lebte er bei einem Freund, mit dem er | |
| sich schließlich zerstritt. Seitdem lebt Uwe auf der Straße. Beim Amt | |
| versuchte er, an Hartz IV und eine Wohnung zu gelangen – ohne Erfolg: sein | |
| Ausweis sei abgelaufen. „Versuch mal, an das Geld für ein neuen Ausweis zu | |
| kommen, wenn du gar nichts hast“, Uwe streckt eine Hand voller Centmünzen | |
| aus. „Das is’ alles“, sagt er verbittert. | |
| Sobald Menschen in Obdachlosigkeit geraten sind, ist es für sie besonders | |
| schwierig, ihre rechtlichen Ansprüche geltend zu machen. Besonders die | |
| Wohnungssuche ist problematisch. Auf dem überhitzten Markt haben die | |
| wenigsten Obdachlosen eine Chance, schon gar nicht, wenn sie Mietschulden | |
| oder Schufa-Einträge mitbringen. Selbst wenn alles gut läuft, kann es schon | |
| mal ein halbes Jahr dauern, bis erfolgreich eine Wohnung vermittelt wird. | |
| Auch Uwe wird wohl noch einige Zeit auf dem Kältebahnhof übernachten | |
| müssen. | |
| Mittlerweile ist es zwei Uhr nachts. Für Hoek und seine Kollegen ist noch | |
| lange nicht Feierabend. Bis ihre Schicht sechs Uhr morgens endet, gibt es | |
| noch einiges zu tun. Langweilig wird es hier nie. Für Uwe hingegen ist es | |
| Zeit, schlafen zu gehen. „Ich hoffe, die Welt wird ma’ besser“, sagt er | |
| noch zum Abschied, „beschissener kann’s ja nicht mehr werden“. | |
| 25 Jan 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Jonas Wahmkow | |
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