# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Der Staat bin ich | |
> In der Türkei konzentriert sich die Macht in den Händen einer einzigen | |
> Person. Wie Präsident Erdoğan mit seiner Beratungsresistenz sein Land | |
> ruiniert. | |
Bild: Inzwischen hat Erdoğan seine Herrschaft weiter ausgebaut als jeder zivil… | |
Eine der meist gebrauchten Floskeln des türkischen Staatspräsidenten Recep | |
Tayyip Erdoğan ist die Zurechtweisung: „Benimm dich!“ Sie trifft zumeist | |
türkische Oppositionspolitiker, zuweilen aber auch ausländische Kritiker | |
wie den früheren deutschen Außenminister Sigmar Gabriel [1][oder den | |
Grünen-Politiker Cem Özdemir.] Und sogar die Ratingagentur Standard & Poors | |
versuchte Erdoğan mit diesem Spruch in die Schranken zu weisen. | |
Als allerdings am 21. Dezember 2018 der 77-jährige Theaterschauspieler | |
Müjdat Gezen im Fernsehen dieselben Worte an die Adresse Erdoğans richtete, | |
fühlte der sich beleidigt. Schon am nächsten Tag verkündete der Präsident, | |
man werde Gezen für seine Frechheit bestrafen. Einen Tag später nahm die | |
Polizei den Schauspieler fest und führte ihn dem Richter vor. | |
Manchmal gibt Erdoğan der Justiz sogar die einzelnen Schritte vor. So | |
geschehen im Fall Özgür Özel. Der Vizefraktionschef der Republikanischen | |
Volkspartei (CHP), die im Parlament die stärkste Opposition bildet, hatte | |
am 16. Dezember Verteidigungsminister Hulusi Akar kritische Fragen zu | |
dessen Rolle als Generalstabschef zur Zeit des Putschversuchs vom Juli 2016 | |
gestellt. „Wir werden ihm die nötige Lehren über die Justiz erteilen“, | |
erklärte Erdoğan im Pluralis Majestatis, noch ehe der Staatsanwalt eine | |
Anklageschrift hätte schreiben können. Und er verkündete auch gleich das | |
Urteil: „Erst (zahlt er) Entschädigung, dann (bekommt er seine) Strafe.“ | |
Doch nicht nur Polizei und Justiz stehen bereit, auf einen Wink des | |
Präsidenten loszuschlagen. Nur vier Tage nachdem Müjdat Gezen im Fernsehen | |
Erdoğans Lieblingsfloskel benutzt hatte, erließ der „unabhängige“ | |
Rundfunkkontrollrat (RTÜK) für das Programm, in dem Gezen aufgetreten war, | |
ein befristetes Sendeverbot, was der erste Schritt zur vollständigen | |
Schließung des Fernsehkanals sein könnte. Und falls Justiz und Polizei – | |
oder gar der Präsident selbst – einmal einen Kritiker überhören, springt | |
die regierungsnahe Presse ein – die inzwischen 90 Prozent der Medienmacht | |
repräsentiert – und schreit Zeter und Mordio, bis die Behörden aktiv | |
werden. | |
Mit diesen Beispielen ist die Machtfülle Erdoğans noch keineswegs | |
erschöpfend beschrieben. Sechs Monate nach dem 24. Juni 2018, dem Datum des | |
offiziellen Übergangs zum Präsidialsystem, [2][ist der Präsident nicht nur | |
unumschränkter Herrscher über die Exekutive und bestimmt nicht nur | |
weitgehend das Handeln der Justiz.] | |
Er setzt seinen Willen auch im Parlament und in den Kommunalverwaltungen | |
durch und bedient sich dafür seiner „Partei für Gerechtigkeit und | |
Entwicklung“ (AKP). Die AKP ist zwar immer noch unangefochten die größte | |
politische Partei, doch faktisch ist sie zu Erdoğans Wahlkampfmaschinerie | |
degradiert, die der Präsident nach Belieben anwerfen und wieder abstellen | |
kann. | |
## Rechtsextremer Bündnispartner | |
Seit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 24. Juni 2018 verfügt | |
die AKP nur noch im Verein mit der rechtsextremen Partei der | |
Nationalistischen Bewegung (MHP) über die absolute Mehrheit in der Großen | |
Nationalversammlung. Dort blockieren AKP und MHP gemeinsam immer wieder die | |
Einsetzung von Untersuchungskommissionen. So haben sie im Juli und im | |
Oktober 2018 erfolgreich verhindert, dass die Verbindungen von | |
AKP-Politikern und AKP-nahen Unternehmern zur Gülen-Bewegung aufgedeckt | |
werden, die Erdoğan für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich | |
macht. | |
AKP und MHP haben bereits vor der letzten Wahl kooperiert, insbesondere | |
wenn es um die Aufhebung der Immunität kurdischer Abgeordneter ging. Am 20. | |
Dezember 2018 beantragte die Staatsanwaltschaft, die Immunität von 68 | |
Abgeordneten der oppositionellen CHP aufzuheben. Das ist fast die halbe | |
Fraktion, der jetzt Haftstrafen zwischen einem und vier Jahren drohen, | |
gefolgt von einem Verbot politischer Betätigung. Und was wird den | |
Parlamentariern vorgeworfen? Das Re-Tweeten einer Erdoğan-Karikatur, wegen | |
der im letzten Sommer vier Studenten vier Wochen lang im Gefängnis saßen. | |
In der heutigen Türkei können oppositionelle Parlamentarier sich nicht mehr | |
darauf verlassen, dass sie ihre von der Verfassung garantierten Rechte | |
ausüben können. Mittlerweile können selbst Äußerungen im Parlament | |
strafrechtliche Ermittlungen nach sich ziehen. Das musste im letzten | |
November der Abgeordnete Cihangir Islam von der religiös-konservativen | |
Glückseligkeitspartei (SP) erfahren, nachdem er die AKP beschuldigt hatte, | |
jahrelang Stellen in Justiz, Polizei und Geheimdienst mit Anhängern des | |
Predigers Fethullah Gülen besetzt zu haben. | |
Auf der lokalpolitischen Ebene sieht es ganz ähnlich aus. Drei Monate vor | |
den Kommunalwahlen, die für den 31. März 2019 geplant sind, lebt rund die | |
Hälfte der Bevölkerung in Städten und Landkreisen, deren Bürgermeister und | |
Landräte nicht gewählt wurden. In den mehrheitlich kurdisch besiedelten | |
Gebieten hat die Regierung den nach dem Putschversuch verhängten | |
Ausnahmezustand dazu benutzt, 90 Bürgermeister durch „Treuhänder“ des | |
Innenministeriums zu ersetzen. Und im September 2018 drängte Erdoğan die | |
AKP-Bürgermeister der Metropolen Ankara und Istanbul wie auch mehrerer | |
anderer Städte zum Rücktritt und setzte Nachfolger ein, die der AKP bei den | |
Kommunalwahlen bessere Resultate bringen sollen. | |
Im Oktober 2018 setzte das Innenministerium 259 gewählte Ortsvorsteher von | |
Dörfern und Stadtteilen (Muhtare) ab, und zwar wiederum vor allem in den | |
kurdischen Gebieten. Für keine dieser Amtsenthebungen musste sich die | |
Regierung um Gerichtsurteile bemühen. Es reichte die Behauptung, die | |
gewählten Repräsentanten seien eine Gefahr für die nationale Sicherheit. | |
Die Frage liegt auf der Hand, weshalb Erdoğan überhaupt noch Kommunalwahlen | |
abhalten lässt. Der Präsident hat bereits im September 2018 angekündigt, | |
auch neu gewählte Bürgermeister würden durch Treuhänder ersetzt, wenn sie | |
Terrororganisationen nahestehen. Dieser Vorwurf kann heute fast jeden | |
treffen. [3][Zumal die AKP und ihr rechtsextremer Bündnispartner den | |
Wahlkampf nicht mit lokalen Themen und Problemen bestreiten.] Vielmehr | |
deklarieren sie den Kampf um die Rathäuser – wie schon die letzten Wahlen | |
auf nationaler Ebene – als Überlebenskampf der türkisch-muslimischen Nation | |
gegen ihre Feinde. | |
## Die große Ernüchterung | |
Mit diesem Topos hat Erdoğan auch schon die Einführung des Präsidialsystems | |
propagiert: Ein frommes Volk steht auf gegen eine entfremdete Elite, von | |
der es jahrzehntelang beherrscht wurde, und zwar mit Hilfe des Militärs, | |
einer permanenten, säkularen Gehirnwäsche und einer Verfassung, die nur den | |
Interessen dieser Elite diente. Laut Erdoğan wurden alle bisherigen | |
Verfassungen vom Westen in die Türkei „exportiert“, sind also „nicht auf | |
diesem Boden gewachsen“. Weshalb sie auch nicht „die Werte der Nation“ | |
repräsentieren. Aus demselben Grund können die bestehenden Gesetze auch | |
keine absolute Gültigkeit beanspruchen. | |
Was die Gewaltenteilung betrifft, so dient sie nach Erdoğans Lesart nur | |
dazu, die Rechte und den Handlungsspielraum der vom Volk gewählten | |
Regierung zu beschneiden. Dagegen kann es echte Demokratie nur geben, wenn | |
ein vom Volk direkt gewählter Präsident die Werte der Nation verkörpert, | |
wenn seine Herrschaft den Willen des Volkes vollkommen repräsentiert und er | |
genau deswegen seine Macht mit niemandem teilen muss. Erst unter einer | |
solchen Regierungsform findet die Türkei zu ihrer natürlichen Stärke und | |
kann erneut zur Führungsmacht der (sunnitischen) Muslime aufsteigen. | |
Das erklärt, so Erdoğan, warum das missgünstige Ausland – primär der West… | |
– ihn unbedingt zu Fall bringen will. Und zwar mithilfe einer „fünften | |
Kolonne“, zu der er alle oppositionellen Kräfte zählt: So werden die | |
oppositionellen Parlamentarier als vaterlandslose Gesellen und | |
Helfershelfer von Terrororganisationen diffamiert, die sich der wahren, | |
durch AKP und MHP verkörperten Nation entgegenstellen. | |
Inzwischen hat der Staatspräsident seine Herrschaft weiter ausgebaut als | |
jeder zivile türkische Politiker vor ihm. Doch zu welchem Zweck? Hat | |
Erdoğan bislang auch nur eines seiner erklärten politischen Ziele erreicht? | |
Heute ist die Frage, welche inhaltlichen oder zukunftsweisenden | |
Vorstellungen er mit seiner Politik verfolgt, vollkommen hinter den Kampf | |
um den Machterhalt zurückgetreten. | |
Eine transformative politische Agenda, wie sie die AKP anfangs verkündet | |
hat, existiert nicht mehr. Vergessen sind Themen wie Demokratisierung oder | |
die EU-Mitgliedschaft, von denen Kritiker des Staatspräsidenten ohnehin | |
annehmen, dass sie immer nur taktisch gemeint waren. Aber auch politische | |
Ziele, die sich nahtlos mit der muslimisch-konservativen Identität der AKP | |
und ihrer neuerdings nationalistischen Orientierung decken, wurden nicht | |
erreicht. | |
Das gilt zumal für die Außenpolitik. Von der Vision, die Türkei als | |
bestimmende Macht im Nahen Osten zu etablieren, ist genauso wenig geblieben | |
wie von der Hoffnung, das Kurdenproblem durch die Einbindung der Kurden in | |
eine stärker muslimisch geprägte türkische Nation zu lösen. Gescheitert ist | |
auch die Strategie, in Ägypten und in Syrien der AKP verwandte | |
Gruppierungen der Muslimbruderschaft an die Regierung zu bringen. Von einer | |
türkischen Politik, die weit nach Osten ausgreift, kann keine Rede mehr | |
sein: Heute beschränkt sich die Nahostpolitik Ankaras wieder – wie zu den | |
Hochzeiten kemalistischer Herrschaft – auf das engstirnige Ziel, eine | |
kurdische Selbstverwaltung in den Nachbarstaaten zu verhindern. | |
## Staatlicher Druck auf Säkulare | |
Ein weiteres erklärtes Ziel wird durch die Wirtschaftskrise zunichte | |
gemacht: Schon heute ist klar, dass die Türkei 2023, zum 100. Jahrestag der | |
Gründung der Republik, nicht zu den zehn führenden Industrienationen zählen | |
wird. Auch das Bemühen, die Bevölkerung in eine einheitliche, fromme | |
muslimische Nation zu überführen, wird erfolglos bleiben – trotz allen | |
staatlichen Drucks auf die säkularen Teile der Gesellschaft. | |
Enttäuscht wurden auch die Erwartungen vieler konservativer AKP-Wähler, | |
Korruption und Nepotismus würden sich von selbst erledigen, wenn einmal | |
fromme Muslime an der Regierung sind. Es ist deshalb kein Wunder, dass sich | |
bei Wählern wie Mitgliedern der Regierungspartei eine große Ernüchterung | |
breitmacht und ihre Dynamik nachgelassen hat. | |
Bei den Präsidentschaftswahlen vom 24. Juni 2018 konnte Erdoğan zwar schon | |
im ersten Wahlgang mit 52,6 Prozent die absolute Stimmenmehrheit erringen. | |
Doch anders als bei seiner ersten Wahl zum Staatspräsidenten im August 2014 | |
war er 2018 auch auf jene Wählerinnen und Wähler angewiesen, die bei der | |
gleichzeitig abgehaltenen Parlamentswahl ihr Kreuz bei der rechtsextremen | |
MHP gemacht hatten – da kam die AKP nämlich nur noch auf 42,6 Prozent der | |
Stimmen. | |
Es ist daran zu erinnern, dass der Gipfel der Wählergunst für die | |
Erdoğan-Partei nunmehr bereits sieben Jahre zurückliegt: Im Juni 2011 | |
hatte sie mit 49,8 Prozent fast jeden zweiten Wähler überzeugen können. Bei | |
den Kommunalwahlen im März 2014 sackte sie auf 43,6 Prozent ab, bei den | |
Parlamentswahlen im Juni 2015 sogar auf 40,9 Prozent. Deshalb sind die 42,6 | |
Prozent der letzten Wahl kein Ausreißer, sondern eine Bestätigung des | |
negativen Trends. | |
Für die anstehenden Kommunalwahlen zeigen Umfragen die AKP landesweit | |
deutlich unter 40 Prozent. Die Opposition hat offenbar Chancen, die | |
Metropolen Ankara und Istanbul zu erobern, wenn die CHP und die erst im | |
Oktober 2017 gegründete nationalkonservative säkular-kemalistische „Gute | |
Partei“ (Iyi Parti, IyiP) gemeinsam antreten. | |
Von der Schwäche der AKP konnte in letzter Zeit fast ausschließlich das | |
rechtsextreme Lager profitieren. Zwar stagnierte die MHP bei den letzten | |
Parlamentswahlen mit 11,9 Prozent, doch die von der Ex-MHPlerin und | |
früheren Innenministerin Meral Akşener angeführte IyiP erreichte auf Anhieb | |
10 Prozent. Die IyiP hat sich von der MHP abgespalten, teilt aber die | |
Ideologie und Politik der extremen Nationalisten und lehnt nur die | |
Alleinherrschaft Erdoğans ab. | |
## Innere Logik des Systems | |
Damit sind heute circa 20 Prozent der türkischen Wähler mehr oder weniger | |
starke Anhänger einer rechtsextremen Partei. Auch dies verweist auf einen | |
Misserfolg der Erdoğan-Politik: Die Radikalisierung und Polarisierung | |
entlang ethnischer und religiöser Identitäten, die der Staatspräsident seit | |
den Gezi-Protesten von 2013 und verstärkt seit dem Abbruch der | |
Friedensverhandlungen mit der PKK im Frühjahr 2015 betreibt, hat seiner | |
eigenen Partei nur kurzfristig genutzt. Langfristig stärkt sie das | |
rechtsradikale Lager. | |
Das Bündnis von AKP und MHP hat seinen Ursprung im gescheiterten | |
Putschversuch vom 15. Juli 2016. In den Jahren davor war MHP-Chef Devlet | |
Bahçeli einer der schärfsten Kritiker Erdoğans und seines Plans, ein | |
Präsidialsystem einzuführen. Aus der Sicht Bahçelis untergrub Erdoğan | |
damals die Fundamente des türkischen Staats. Dass dieser mit der PKK | |
verhandelte, den Kurden kulturelle Rechte gewährte und ihnen größere lokale | |
oder gar regionale Selbstbestimmung zugestehen wollte, lief für Bahçeli auf | |
„Landesverrat“ hinaus, denn damit werde der unitäre und ethnisch-türkische | |
Charakter der Republik unterhöhlt. | |
Ein Dorn im Auge war ihm auch, dass Erdoğan und seine AKP mit der | |
klandestinen Gülen-Bewegung paktierten und deren Kader in Polizei, | |
Geheimdienst und Justiz einschleusten. Indem Gülens Gefolgsleute die | |
Mammutprozesse gegen das türkische Militär vorantrieben, legten sie laut | |
Bahçeli die Axt an einen Grundpfeiler des Staats. | |
Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden die Karten neu gemischt. Die | |
AKP und Erdoğan waren geschwächt, ihr Bündnis mit Gülen war bereits im | |
Dezember 2013 endgültig zerbrochen. Jetzt sah sich die Regierung gezwungen, | |
Gülen-Anhänger aus der Verwaltung zu drängen, was der MHP die Chance bot, | |
eigene Kader unterzubringen. Denn Erdoğan war aufgrund der Schwäche seiner | |
eigenen Partei auf die Rückendeckung der MHP im Parlament, aber auch bei | |
Wahlen angewiesen. | |
Das ist der Hintergrund für Bahçelis Kehrtwende im Oktober 2016. Jetzt | |
wurde der MHP-Chef vom schärfsten Kritiker des Präsidialsystems zu seinem | |
eifrigsten Verfechter. Damit hat sich aber auch die Bedeutung und innere | |
Logik des Präsidialsystems gewandelt: Von Erdoğan war es ursprünglich als | |
Vehikel gedacht, durch die dramatische Anhebung der präsidentiellen | |
Befugnisse die alte kemalistische Elite zu entmachten und den Staat in | |
seinem Sinn zu transformieren. Jetzt machte das Bündnis von AKP und MHP das | |
Präsidialsystem zum Mittel der Restauration des alten Staats, wenn auch in | |
islamisierter und radikalisierter Form. | |
In Erdoğans Kampagne wurde die Notwendigkeit des Systemwandels auch mit der | |
Behauptung begründet, die Wirtschaft der Türkei kranke daran, dass die | |
politischen Entscheidungswege zu lang seien. Deshalb müsse man die Macht in | |
einer Hand konzentrieren, auch um zu verhindern, dass Berufsverbände, | |
Umweltschützer und die Opposition ständig Großprojekte blockieren, die für | |
die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei unverzichtbar seien. | |
## Explosiver Mix | |
Es war deshalb keine Überraschung, dass Erdoğan sofort nach seiner | |
Wiederwahl auch in der Wirtschaftspolitik die Zügel in die Hand nahm. In | |
seiner neuen, im Juli 2018 berufenen Ministerriege fehlte Mehmet Şimşek, | |
der frühere Finanzminister und Vizeministerpräsident, der bei | |
internationalen Anlegern als verlässlich und berechenbar galt. Stattdessen | |
berief Erdoğan seinen Schwiegersohn Berat Albayrak zum Minister für | |
Finanzen, dem auch die Kontrolle über die Staatskasse obliegt. | |
Dass der junge Mann unter Kuratel des Präsidenten steht, machte eine | |
Episode im Oktober 2018 deutlich: Nachdem Albayrak einen Beratervertrag mit | |
McKinsey abgeschlossen hatte, ohne seinen Schwiegervater zu fragen, musste | |
er den Vertrag unverzüglich wieder auflösen. | |
Im September 2018 machte sich der Präsident selbst zum Chef des türkischen | |
Staatsfonds. Der im August 2016 gegründete Fonds verwaltet die Anteile des | |
Staats an elf großen Unternehmen und soll die Finanzierung von | |
Megainfrastrukturprojekten sichern. In seiner neuen Rolle kann Erdoğan | |
jetzt auch Entscheidungen über Privatinvestitionen treffen. Sein | |
Stellvertreter an der Spitze des Fonds heißt Berat Albayrak. | |
Ein entscheidender Schritt zu Erdoğans persönlichem Regiment auch in der | |
Finanz- und Wirtschaftspolitik ist ein Dekret vom 10. Juli 2018, wonach der | |
Präsident den Chef der „unabhängigen“ Zentralbank ernennen kann. Weitere | |
finanzpolitische Befugnisse sieht eine Gesetzesvorlage vor, die im Dezember | |
2018 den Haushaltsausschuss des Parlaments passiert hat. Sie ermächtigt den | |
Präsidenten, auf Antrag einzelner Kommunen aus einem Extrahaushalt die | |
Finanzierung „besonderer Projekte“ zu übernehmen. Damit erhält Erdoğan | |
vier Monate vor den Kommunalwahlen die Befugnis, AKP-regierten Kommunen | |
nach Belieben Gelder zuzuschanzen. | |
Türkische Ökonomen, die nicht der AKP nahestehen, diagnostizieren einen | |
explosiven Mix: Der besteht erstens aus der Unberechenbarkeit | |
wirtschaftspolitischer Entscheidungen; zweitens der Intransparenz der | |
staatlichen Mittelvergabe, die zur Korruption einlädt; drittens der | |
langjährigen Konzentration auf überdimensionierte Infrastrukturprojekte, | |
die viertens auf Kosten der Investitionen in den produktiven Sektoren | |
gehen. Es ist die Kombination dieser vier Faktoren, die den Wirtschaftskurs | |
der AKP so problematisch macht. | |
Die strukturellen Schwächen der türkischen Wirtschaft sind altbekannt. Die | |
wichtigsten Stichworte sind: eine chronisch niedrige Sparquote, die | |
Abhängigkeit der Industrie von importierten Halbfertigprodukten, geringe | |
Produktivität und Wertschöpfung und – als Resultat all dieser Faktoren – | |
die starke Abhängigkeit von internationalen Finanzmärkten. Vor diesem | |
Hintergrund müssen willkürliche politische Entscheidungen und ein Diskurs, | |
der internationale Anleger verschreckt, gravierende Folgen haben. | |
## Die große Bereicherung | |
Das zeigte sich im Verlauf der aktuellen Krise am Schicksal der türkischen | |
Währung. Im April 2018 kostete ein US-Dollar 4 Türkische Lira (TL). Als die | |
Lira unaufhaltsam fiel, reiste Erdoğan nach London. Dort traf er sich am | |
13. Mai im Bloomberg-Büro mit potenziellen Investoren, denen er seine | |
Wirtschaftsphilosophie und seine Pläne für die Zukunft erläuterte. Dabei | |
kündigte er an, dass er nach den Wahlen vom 24. Juni im Rahmen des neuen | |
Präsidialsystems noch stärker als bisher die Politik der türkischen | |
Zentralbank bestimmen werde. Zudem proklamierte er als sein zentrales | |
finanzpolitisches Ziel einen realen Zinssatz von null Komma null Prozent. | |
Zuvor hatte er seinem verblüfften Publikum erklärt, dass die Zinsen die | |
Inflationsrate bestimmen und nicht umgekehrt, wie es die herrschende | |
Finanztheorie lehrt. | |
Die Anleger lernten daraus zwei Dinge: Erstens, dass Erdoğan eine kaum | |
verbrämte islamische Sichtweise auf die Wirtschaft hat, die den Zins | |
verteufelt. Und zweitens die Erkenntnis, dass Erdoğan künftig noch weniger | |
berechenbar agieren würde. Einer seiner Zuhörer kommentierte wenige Tage | |
später: „Ich sehe keine Hoffnung. Es scheint ganz so, als würde er auf | |
niemanden mehr hören.“ | |
Nach diesem 13. Mai verlor die Lira binnen 24 Stunden 4 Prozent ihres | |
Werts. Der Dollarkurs stieg auf 4,5 TL, und dieser Trend setzte sich noch | |
über Wochen fort. Zu einem ähnlichen Kursausschlag kam es am 10. August | |
2018, als sich Erdoğan weigerte, den willkürlich verhafteten US-Prediger | |
Andrew Brunson, der da schon seit fast zwei Jahren im Gefängnis saß, zu | |
entlassen. Als Trump daraufhin die Verdoppelung von Zöllen auf Stahl und | |
Aluminium aus der Türkei anordnete, verlor die Lira an einem Tag 11 Prozent | |
ihres Werts und der Dollarkurs kletterte auf über 7 Lira. | |
Was die beiden Faktoren Intransparenz plus Korruption und Konzentration auf | |
überdimensionierte Infrastrukturprojekte anbetrifft, so besteht zwischen | |
beiden eine enge Beziehung. Die AKP hat sich ihre eigene Klasse von | |
Bauunternehmern herangezogen. Die werden mittels Privatisierungen | |
staatlicher Unternehmen und Zuteilung öffentlicher Aufträge großzügig | |
gefördert, wofür sie sich mit Parteispenden revanchieren. | |
Um diese Vorteilsgewährung großen Stils juristisch abzusichern, wurde seit | |
dem Machtantritt der AKP das Gesetz über öffentliche Ausschreibungen 53-mal | |
geändert. Die ständig neuen Ausnahmeregelungen führten zu einer | |
Intransparenz, die vor allem die Public-private-Partnership (PPP) Projekte | |
kennzeichnet. Auf diese Weise werden den an PPP beteiligten Unternehmen auf | |
Kosten der Steuerzahler weit überhöhte Renditen garantiert. | |
Besonders großzügig sind die Kalkulationen zum Wohle der ausführenden | |
Privatfirmen bei drei Prestigeprojekten der AKP-Regierung ausgefallen. | |
Sowohl die dritte Brücke über den Bosporus (Yavuz-Sultan-Brücke) als auch | |
der Eurasien-Straßentunnel unter dem Bosporus (Avrasya Tüp Tüneli) und die | |
2016 eröffnete Brücke über den östlichen Ausläufer des Marmara-Meers | |
(Osman-Gazi-Brücke) werden wesentlich weniger genutzt als projektiert. | |
Die Zahl der Fahrzeuge, die diese Verkehrswege kostenpflichtig nutzen | |
sollten, wurde bei der Yavuz-Sultan-Brücke um zwei Drittel, beim | |
Eurasien-Tunnel um 50 Prozent und bei der Osman-Gazi-Brücke um rund 60 | |
Prozent zu hoch angesetzt. Die Differenz bezahlt der Staat, der den | |
Unternehmen eine Rendite auf Basis von wahrscheinlich bewusst überzogenen | |
Projektionen zugesagt hatte. 2018 zahlte der türkische Staat den | |
Unternehmen im Rahmen solcher PPPs 7,4 Milliarden US-Dollar. Bis Ende 2021 | |
soll diese Summe auf 44,5 Milliarden US-Dollar ansteigen. | |
Mit Einführung des Präsidialsystems und der weiteren Konzentration der | |
Macht in den Händen einer Person werden sich diese Tendenzen weiter | |
verstärken. Auch deshalb ist nicht zu erwarten, dass die Türkei in den | |
nächsten Jahren politisch zur Ruhe kommen und wirtschaftlich einen neuen | |
Aufschwung erleben wird. | |
10 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Erdoan-attackiert-Gruenen-Chef-erneut/!5311863 | |
[2] /Kommentar-Anti-Terror-Gesetze-Tuerkei/!5520003 | |
[3] https://gazete.taz.de/article/?article=!5515598 | |
## AUTOREN | |
Günter Seufert | |
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