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# taz.de -- Die Bibliothek für Berlin (Teil 1): Ein Ort zum Streiten
> Ab 2025 soll bei der Amerika-Gedenkbibliothek mit einem Neubau Platz
> geschaffen werden, bis Ende Januar darf man Wünsche äußern, wie der zu
> füllen ist.
Bild: Da trifft sich schon die Stadt: die Amerika-Gedenkbibliothek im Kreuzberg
Montagmorgen, minus sechs Grad, keine Sonne. Eine halbe Stunde vor Öffnung
der Amerika-Gedenkbibliothek am Kreuzberger Blücherplatz wartet schon eine
Traube von Menschen, um nachher einen der begehrten Arbeitsplätze zu
ergattern. Ein Mann hat offensichtlich auf der Parkbank geschlafen und
wechselt trotz Kälte den Pullover.
Eine Stunde später ist jeder Arbeitsplatz in der Bibliothek belegt. Keiner
der Rückgabe-Counter ist noch frei, Menschen blockieren in langen Schlangen
die Information, recherchieren Büchertitel an den Bildschirmen, zwei junge
Männer haben dicke grüne Wörterbücher vor sich aufgeschlagen und
unterhalten sich auf Arabisch, drei junge Frauen stecken im Cafébereich
ihre Köpfe über einem medizinischen Fachbuch zusammen und diskutieren auf
Türkisch. Der Mann, der sich eben noch draußen umgezogen hat, sitzt in
einem der Sessel hinterm Café und liest Zeitung.
Die Amerika-Gedenkbibliothek, kurz AGB, ist die liebste Bibliothek der
Berliner. 4.000 Nutzer besuchen sie täglich, entleihen Medien, arbeiten
hier oder nehmen eines der unzähligen kostenlosen Angebote wahr, die die
Bibliothek den Berlinern macht. Mit 3,4 Millionen Medien ist die Zentral-
und Landesbibliothek (ZLB), zu der die AGB und die Berliner Stadtbibliothek
in Mitte 1995 zusammengeführt wurden, die größte öffentliche Bibliothek
Deutschlands, mit 1,5 Millionen Besuchern jährlich die am besten besuchte
Kultur- und Bildungseinrichtung Berlins.
Das überfordert die beiden Standorte schon lang. Die AGB wurde 1954 gebaut,
die Berliner Stadtbibliothek 1966. Schon in den in den 1980er Jahren gab es
Pläne, die AGB zu erweitern. Sie wurden von der Wende überholt. Die Pläne,
in den Palast der Republik zu ziehen, wurden mit dessen Abriss obsolet.
Dann 2014 das Aus für eine neue ZLB auf dem Tempelhofer Feld durch den
Volksentscheid. Und schließlich, im Sommer 2018: die Entscheidung des
Senats für einen Neubau um die AGB herum, direkt an der Kreuzung von U1 und
U6, eingeklemmt zwischen dem extrem gentrifizierten Bergmannkiez und dem
extrem abgehängten Mehringplatz.
Seit dem Herbst und noch bis zum 31. Januar befragt die Bibliothek ihre
Nutzer, was sie sich im Neubau wünschen, dessen Bau frühestens 2025
beginnt. „Was für eine Bibliothek brauchen Sie, um die Welt zu verändern?�…
fragt sie.
## Am Abend noch voller
„Ich weiß ja nicht, ob ich die Welt verändern muss, aber ein bisschen in
die Jahre gekommen ist die AGB schon“, sagt an einem Dienstagnachmittag
Kerstin Schilling, die 1956 geboren und in Borsigwalde aufgewachsen ist,
heute in Schöneberg lebt und die AGB regelmäßig nutzt, seit sie 14 ist.
„Ich brauchte Noten für Querflöte, und die waren damals sehr teuer“, sagt
sie und führt dann schnellen Schritts in die Artothek, die es ihr heute
mehr angetan hat als die Noten, weil man dort Kunst leihen kann, echte
Kunst, sogar von A. R. Penck und Hannah Höch. „Irgendwann bin ich in eine
Wohnung gezogen, die eine Galerieleiste hatte, und damit musste ich ja
irgendetwas anfangen“, lächelt Schilling verschmitzt.
Weiter hinten schaut sich Nico Stelljes die umfangreiche Hörbuchsammlung
der AGB an, die er regelmäßig nutzt. Auch er, der 1978 geboren ist und in
Wedding wohnt, nutzt Bibliotheken, seit er Teenager ist, seit seinem Umzug
nach Berlin 2011 die AGB. Er und Kerstin Schilling sind lediglich
Ausleiher, sie nutzen keine anderen Funktionen der Bibliothek. Sie finden
es aber trotzdem toll, was um sie herum jedes Mal los ist, wenn sie kommen.
Es ist Abend geworden in der AGB, dementsprechend voller ist es nochmal
geworden. Niemand wird hier dennoch ermahnt, weil er sich unterhält,
niemand muss am Eingang Jacke und Tasche abgeben. Der Mann, der sich am
Vortag draußen umgezogen hat, sitzt heute an einem der Arbeitstische.
Aus dem überfüllten Lernzentrum kommen Schüler um die 16, die am Workshop
„Zeig’s ihnen“ teilgenommen haben. Einer erzählt, dass er gerade gute Ti…
für seine Präsentation übers Jüdische Museum für den Mittleren
Schulabschluss bekommen hat.
An einer Infothek erkundigt sich eine alte Frau, welches Gerät sie kaufen
soll, um eBooks lesen zu können. An der anderen stehen Abiturientinnen, die
gerade das Angebot Literaturrecherche wahrnehmen, sie suchen Bücher für die
„Geschi-Klausur“.
Unten, in der Hausaufgabenhilfe, versucht eine Studentin der
Sprachwissenschaft, fünf Grundschulkinder abwechselnd dabei zu
unterstützen, runde Nullen zu malen, Dreiecke zu zeichnen, mit Tausendern
zu rechnen, englische Sätze zu bilden und in den einschlägigen
Kindersuchmaschinen im Netz eine Erklärung dafür zu finden, warum es in
Südafrika im Juli kälter ist als im Dezember. Die Kinder sind mit ihren
Müttern hier, sie sprechen Türkisch mit ihnen.
## Viele junge Nutzer
Dem aktuellsten Monitoringbericht der ZLB zufolge sind 46 Prozent der
Nutzer zwischen 18 und 29 Jahre alt, 38 Prozent von ihnen haben
Migrationshintergrund. Viele jener, die oft in der AGB sind, wohnen am
Mehringplatz gegenüber und sagen, ihre Wohnungen seien zu klein, um dort in
Ruhe Hausaufgaben machen zu können. Am Mehringplatz gibt es mehr
Kinderarmut als überall sonst in Berlin. 70 Prozent der unter 15-Jährigen
sind Empfänger von Transferleistungen. Für diese Kids ist es gar keine
Frage, dass sie die ZLB auch nutzen würden, wenn sie größer und schöner
wäre. Für sie wäre der Neubau kein feindliches UFO, das die Gegend teurer
macht, sondern ein Ort, der sie weiterbringt.
Stadtbüchereien waren schon immer lebendiger als andere Bibliotheken, aber
die AGB hat sich in den letzten Jahren noch viel weiter geöffnet. Sie ist
längst kein Ort mehr, wo man sich nur analoge oder digitale Medien leihen
kann, sondern hat sich zum Begegnungs-, Wissen- und Produktionszentrum für
alle entwickelt. All-inclusive für zehn Euro im Jahr: WLAN, Workshops,
Vorträge, Ausstellungen, Lesungen, Konzerte. Und natürlich der Sonntag.
Seit September 2017 hat die AGB auch sonntags auf, allerdings ohne
Beratung, ohne Bibliothekare, ein Lieblingsprojekt von Vorstand Volker
Heller (siehe Interview unten).
An diesem Sonntag, der noch immer klirrend kalt ist, gibt es Lachyoga,
Tischtennis und Büchertausch. Ein DJ zeigt einem Vierjährigen, wie man
Platten auflegt. Es sind noch mehr Leute da. Einmal, heißt es, durften in
die Bibliothek am Sonntag wegen Überfüllung nur noch so viele rein, wie
rauskamen.
## Renaissance der Bibliothek
Es gab eine Zeit, in der man dachte, die Tage der Bibliotheken seien
gezählt, so wie die der Bücher. Wer braucht noch Bibliotheken, wenn er
überall und jederzeit bequem und schnell auf alle Informationen zugreifen
kann, so das Argument. In den letzten Jahren aber reden Fachleute von einer
Renaissance der Bibliotheken. Weltweit werden neue gebaut und dann
überrannt – analoge und digitale Bücher spielen da gar nicht mehr die
zentrale Rolle.
Im dänischen Aarhus hat vor zwei Jahren eine Bibliothek eröffnet, in der
jedes Buch entsorgt wird, das zwei Jahre lang nicht mehr entliehen wurde.
Man sieht überhaupt fast keine Bücher mehr in diesem Haus. Aber auch um
digitale Mediennutzung geht es nicht nur. Man kann dort Computer- und
Nähkurse machen. Und in Helsinki hat vergangenes Jahr eine Bibliothek
aufgemacht, in der es auch kostenlose Proberäume für Musiker gibt.
Gerade lief der Dokumentarfilm „Ex Libris“ über die Public Library in New
York in den Kinos, der die riesige Bibliothek als sozialen Organismus
beschreibt, in der es vorrangig um Selbstermächtigung und Teilhabe geht.
Drei Millionen New Yorker haben keinen privaten Internetanschluss. Auch in
Berlin sollen es mehrere hunderttausend sein.
All das wissen auch die Bibliothekare in der AGB. Klar: Es wird auch welche
geben, die die alte Bibliothek, den alten Beruf vermissen, der vielleicht
introvertierter gewesen sein mag.
Aber Stephan Braum, geboren 1956, nennt sich schon gar nicht mehr unbedingt
Bibliothekar, sondern lieber Rechercheur und Vermittler. Maria Graf,
Jahrgang 1988, berichtet von ihrem schönsten Erlebnis, als ein Stammgast
immer wieder zu ihr kam. Es war ein Medizinstudent aus Syrien, er übte für
die Deutschprüfung zur Fortsetzung seiner Ausbildung und wollte immer
wieder wissen, ob die Sätze, die er geschrieben hatte, korrekt waren. Und
Anne Dreger, Jahrgang 1977, die den Lesesaal der Berliner Stadtbibliothek
schon als kleines Mädchen kannte, weil ihr Vater wissenschaftlicher
Bibliothekar dort war und sich nicht beeindrucken ließ von der „absoluten
Stille“, die dort herrschte, sagt heute: „Die Bibliothek soll niemanden
ausschließen. Sie ist für alle da.“
## Wo sich die Stadt trifft
Wo soll die Reise hingehen, wenn in sieben Jahren der Bau der neuen ZLB
beginnt? Sind Bibliotheken, in denen man nähen lernen kann, in denen es
nicht mehr ums Ausborgen geht, überhaupt noch Bibliotheken? Anders als in
anderen Ländern ist die Zahl der Entleihungen in den öffentlichen
Bibliotheken Berlins nur wenig zurückgegangen.
Die Vorschläge, die die Fans der AGB derzeit noch unterbreiten, sie sind
erstaunlich. Die wenigsten wünschen sich mehr Bücher, die wenigsten, dass
alles anders wird. Viele wollen einfach nur mehr Raum. Bewegliche
Konferenzräume, Co-Working-Spaces, Einzel- und Computerarbeitsplätze,
Veranstaltungsorte, Restaurants. Raum, der die Stadt nicht aufwertet,
sondern Raum, wo sich die Stadt trifft, wo sie ins Gespräch kommt.
Einer dieser Fans, der das genauso sieht, ist Juli Voss, die in der Gegend
eine Klasse in einer typischen Grundschule betreut, „perfekte Berliner
Mischung mit unterschiedlichsten Backgrounds“, wie sie sagt.
Juli Voss nutzt die Bibliothek wie ein zweites Wohnzimmer, privat wie
beruflich, mit ihrer Tochter wie mit ihrer Klasse. Sie bezweifelt, dass
eine Bibliothek noch eine Bibliothek ist, wenn sie kaum mehr Bücher hat,
weist zu Recht darauf hin, dass die moderne Pädagogik haptische Pädagogik
ist, dass „begreifen“ von „greifen“ kommt, und schildert anschaulich die
Mischung aus Aufregung und Ehrfurcht, die ihre Schulkinder beim ersten
Besuch der Bibliothek zum Ausdruck brachten. Inzwischen sind sie auf die
Bibliothek geeicht, viele von ihnen kommen schon allein, einige hat sie
auch schon mit den Eltern am Sonntag getroffen.
Für Juli Voss kann hier erst einmal alles genau in der Richtung
weiterlaufen, wie es bereits läuft. Nur langsam sollte es laufen, findet
sie. Schritt für Schritt, im engen Austausch mit ihren Nutzern.
Nur die Sache mit den kurzen Öffnungszeiten und dem Platzmangel, darüber
muss sie nicht diskutieren.
27 Jan 2019
## AUTOREN
Susanne Messmer
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Klaus Lederer
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