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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Der Staat bin ich​
> In der Türkei konzentriert sich die Macht in den Händen einer einzigen
> Person. Wie Präsident Erdoğan mit seiner Beratungsresistenz sein Land
> ruiniert.
Bild: Inzwischen hat Erdoğan seine Herrschaft weiter ausgebaut als jeder zivil…
Eine der meist gebrauchten Floskeln des türkischen Staatspräsidenten Recep
Tayyip Erdoğan ist die Zurechtweisung: „Benimm dich!“ Sie trifft zumeist
türkische Oppositionspolitiker, zuweilen aber auch ausländische Kritiker
wie den früheren deutschen Außenminister Sigmar Gabriel [1][oder den
Grünen-Politiker Cem Özdemir.] Und sogar die Ratingagentur Standard & Poors
versuchte Erdoğan mit diesem Spruch in die Schranken zu weisen.
Als allerdings am 21. Dezember 2018 der 77-jährige Theaterschauspieler
Müjdat Gezen im Fernsehen dieselben Worte an die Adresse Erdoğans richtete,
fühlte der sich beleidigt. Schon am nächsten Tag verkündete der Präsident,
man werde Gezen für seine Frechheit bestrafen. Einen Tag später nahm die
Polizei den Schauspieler fest und führte ihn dem Richter vor.
Manchmal gibt Erdoğan der Justiz sogar die einzelnen Schritte vor. So
geschehen im Fall Özgür Özel. Der Vizefraktionschef der Republikanischen
Volkspartei (CHP), die im Parlament die stärkste Opposition bildet, hatte
am 16. Dezember Verteidigungsminister Hulusi Akar kritische Fragen zu
dessen Rolle als Generalstabschef zur Zeit des Putschversuchs vom Juli 2016
gestellt. „Wir werden ihm die nötige Lehren über die Justiz erteilen“,
erklärte Erdoğan im Pluralis Majestatis, noch ehe der Staatsanwalt eine
Anklageschrift hätte schreiben können. Und er verkündete auch gleich das
Urteil: „Erst (zahlt er) Entschädigung, dann (bekommt er seine) Strafe.“
Doch nicht nur Polizei und Justiz stehen bereit, auf einen Wink des
Präsidenten loszuschlagen. Nur vier Tage nachdem Müjdat Gezen im Fernsehen
Erdoğans Lieblingsfloskel benutzt hatte, erließ der „unabhängige“
Rundfunkkontrollrat (RTÜK) für das Programm, in dem Gezen aufgetreten war,
ein befristetes Sendeverbot, was der erste Schritt zur vollständigen
Schließung des Fernsehkanals sein könnte. Und falls Justiz und Polizei –
oder gar der Präsident selbst – einmal einen Kritiker überhören, springt
die regierungsnahe Presse ein – die inzwischen 90 Prozent der Medienmacht
repräsentiert – und schreit Zeter und Mordio, bis die Behörden aktiv
werden.
Mit diesen Beispielen ist die Machtfülle Erdoğans noch keineswegs
erschöpfend beschrieben. Sechs Monate nach dem 24. Juni 2018, dem Datum des
offiziellen Übergangs zum Präsidialsystem, [2][ist der Präsident nicht nur
unumschränkter Herrscher über die Exekutive und bestimmt nicht nur
weitgehend das Handeln der Justiz.]
Er setzt seinen Willen auch im Parlament und in den Kommunalverwaltungen
durch und bedient sich dafür seiner „Partei für Gerechtigkeit und
Entwicklung“ (AKP). Die AKP ist zwar immer noch unangefochten die größte
politische Partei, doch faktisch ist sie zu Erdoğans Wahlkampfmaschinerie
degradiert, die der Präsident nach Belieben anwerfen und wieder abstellen
kann.
## Rechtsextremer Bündnispartner
Seit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 24. Juni 2018 verfügt
die AKP nur noch im Verein mit der rechtsextremen Partei der
Nationalistischen Bewegung (MHP) über die absolute Mehrheit in der Großen
Nationalversammlung. Dort blockieren AKP und MHP gemeinsam immer wieder die
Einsetzung von Untersuchungskommissionen. So haben sie im Juli und im
Oktober 2018 erfolgreich verhindert, dass die Verbindungen von
AKP-Politikern und AKP-nahen Unternehmern zur Gülen-Bewegung aufgedeckt
werden, die Erdoğan für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich
macht.
AKP und MHP haben bereits vor der letzten Wahl kooperiert, insbesondere
wenn es um die Aufhebung der Immunität kurdischer Abgeordneter ging. Am 20.
Dezember 2018 beantragte die Staatsanwaltschaft, die Immunität von 68
Abgeordneten der oppositionellen CHP aufzuheben. Das ist fast die halbe
Fraktion, der jetzt Haftstrafen zwischen einem und vier Jahren drohen,
gefolgt von einem Verbot politischer Betätigung. Und was wird den
Parlamentariern vorgeworfen? Das Re-Tweeten einer Erdoğan-Karikatur, wegen
der im letzten Sommer vier Studenten vier Wochen lang im Gefängnis saßen.
In der heutigen Türkei können oppositionelle Parlamentarier sich nicht mehr
darauf verlassen, dass sie ihre von der Verfassung garantierten Rechte
ausüben können. Mittlerweile können selbst Äußerungen im Parlament
strafrechtliche Ermittlungen nach sich ziehen. Das musste im letzten
November der Abgeordnete Cihangir Islam von der religiös-konservativen
Glückseligkeitspartei (SP) erfahren, nachdem er die AKP beschuldigt hatte,
jahrelang Stellen in Justiz, Polizei und Geheimdienst mit Anhängern des
Predigers Fethullah Gülen besetzt zu haben.
Auf der lokalpolitischen Ebene sieht es ganz ähnlich aus. Drei Monate vor
den Kommunalwahlen, die für den 31. März 2019 geplant sind, lebt rund die
Hälfte der Bevölkerung in Städten und Landkreisen, deren Bürgermeister und
Landräte nicht gewählt wurden. In den mehrheitlich kurdisch besiedelten
Gebieten hat die Regierung den nach dem Putschversuch verhängten
Ausnahmezustand dazu benutzt, 90 Bürgermeister durch „Treuhänder“ des
Innenministeriums zu ersetzen. Und im September 2018 drängte Erdoğan die
AKP-Bürgermeister der Metropolen Ankara und Istanbul wie auch mehrerer
anderer Städte zum Rücktritt und setzte Nachfolger ein, die der AKP bei den
Kommunalwahlen bessere Resultate bringen sollen.
Im Oktober 2018 setzte das Innenministerium 259 gewählte Ortsvorsteher von
Dörfern und Stadtteilen (Muhtare) ab, und zwar wiederum vor allem in den
kurdischen Gebieten. Für keine dieser Amtsenthebungen musste sich die
Regierung um Gerichtsurteile bemühen. Es reichte die Behauptung, die
gewählten Repräsentanten seien eine Gefahr für die nationale Sicherheit.
Die Frage liegt auf der Hand, weshalb Erdoğan überhaupt noch Kommunalwahlen
abhalten lässt. Der Präsident hat bereits im September 2018 angekündigt,
auch neu gewählte Bürgermeister würden durch Treuhänder ersetzt, wenn sie
Terrororganisationen nahestehen. Dieser Vorwurf kann heute fast jeden
treffen. [3][Zumal die AKP und ihr rechtsextremer Bündnispartner den
Wahlkampf nicht mit lokalen Themen und Problemen bestreiten.] Vielmehr
deklarieren sie den Kampf um die Rathäuser – wie schon die letzten Wahlen
auf nationaler Ebene – als Überlebenskampf der türkisch-muslimischen Nation
gegen ihre Feinde.
## Die große Ernüchterung
Mit diesem Topos hat Erdoğan auch schon die Einführung des Präsidialsystems
propagiert: Ein frommes Volk steht auf gegen eine entfremdete Elite, von
der es jahrzehntelang beherrscht wurde, und zwar mit Hilfe des Militärs,
einer permanenten, säkularen Gehirnwäsche und einer Verfassung, die nur den
Interessen dieser Elite diente. Laut Erdoğan wurden alle bisherigen
Verfassungen vom Westen in die Türkei „exportiert“, sind also „nicht auf
diesem Boden gewachsen“. Weshalb sie auch nicht „die Werte der Nation“
repräsentieren. Aus demselben Grund können die bestehenden Gesetze auch
keine absolute Gültigkeit beanspruchen.
Was die Gewaltenteilung betrifft, so dient sie nach Erdoğans Lesart nur
dazu, die Rechte und den Handlungsspielraum der vom Volk gewählten
Regierung zu beschneiden. Dagegen kann es echte Demokratie nur geben, wenn
ein vom Volk direkt gewählter Präsident die Werte der Nation verkörpert,
wenn seine Herrschaft den Willen des Volkes vollkommen repräsentiert und er
genau deswegen seine Macht mit niemandem teilen muss. Erst unter einer
solchen Regierungsform findet die Türkei zu ihrer natürlichen Stärke und
kann erneut zur Führungsmacht der (sunnitischen) Muslime aufsteigen.
Das erklärt, so Erdoğan, warum das missgünstige Ausland – primär der West…
– ihn unbedingt zu Fall bringen will. Und zwar mithilfe einer „fünften
Kolonne“, zu der er alle oppositionellen Kräfte zählt: So werden die
oppositionellen Parlamentarier als vaterlandslose Gesellen und
Helfershelfer von Terrororganisationen diffamiert, die sich der wahren,
durch AKP und MHP verkörperten Nation entgegenstellen.
Inzwischen hat der Staatspräsident seine Herrschaft weiter ausgebaut als
jeder zivile türkische Politiker vor ihm. Doch zu welchem Zweck? Hat
Erdoğan bislang auch nur eines seiner erklärten politischen Ziele erreicht?
Heute ist die Frage, welche inhaltlichen oder zukunftsweisenden
Vorstellungen er mit seiner Politik verfolgt, vollkommen hinter den Kampf
um den Machterhalt zurückgetreten.
Eine transformative politische Agenda, wie sie die AKP anfangs verkündet
hat, existiert nicht mehr. Vergessen sind Themen wie Demokratisierung oder
die EU-Mitgliedschaft, von denen Kritiker des Staatspräsidenten ohnehin
annehmen, dass sie immer nur taktisch gemeint waren. Aber auch politische
Ziele, die sich nahtlos mit der muslimisch-konservativen Identität der AKP
und ihrer neuerdings nationalistischen Orientierung decken, wurden nicht
erreicht.
Das gilt zumal für die Außenpolitik. Von der Vision, die Türkei als
bestimmende Macht im Nahen Osten zu etablieren, ist genauso wenig geblieben
wie von der Hoffnung, das Kurdenproblem durch die Einbindung der Kurden in
eine stärker muslimisch geprägte türkische Nation zu lösen. Gescheitert ist
auch die Strategie, in Ägypten und in Syrien der AKP verwandte
Gruppierungen der Muslimbruderschaft an die Regierung zu bringen. Von einer
türkischen Politik, die weit nach Osten ausgreift, kann keine Rede mehr
sein: Heute beschränkt sich die Nahostpolitik Ankaras wieder – wie zu den
Hochzeiten kemalistischer Herrschaft – auf das engstirnige Ziel, eine
kurdische Selbstverwaltung in den Nachbarstaaten zu verhindern.
## Staatlicher Druck auf Säkulare
Ein weiteres erklärtes Ziel wird durch die Wirtschaftskrise zunichte
gemacht: Schon heute ist klar, dass die Türkei 2023, zum 100. Jahrestag der
Gründung der Republik, nicht zu den zehn führenden Industrienationen zählen
wird. Auch das Bemühen, die Bevölkerung in eine einheitliche, fromme
muslimische Nation zu überführen, wird erfolglos bleiben – trotz allen
staatlichen Drucks auf die säkularen Teile der Gesellschaft.
Enttäuscht wurden auch die Erwartungen vieler konservativer AKP-Wähler,
Korruption und Nepotismus würden sich von selbst erledigen, wenn einmal
fromme Muslime an der Regierung sind. Es ist deshalb kein Wunder, dass sich
bei Wählern wie Mitgliedern der Regierungspartei eine große Ernüchterung
breitmacht und ihre Dynamik nachgelassen hat.
Bei den Präsidentschaftswahlen vom 24. Juni 2018 konnte Erdoğan zwar schon
im ersten Wahlgang mit 52,6 Prozent die absolute Stimmenmehrheit erringen.
Doch anders als bei seiner ersten Wahl zum Staatspräsidenten im August 2014
war er 2018 auch auf jene Wählerinnen und Wähler angewiesen, die bei der
gleichzeitig abgehaltenen Parlamentswahl ihr Kreuz bei der rechtsextremen
MHP gemacht hatten – da kam die AKP nämlich nur noch auf 42,6 Prozent der
Stimmen.
Es ist daran zu erinnern, dass der Gipfel der Wählergunst für die
Erdoğan-Partei nunmehr bereits sieben Jahre zurückliegt: Im Juni 2011
hatte sie mit 49,8 Prozent fast jeden zweiten Wähler überzeugen können. Bei
den Kommunalwahlen im März 2014 sackte sie auf 43,6 Prozent ab, bei den
Parlamentswahlen im Juni 2015 sogar auf 40,9 Prozent. Deshalb sind die 42,6
Prozent der letzten Wahl kein Ausreißer, sondern eine Bestätigung des
negativen Trends.
Für die anstehenden Kommunalwahlen zeigen Umfragen die AKP landesweit
deutlich unter 40 Prozent. Die Opposition hat offenbar Chancen, die
Metropolen Ankara und Istanbul zu erobern, wenn die CHP und die erst im
Oktober 2017 gegründete nationalkonservative säkular-kemalistische „Gute
Partei“ (Iyi Parti, IyiP) gemeinsam antreten.
Von der Schwäche der AKP konnte in letzter Zeit fast ausschließlich das
rechtsextreme Lager profitieren. Zwar stagnierte die MHP bei den letzten
Parlamentswahlen mit 11,9 Prozent, doch die von der Ex-MHPlerin und
früheren Innenministerin Meral Akşener angeführte IyiP erreichte auf Anhieb
10 Prozent. Die IyiP hat sich von der MHP abgespalten, teilt aber die
Ideologie und Politik der extremen Nationalisten und lehnt nur die
Alleinherrschaft Erdoğans ab.
## Innere Logik des Systems
Damit sind heute circa 20 Prozent der türkischen Wähler mehr oder weniger
starke Anhänger einer rechtsextremen Partei. Auch dies verweist auf einen
Misserfolg der Erdoğan-Politik: Die Radikalisierung und Polarisierung
entlang ethnischer und religiöser Identitäten, die der Staatspräsident seit
den Gezi-Protesten von 2013 und verstärkt seit dem Abbruch der
Friedensverhandlungen mit der PKK im Frühjahr 2015 betreibt, hat seiner
eigenen Partei nur kurzfristig genutzt. Langfristig stärkt sie das
rechtsradikale Lager.
Das Bündnis von AKP und MHP hat seinen Ursprung im gescheiterten
Putschversuch vom 15. Juli 2016. In den Jahren davor war MHP-Chef Devlet
Bahçeli einer der schärfsten Kritiker Erdoğans und seines Plans, ein
Präsidialsystem einzuführen. Aus der Sicht Bahçelis untergrub Erdoğan
damals die Fundamente des türkischen Staats. Dass dieser mit der PKK
verhandelte, den Kurden kulturelle Rechte gewährte und ihnen größere lokale
oder gar regionale Selbstbestimmung zugestehen wollte, lief für Bahçeli auf
„Landesverrat“ hinaus, denn damit werde der unitäre und ethnisch-türkische
Charakter der Republik unterhöhlt.
Ein Dorn im Auge war ihm auch, dass Erdoğan und seine AKP mit der
klandestinen Gülen-Bewegung paktierten und deren Kader in Polizei,
Geheimdienst und Justiz einschleusten. Indem Gülens Gefolgsleute die
Mammutprozesse gegen das türkische Militär vorantrieben, legten sie laut
Bahçeli die Axt an einen Grundpfeiler des Staats.
Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden die Karten neu gemischt. Die
AKP und Erdoğan waren geschwächt, ihr Bündnis mit Gülen war bereits im
Dezember 2013 endgültig zerbrochen. Jetzt sah sich die Regierung gezwungen,
Gülen-Anhänger aus der Verwaltung zu drängen, was der MHP die Chance bot,
eigene Kader unterzubringen. Denn Erdoğan war aufgrund der Schwäche seiner
eigenen Partei auf die Rückendeckung der MHP im Parlament, aber auch bei
Wahlen angewiesen.
Das ist der Hintergrund für Bahçelis Kehrtwende im Oktober 2016. Jetzt
wurde der MHP-Chef vom schärfsten Kritiker des Präsidialsystems zu seinem
eifrigsten Verfechter. Damit hat sich aber auch die Bedeutung und innere
Logik des Präsidialsystems gewandelt: Von Erdoğan war es ursprünglich als
Vehikel gedacht, durch die dramatische Anhebung der präsidentiellen
Befugnisse die alte kemalistische Elite zu entmachten und den Staat in
seinem Sinn zu transformieren. Jetzt machte das Bündnis von AKP und MHP das
Präsidialsystem zum Mittel der Restauration des alten Staats, wenn auch in
islamisierter und radikalisierter Form.
In Erdoğans Kampagne wurde die Notwendigkeit des Systemwandels auch mit der
Behauptung begründet, die Wirtschaft der Türkei kranke daran, dass die
politischen Entscheidungswege zu lang seien. Deshalb müsse man die Macht in
einer Hand konzentrieren, auch um zu verhindern, dass Berufsverbände,
Umweltschützer und die Opposition ständig Großprojekte blockieren, die für
die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei unverzichtbar seien.
## Explosiver Mix
Es war deshalb keine Überraschung, dass Erdoğan sofort nach seiner
Wiederwahl auch in der Wirtschaftspolitik die Zügel in die Hand nahm. In
seiner neuen, im Juli 2018 berufenen Ministerriege fehlte Mehmet Şimşek,
der frühere Finanzminister und Vizeministerpräsident, der bei
internationalen Anlegern als verlässlich und berechenbar galt. Stattdessen
berief Erdoğan seinen Schwiegersohn Berat Albayrak zum Minister für
Finanzen, dem auch die Kontrolle über die Staatskasse obliegt.
Dass der junge Mann unter Kuratel des Präsidenten steht, machte eine
Episode im Oktober 2018 deutlich: Nachdem Albayrak einen Beratervertrag mit
McKinsey abgeschlossen hatte, ohne seinen Schwiegervater zu fragen, musste
er den Vertrag unverzüglich wieder auflösen.
Im September 2018 machte sich der Präsident selbst zum Chef des türkischen
Staatsfonds. Der im August 2016 gegründete Fonds verwaltet die Anteile des
Staats an elf großen Unternehmen und soll die Finanzierung von
Megainfrastrukturprojekten sichern. In seiner neuen Rolle kann Erdoğan
jetzt auch Entscheidungen über Privatinvestitionen treffen. Sein
Stellvertreter an der Spitze des Fonds heißt Berat Albayrak.
Ein entscheidender Schritt zu Erdoğans persönlichem Regiment auch in der
Finanz- und Wirtschaftspolitik ist ein Dekret vom 10. Juli 2018, wonach der
Präsident den Chef der „unabhängigen“ Zentralbank ernennen kann. Weitere
finanzpolitische Befugnisse sieht eine Gesetzesvorlage vor, die im Dezember
2018 den Haushaltsausschuss des Parlaments passiert hat. Sie ermächtigt den
Präsidenten, auf Antrag einzelner Kommunen aus einem Extrahaushalt die
Finanzierung „besonderer Projekte“ zu übernehmen. Damit erhält Erdoğan
vier Monate vor den Kommunalwahlen die Befugnis, AKP-regierten Kommunen
nach Belieben Gelder zuzuschanzen.
Türkische Ökonomen, die nicht der AKP nahestehen, diagnostizieren einen
explosiven Mix: Der besteht erstens aus der Unberechenbarkeit
wirtschaftspolitischer Entscheidungen; zweitens der Intransparenz der
staatlichen Mittelvergabe, die zur Korruption einlädt; drittens der
langjährigen Konzentration auf überdimensionierte Infrastrukturprojekte,
die viertens auf Kosten der Investitionen in den produktiven Sektoren
gehen. Es ist die Kombination dieser vier Faktoren, die den Wirtschaftskurs
der AKP so problematisch macht.
Die strukturellen Schwächen der türkischen Wirtschaft sind altbekannt. Die
wichtigsten Stichworte sind: eine chronisch niedrige Sparquote, die
Abhängigkeit der Industrie von importierten Halbfertigprodukten, geringe
Produktivität und Wertschöpfung und – als Resultat all dieser Faktoren –
die starke Abhängigkeit von internationalen Finanzmärkten. Vor diesem
Hintergrund müssen willkürliche politische Entscheidungen und ein Diskurs,
der internationale Anleger verschreckt, gravierende Folgen haben.
## Die große Bereicherung
Das zeigte sich im Verlauf der aktuellen Krise am Schicksal der türkischen
Währung. Im April 2018 kostete ein US-Dollar 4 Türkische Lira (TL). Als die
Lira unaufhaltsam fiel, reiste Erdoğan nach London. Dort traf er sich am
13. Mai im Bloomberg-Büro mit potenziellen Investoren, denen er seine
Wirtschaftsphilosophie und seine Pläne für die Zukunft erläuterte. Dabei
kündigte er an, dass er nach den Wahlen vom 24. Juni im Rahmen des neuen
Präsidialsystems noch stärker als bisher die Politik der türkischen
Zentralbank bestimmen werde. Zudem proklamierte er als sein zentrales
finanzpolitisches Ziel einen realen Zinssatz von null Komma null Prozent.
Zuvor hatte er seinem verblüfften Publikum erklärt, dass die Zinsen die
Inflationsrate bestimmen und nicht umgekehrt, wie es die herrschende
Finanztheorie lehrt.
Die Anleger lernten daraus zwei Dinge: Erstens, dass Erdoğan eine kaum
verbrämte islamische Sichtweise auf die Wirtschaft hat, die den Zins
verteufelt. Und zweitens die Erkenntnis, dass Erdoğan künftig noch weniger
berechenbar agieren würde. Einer seiner Zuhörer kommentierte wenige Tage
später: „Ich sehe keine Hoffnung. Es scheint ganz so, als würde er auf
niemanden mehr hören.“
Nach diesem 13. Mai verlor die Lira binnen 24 Stunden 4 Prozent ihres
Werts. Der Dollarkurs stieg auf 4,5 TL, und dieser Trend setzte sich noch
über Wochen fort. Zu einem ähnlichen Kursausschlag kam es am 10. August
2018, als sich Erdoğan weigerte, den willkürlich verhafteten US-Prediger
Andrew Brunson, der da schon seit fast zwei Jahren im Gefängnis saß, zu
entlassen. Als Trump daraufhin die Verdoppelung von Zöllen auf Stahl und
Aluminium aus der Türkei anordnete, verlor die Lira an einem Tag 11 Prozent
ihres Werts und der Dollarkurs kletterte auf über 7 Lira.
Was die beiden Faktoren Intransparenz plus Korruption und Konzentration auf
überdimensionierte Infrastrukturprojekte anbetrifft, so besteht zwischen
beiden eine enge Beziehung. Die AKP hat sich ihre eigene Klasse von
Bauunternehmern herangezogen. Die werden mittels Privatisierungen
staatlicher Unternehmen und Zuteilung öffentlicher Aufträge großzügig
gefördert, wofür sie sich mit Parteispenden revanchieren.
Um diese Vorteilsgewährung großen Stils juristisch abzusichern, wurde seit
dem Machtantritt der AKP das Gesetz über öffentliche Ausschreibungen 53-mal
geändert. Die ständig neuen Ausnahmeregelungen führten zu einer
Intransparenz, die vor allem die Public-private-Partnership (PPP) Projekte
kennzeichnet. Auf diese Weise werden den an PPP beteiligten Unternehmen auf
Kosten der Steuerzahler weit überhöhte Renditen garantiert.
Besonders großzügig sind die Kalkulationen zum Wohle der ausführenden
Privatfirmen bei drei Prestigeprojekten der AKP-Regierung ausgefallen.
Sowohl die dritte Brücke über den Bosporus (Yavuz-Sultan-Brücke) als auch
der Eurasien-Straßentunnel unter dem Bosporus (Avrasya Tüp Tüneli) und die
2016 eröffnete Brücke über den östlichen Ausläufer des Marmara-Meers
(Osman-Gazi-Brücke) werden wesentlich weniger genutzt als projektiert.
Die Zahl der Fahrzeuge, die diese Verkehrswege kostenpflichtig nutzen
sollten, wurde bei der Yavuz-Sultan-Brücke um zwei Drittel, beim
Eurasien-Tunnel um 50 Prozent und bei der Osman-Gazi-Brücke um rund 60
Prozent zu hoch angesetzt. Die Differenz bezahlt der Staat, der den
Unternehmen eine Rendite auf Basis von wahrscheinlich bewusst überzogenen
Projektionen zugesagt hatte. 2018 zahlte der türkische Staat den
Unternehmen im Rahmen solcher PPPs 7,4 Milliarden US-Dollar. Bis Ende 2021
soll diese Summe auf 44,5 Milliarden US-Dollar ansteigen.
Mit Einführung des Präsidialsystems und der weiteren Konzentration der
Macht in den Händen einer Person werden sich diese Tendenzen weiter
verstärken. Auch deshalb ist nicht zu erwarten, dass die Türkei in den
nächsten Jahren politisch zur Ruhe kommen und wirtschaftlich einen neuen
Aufschwung erleben wird.
10 Jan 2019
## LINKS
[1] /Erdoan-attackiert-Gruenen-Chef-erneut/!5311863
[2] /Kommentar-Anti-Terror-Gesetze-Tuerkei/!5520003
[3] https://gazete.taz.de/article/?article=!5515598
## AUTOREN
Günter Seufert
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