| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Der Staat bin ich | |
| > In der Türkei konzentriert sich die Macht in den Händen einer einzigen | |
| > Person. Wie Präsident Erdoğan mit seiner Beratungsresistenz sein Land | |
| > ruiniert. | |
| Bild: Inzwischen hat Erdoğan seine Herrschaft weiter ausgebaut als jeder zivil… | |
| Eine der meist gebrauchten Floskeln des türkischen Staatspräsidenten Recep | |
| Tayyip Erdoğan ist die Zurechtweisung: „Benimm dich!“ Sie trifft zumeist | |
| türkische Oppositionspolitiker, zuweilen aber auch ausländische Kritiker | |
| wie den früheren deutschen Außenminister Sigmar Gabriel [1][oder den | |
| Grünen-Politiker Cem Özdemir.] Und sogar die Ratingagentur Standard & Poors | |
| versuchte Erdoğan mit diesem Spruch in die Schranken zu weisen. | |
| Als allerdings am 21. Dezember 2018 der 77-jährige Theaterschauspieler | |
| Müjdat Gezen im Fernsehen dieselben Worte an die Adresse Erdoğans richtete, | |
| fühlte der sich beleidigt. Schon am nächsten Tag verkündete der Präsident, | |
| man werde Gezen für seine Frechheit bestrafen. Einen Tag später nahm die | |
| Polizei den Schauspieler fest und führte ihn dem Richter vor. | |
| Manchmal gibt Erdoğan der Justiz sogar die einzelnen Schritte vor. So | |
| geschehen im Fall Özgür Özel. Der Vizefraktionschef der Republikanischen | |
| Volkspartei (CHP), die im Parlament die stärkste Opposition bildet, hatte | |
| am 16. Dezember Verteidigungsminister Hulusi Akar kritische Fragen zu | |
| dessen Rolle als Generalstabschef zur Zeit des Putschversuchs vom Juli 2016 | |
| gestellt. „Wir werden ihm die nötige Lehren über die Justiz erteilen“, | |
| erklärte Erdoğan im Pluralis Majestatis, noch ehe der Staatsanwalt eine | |
| Anklageschrift hätte schreiben können. Und er verkündete auch gleich das | |
| Urteil: „Erst (zahlt er) Entschädigung, dann (bekommt er seine) Strafe.“ | |
| Doch nicht nur Polizei und Justiz stehen bereit, auf einen Wink des | |
| Präsidenten loszuschlagen. Nur vier Tage nachdem Müjdat Gezen im Fernsehen | |
| Erdoğans Lieblingsfloskel benutzt hatte, erließ der „unabhängige“ | |
| Rundfunkkontrollrat (RTÜK) für das Programm, in dem Gezen aufgetreten war, | |
| ein befristetes Sendeverbot, was der erste Schritt zur vollständigen | |
| Schließung des Fernsehkanals sein könnte. Und falls Justiz und Polizei – | |
| oder gar der Präsident selbst – einmal einen Kritiker überhören, springt | |
| die regierungsnahe Presse ein – die inzwischen 90 Prozent der Medienmacht | |
| repräsentiert – und schreit Zeter und Mordio, bis die Behörden aktiv | |
| werden. | |
| Mit diesen Beispielen ist die Machtfülle Erdoğans noch keineswegs | |
| erschöpfend beschrieben. Sechs Monate nach dem 24. Juni 2018, dem Datum des | |
| offiziellen Übergangs zum Präsidialsystem, [2][ist der Präsident nicht nur | |
| unumschränkter Herrscher über die Exekutive und bestimmt nicht nur | |
| weitgehend das Handeln der Justiz.] | |
| Er setzt seinen Willen auch im Parlament und in den Kommunalverwaltungen | |
| durch und bedient sich dafür seiner „Partei für Gerechtigkeit und | |
| Entwicklung“ (AKP). Die AKP ist zwar immer noch unangefochten die größte | |
| politische Partei, doch faktisch ist sie zu Erdoğans Wahlkampfmaschinerie | |
| degradiert, die der Präsident nach Belieben anwerfen und wieder abstellen | |
| kann. | |
| ## Rechtsextremer Bündnispartner | |
| Seit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 24. Juni 2018 verfügt | |
| die AKP nur noch im Verein mit der rechtsextremen Partei der | |
| Nationalistischen Bewegung (MHP) über die absolute Mehrheit in der Großen | |
| Nationalversammlung. Dort blockieren AKP und MHP gemeinsam immer wieder die | |
| Einsetzung von Untersuchungskommissionen. So haben sie im Juli und im | |
| Oktober 2018 erfolgreich verhindert, dass die Verbindungen von | |
| AKP-Politikern und AKP-nahen Unternehmern zur Gülen-Bewegung aufgedeckt | |
| werden, die Erdoğan für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich | |
| macht. | |
| AKP und MHP haben bereits vor der letzten Wahl kooperiert, insbesondere | |
| wenn es um die Aufhebung der Immunität kurdischer Abgeordneter ging. Am 20. | |
| Dezember 2018 beantragte die Staatsanwaltschaft, die Immunität von 68 | |
| Abgeordneten der oppositionellen CHP aufzuheben. Das ist fast die halbe | |
| Fraktion, der jetzt Haftstrafen zwischen einem und vier Jahren drohen, | |
| gefolgt von einem Verbot politischer Betätigung. Und was wird den | |
| Parlamentariern vorgeworfen? Das Re-Tweeten einer Erdoğan-Karikatur, wegen | |
| der im letzten Sommer vier Studenten vier Wochen lang im Gefängnis saßen. | |
| In der heutigen Türkei können oppositionelle Parlamentarier sich nicht mehr | |
| darauf verlassen, dass sie ihre von der Verfassung garantierten Rechte | |
| ausüben können. Mittlerweile können selbst Äußerungen im Parlament | |
| strafrechtliche Ermittlungen nach sich ziehen. Das musste im letzten | |
| November der Abgeordnete Cihangir Islam von der religiös-konservativen | |
| Glückseligkeitspartei (SP) erfahren, nachdem er die AKP beschuldigt hatte, | |
| jahrelang Stellen in Justiz, Polizei und Geheimdienst mit Anhängern des | |
| Predigers Fethullah Gülen besetzt zu haben. | |
| Auf der lokalpolitischen Ebene sieht es ganz ähnlich aus. Drei Monate vor | |
| den Kommunalwahlen, die für den 31. März 2019 geplant sind, lebt rund die | |
| Hälfte der Bevölkerung in Städten und Landkreisen, deren Bürgermeister und | |
| Landräte nicht gewählt wurden. In den mehrheitlich kurdisch besiedelten | |
| Gebieten hat die Regierung den nach dem Putschversuch verhängten | |
| Ausnahmezustand dazu benutzt, 90 Bürgermeister durch „Treuhänder“ des | |
| Innenministeriums zu ersetzen. Und im September 2018 drängte Erdoğan die | |
| AKP-Bürgermeister der Metropolen Ankara und Istanbul wie auch mehrerer | |
| anderer Städte zum Rücktritt und setzte Nachfolger ein, die der AKP bei den | |
| Kommunalwahlen bessere Resultate bringen sollen. | |
| Im Oktober 2018 setzte das Innenministerium 259 gewählte Ortsvorsteher von | |
| Dörfern und Stadtteilen (Muhtare) ab, und zwar wiederum vor allem in den | |
| kurdischen Gebieten. Für keine dieser Amtsenthebungen musste sich die | |
| Regierung um Gerichtsurteile bemühen. Es reichte die Behauptung, die | |
| gewählten Repräsentanten seien eine Gefahr für die nationale Sicherheit. | |
| Die Frage liegt auf der Hand, weshalb Erdoğan überhaupt noch Kommunalwahlen | |
| abhalten lässt. Der Präsident hat bereits im September 2018 angekündigt, | |
| auch neu gewählte Bürgermeister würden durch Treuhänder ersetzt, wenn sie | |
| Terrororganisationen nahestehen. Dieser Vorwurf kann heute fast jeden | |
| treffen. [3][Zumal die AKP und ihr rechtsextremer Bündnispartner den | |
| Wahlkampf nicht mit lokalen Themen und Problemen bestreiten.] Vielmehr | |
| deklarieren sie den Kampf um die Rathäuser – wie schon die letzten Wahlen | |
| auf nationaler Ebene – als Überlebenskampf der türkisch-muslimischen Nation | |
| gegen ihre Feinde. | |
| ## Die große Ernüchterung | |
| Mit diesem Topos hat Erdoğan auch schon die Einführung des Präsidialsystems | |
| propagiert: Ein frommes Volk steht auf gegen eine entfremdete Elite, von | |
| der es jahrzehntelang beherrscht wurde, und zwar mit Hilfe des Militärs, | |
| einer permanenten, säkularen Gehirnwäsche und einer Verfassung, die nur den | |
| Interessen dieser Elite diente. Laut Erdoğan wurden alle bisherigen | |
| Verfassungen vom Westen in die Türkei „exportiert“, sind also „nicht auf | |
| diesem Boden gewachsen“. Weshalb sie auch nicht „die Werte der Nation“ | |
| repräsentieren. Aus demselben Grund können die bestehenden Gesetze auch | |
| keine absolute Gültigkeit beanspruchen. | |
| Was die Gewaltenteilung betrifft, so dient sie nach Erdoğans Lesart nur | |
| dazu, die Rechte und den Handlungsspielraum der vom Volk gewählten | |
| Regierung zu beschneiden. Dagegen kann es echte Demokratie nur geben, wenn | |
| ein vom Volk direkt gewählter Präsident die Werte der Nation verkörpert, | |
| wenn seine Herrschaft den Willen des Volkes vollkommen repräsentiert und er | |
| genau deswegen seine Macht mit niemandem teilen muss. Erst unter einer | |
| solchen Regierungsform findet die Türkei zu ihrer natürlichen Stärke und | |
| kann erneut zur Führungsmacht der (sunnitischen) Muslime aufsteigen. | |
| Das erklärt, so Erdoğan, warum das missgünstige Ausland – primär der West… | |
| – ihn unbedingt zu Fall bringen will. Und zwar mithilfe einer „fünften | |
| Kolonne“, zu der er alle oppositionellen Kräfte zählt: So werden die | |
| oppositionellen Parlamentarier als vaterlandslose Gesellen und | |
| Helfershelfer von Terrororganisationen diffamiert, die sich der wahren, | |
| durch AKP und MHP verkörperten Nation entgegenstellen. | |
| Inzwischen hat der Staatspräsident seine Herrschaft weiter ausgebaut als | |
| jeder zivile türkische Politiker vor ihm. Doch zu welchem Zweck? Hat | |
| Erdoğan bislang auch nur eines seiner erklärten politischen Ziele erreicht? | |
| Heute ist die Frage, welche inhaltlichen oder zukunftsweisenden | |
| Vorstellungen er mit seiner Politik verfolgt, vollkommen hinter den Kampf | |
| um den Machterhalt zurückgetreten. | |
| Eine transformative politische Agenda, wie sie die AKP anfangs verkündet | |
| hat, existiert nicht mehr. Vergessen sind Themen wie Demokratisierung oder | |
| die EU-Mitgliedschaft, von denen Kritiker des Staatspräsidenten ohnehin | |
| annehmen, dass sie immer nur taktisch gemeint waren. Aber auch politische | |
| Ziele, die sich nahtlos mit der muslimisch-konservativen Identität der AKP | |
| und ihrer neuerdings nationalistischen Orientierung decken, wurden nicht | |
| erreicht. | |
| Das gilt zumal für die Außenpolitik. Von der Vision, die Türkei als | |
| bestimmende Macht im Nahen Osten zu etablieren, ist genauso wenig geblieben | |
| wie von der Hoffnung, das Kurdenproblem durch die Einbindung der Kurden in | |
| eine stärker muslimisch geprägte türkische Nation zu lösen. Gescheitert ist | |
| auch die Strategie, in Ägypten und in Syrien der AKP verwandte | |
| Gruppierungen der Muslimbruderschaft an die Regierung zu bringen. Von einer | |
| türkischen Politik, die weit nach Osten ausgreift, kann keine Rede mehr | |
| sein: Heute beschränkt sich die Nahostpolitik Ankaras wieder – wie zu den | |
| Hochzeiten kemalistischer Herrschaft – auf das engstirnige Ziel, eine | |
| kurdische Selbstverwaltung in den Nachbarstaaten zu verhindern. | |
| ## Staatlicher Druck auf Säkulare | |
| Ein weiteres erklärtes Ziel wird durch die Wirtschaftskrise zunichte | |
| gemacht: Schon heute ist klar, dass die Türkei 2023, zum 100. Jahrestag der | |
| Gründung der Republik, nicht zu den zehn führenden Industrienationen zählen | |
| wird. Auch das Bemühen, die Bevölkerung in eine einheitliche, fromme | |
| muslimische Nation zu überführen, wird erfolglos bleiben – trotz allen | |
| staatlichen Drucks auf die säkularen Teile der Gesellschaft. | |
| Enttäuscht wurden auch die Erwartungen vieler konservativer AKP-Wähler, | |
| Korruption und Nepotismus würden sich von selbst erledigen, wenn einmal | |
| fromme Muslime an der Regierung sind. Es ist deshalb kein Wunder, dass sich | |
| bei Wählern wie Mitgliedern der Regierungspartei eine große Ernüchterung | |
| breitmacht und ihre Dynamik nachgelassen hat. | |
| Bei den Präsidentschaftswahlen vom 24. Juni 2018 konnte Erdoğan zwar schon | |
| im ersten Wahlgang mit 52,6 Prozent die absolute Stimmenmehrheit erringen. | |
| Doch anders als bei seiner ersten Wahl zum Staatspräsidenten im August 2014 | |
| war er 2018 auch auf jene Wählerinnen und Wähler angewiesen, die bei der | |
| gleichzeitig abgehaltenen Parlamentswahl ihr Kreuz bei der rechtsextremen | |
| MHP gemacht hatten – da kam die AKP nämlich nur noch auf 42,6 Prozent der | |
| Stimmen. | |
| Es ist daran zu erinnern, dass der Gipfel der Wählergunst für die | |
| Erdoğan-Partei nunmehr bereits sieben Jahre zurückliegt: Im Juni 2011 | |
| hatte sie mit 49,8 Prozent fast jeden zweiten Wähler überzeugen können. Bei | |
| den Kommunalwahlen im März 2014 sackte sie auf 43,6 Prozent ab, bei den | |
| Parlamentswahlen im Juni 2015 sogar auf 40,9 Prozent. Deshalb sind die 42,6 | |
| Prozent der letzten Wahl kein Ausreißer, sondern eine Bestätigung des | |
| negativen Trends. | |
| Für die anstehenden Kommunalwahlen zeigen Umfragen die AKP landesweit | |
| deutlich unter 40 Prozent. Die Opposition hat offenbar Chancen, die | |
| Metropolen Ankara und Istanbul zu erobern, wenn die CHP und die erst im | |
| Oktober 2017 gegründete nationalkonservative säkular-kemalistische „Gute | |
| Partei“ (Iyi Parti, IyiP) gemeinsam antreten. | |
| Von der Schwäche der AKP konnte in letzter Zeit fast ausschließlich das | |
| rechtsextreme Lager profitieren. Zwar stagnierte die MHP bei den letzten | |
| Parlamentswahlen mit 11,9 Prozent, doch die von der Ex-MHPlerin und | |
| früheren Innenministerin Meral Akşener angeführte IyiP erreichte auf Anhieb | |
| 10 Prozent. Die IyiP hat sich von der MHP abgespalten, teilt aber die | |
| Ideologie und Politik der extremen Nationalisten und lehnt nur die | |
| Alleinherrschaft Erdoğans ab. | |
| ## Innere Logik des Systems | |
| Damit sind heute circa 20 Prozent der türkischen Wähler mehr oder weniger | |
| starke Anhänger einer rechtsextremen Partei. Auch dies verweist auf einen | |
| Misserfolg der Erdoğan-Politik: Die Radikalisierung und Polarisierung | |
| entlang ethnischer und religiöser Identitäten, die der Staatspräsident seit | |
| den Gezi-Protesten von 2013 und verstärkt seit dem Abbruch der | |
| Friedensverhandlungen mit der PKK im Frühjahr 2015 betreibt, hat seiner | |
| eigenen Partei nur kurzfristig genutzt. Langfristig stärkt sie das | |
| rechtsradikale Lager. | |
| Das Bündnis von AKP und MHP hat seinen Ursprung im gescheiterten | |
| Putschversuch vom 15. Juli 2016. In den Jahren davor war MHP-Chef Devlet | |
| Bahçeli einer der schärfsten Kritiker Erdoğans und seines Plans, ein | |
| Präsidialsystem einzuführen. Aus der Sicht Bahçelis untergrub Erdoğan | |
| damals die Fundamente des türkischen Staats. Dass dieser mit der PKK | |
| verhandelte, den Kurden kulturelle Rechte gewährte und ihnen größere lokale | |
| oder gar regionale Selbstbestimmung zugestehen wollte, lief für Bahçeli auf | |
| „Landesverrat“ hinaus, denn damit werde der unitäre und ethnisch-türkische | |
| Charakter der Republik unterhöhlt. | |
| Ein Dorn im Auge war ihm auch, dass Erdoğan und seine AKP mit der | |
| klandestinen Gülen-Bewegung paktierten und deren Kader in Polizei, | |
| Geheimdienst und Justiz einschleusten. Indem Gülens Gefolgsleute die | |
| Mammutprozesse gegen das türkische Militär vorantrieben, legten sie laut | |
| Bahçeli die Axt an einen Grundpfeiler des Staats. | |
| Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden die Karten neu gemischt. Die | |
| AKP und Erdoğan waren geschwächt, ihr Bündnis mit Gülen war bereits im | |
| Dezember 2013 endgültig zerbrochen. Jetzt sah sich die Regierung gezwungen, | |
| Gülen-Anhänger aus der Verwaltung zu drängen, was der MHP die Chance bot, | |
| eigene Kader unterzubringen. Denn Erdoğan war aufgrund der Schwäche seiner | |
| eigenen Partei auf die Rückendeckung der MHP im Parlament, aber auch bei | |
| Wahlen angewiesen. | |
| Das ist der Hintergrund für Bahçelis Kehrtwende im Oktober 2016. Jetzt | |
| wurde der MHP-Chef vom schärfsten Kritiker des Präsidialsystems zu seinem | |
| eifrigsten Verfechter. Damit hat sich aber auch die Bedeutung und innere | |
| Logik des Präsidialsystems gewandelt: Von Erdoğan war es ursprünglich als | |
| Vehikel gedacht, durch die dramatische Anhebung der präsidentiellen | |
| Befugnisse die alte kemalistische Elite zu entmachten und den Staat in | |
| seinem Sinn zu transformieren. Jetzt machte das Bündnis von AKP und MHP das | |
| Präsidialsystem zum Mittel der Restauration des alten Staats, wenn auch in | |
| islamisierter und radikalisierter Form. | |
| In Erdoğans Kampagne wurde die Notwendigkeit des Systemwandels auch mit der | |
| Behauptung begründet, die Wirtschaft der Türkei kranke daran, dass die | |
| politischen Entscheidungswege zu lang seien. Deshalb müsse man die Macht in | |
| einer Hand konzentrieren, auch um zu verhindern, dass Berufsverbände, | |
| Umweltschützer und die Opposition ständig Großprojekte blockieren, die für | |
| die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei unverzichtbar seien. | |
| ## Explosiver Mix | |
| Es war deshalb keine Überraschung, dass Erdoğan sofort nach seiner | |
| Wiederwahl auch in der Wirtschaftspolitik die Zügel in die Hand nahm. In | |
| seiner neuen, im Juli 2018 berufenen Ministerriege fehlte Mehmet Şimşek, | |
| der frühere Finanzminister und Vizeministerpräsident, der bei | |
| internationalen Anlegern als verlässlich und berechenbar galt. Stattdessen | |
| berief Erdoğan seinen Schwiegersohn Berat Albayrak zum Minister für | |
| Finanzen, dem auch die Kontrolle über die Staatskasse obliegt. | |
| Dass der junge Mann unter Kuratel des Präsidenten steht, machte eine | |
| Episode im Oktober 2018 deutlich: Nachdem Albayrak einen Beratervertrag mit | |
| McKinsey abgeschlossen hatte, ohne seinen Schwiegervater zu fragen, musste | |
| er den Vertrag unverzüglich wieder auflösen. | |
| Im September 2018 machte sich der Präsident selbst zum Chef des türkischen | |
| Staatsfonds. Der im August 2016 gegründete Fonds verwaltet die Anteile des | |
| Staats an elf großen Unternehmen und soll die Finanzierung von | |
| Megainfrastrukturprojekten sichern. In seiner neuen Rolle kann Erdoğan | |
| jetzt auch Entscheidungen über Privatinvestitionen treffen. Sein | |
| Stellvertreter an der Spitze des Fonds heißt Berat Albayrak. | |
| Ein entscheidender Schritt zu Erdoğans persönlichem Regiment auch in der | |
| Finanz- und Wirtschaftspolitik ist ein Dekret vom 10. Juli 2018, wonach der | |
| Präsident den Chef der „unabhängigen“ Zentralbank ernennen kann. Weitere | |
| finanzpolitische Befugnisse sieht eine Gesetzesvorlage vor, die im Dezember | |
| 2018 den Haushaltsausschuss des Parlaments passiert hat. Sie ermächtigt den | |
| Präsidenten, auf Antrag einzelner Kommunen aus einem Extrahaushalt die | |
| Finanzierung „besonderer Projekte“ zu übernehmen. Damit erhält Erdoğan | |
| vier Monate vor den Kommunalwahlen die Befugnis, AKP-regierten Kommunen | |
| nach Belieben Gelder zuzuschanzen. | |
| Türkische Ökonomen, die nicht der AKP nahestehen, diagnostizieren einen | |
| explosiven Mix: Der besteht erstens aus der Unberechenbarkeit | |
| wirtschaftspolitischer Entscheidungen; zweitens der Intransparenz der | |
| staatlichen Mittelvergabe, die zur Korruption einlädt; drittens der | |
| langjährigen Konzentration auf überdimensionierte Infrastrukturprojekte, | |
| die viertens auf Kosten der Investitionen in den produktiven Sektoren | |
| gehen. Es ist die Kombination dieser vier Faktoren, die den Wirtschaftskurs | |
| der AKP so problematisch macht. | |
| Die strukturellen Schwächen der türkischen Wirtschaft sind altbekannt. Die | |
| wichtigsten Stichworte sind: eine chronisch niedrige Sparquote, die | |
| Abhängigkeit der Industrie von importierten Halbfertigprodukten, geringe | |
| Produktivität und Wertschöpfung und – als Resultat all dieser Faktoren – | |
| die starke Abhängigkeit von internationalen Finanzmärkten. Vor diesem | |
| Hintergrund müssen willkürliche politische Entscheidungen und ein Diskurs, | |
| der internationale Anleger verschreckt, gravierende Folgen haben. | |
| ## Die große Bereicherung | |
| Das zeigte sich im Verlauf der aktuellen Krise am Schicksal der türkischen | |
| Währung. Im April 2018 kostete ein US-Dollar 4 Türkische Lira (TL). Als die | |
| Lira unaufhaltsam fiel, reiste Erdoğan nach London. Dort traf er sich am | |
| 13. Mai im Bloomberg-Büro mit potenziellen Investoren, denen er seine | |
| Wirtschaftsphilosophie und seine Pläne für die Zukunft erläuterte. Dabei | |
| kündigte er an, dass er nach den Wahlen vom 24. Juni im Rahmen des neuen | |
| Präsidialsystems noch stärker als bisher die Politik der türkischen | |
| Zentralbank bestimmen werde. Zudem proklamierte er als sein zentrales | |
| finanzpolitisches Ziel einen realen Zinssatz von null Komma null Prozent. | |
| Zuvor hatte er seinem verblüfften Publikum erklärt, dass die Zinsen die | |
| Inflationsrate bestimmen und nicht umgekehrt, wie es die herrschende | |
| Finanztheorie lehrt. | |
| Die Anleger lernten daraus zwei Dinge: Erstens, dass Erdoğan eine kaum | |
| verbrämte islamische Sichtweise auf die Wirtschaft hat, die den Zins | |
| verteufelt. Und zweitens die Erkenntnis, dass Erdoğan künftig noch weniger | |
| berechenbar agieren würde. Einer seiner Zuhörer kommentierte wenige Tage | |
| später: „Ich sehe keine Hoffnung. Es scheint ganz so, als würde er auf | |
| niemanden mehr hören.“ | |
| Nach diesem 13. Mai verlor die Lira binnen 24 Stunden 4 Prozent ihres | |
| Werts. Der Dollarkurs stieg auf 4,5 TL, und dieser Trend setzte sich noch | |
| über Wochen fort. Zu einem ähnlichen Kursausschlag kam es am 10. August | |
| 2018, als sich Erdoğan weigerte, den willkürlich verhafteten US-Prediger | |
| Andrew Brunson, der da schon seit fast zwei Jahren im Gefängnis saß, zu | |
| entlassen. Als Trump daraufhin die Verdoppelung von Zöllen auf Stahl und | |
| Aluminium aus der Türkei anordnete, verlor die Lira an einem Tag 11 Prozent | |
| ihres Werts und der Dollarkurs kletterte auf über 7 Lira. | |
| Was die beiden Faktoren Intransparenz plus Korruption und Konzentration auf | |
| überdimensionierte Infrastrukturprojekte anbetrifft, so besteht zwischen | |
| beiden eine enge Beziehung. Die AKP hat sich ihre eigene Klasse von | |
| Bauunternehmern herangezogen. Die werden mittels Privatisierungen | |
| staatlicher Unternehmen und Zuteilung öffentlicher Aufträge großzügig | |
| gefördert, wofür sie sich mit Parteispenden revanchieren. | |
| Um diese Vorteilsgewährung großen Stils juristisch abzusichern, wurde seit | |
| dem Machtantritt der AKP das Gesetz über öffentliche Ausschreibungen 53-mal | |
| geändert. Die ständig neuen Ausnahmeregelungen führten zu einer | |
| Intransparenz, die vor allem die Public-private-Partnership (PPP) Projekte | |
| kennzeichnet. Auf diese Weise werden den an PPP beteiligten Unternehmen auf | |
| Kosten der Steuerzahler weit überhöhte Renditen garantiert. | |
| Besonders großzügig sind die Kalkulationen zum Wohle der ausführenden | |
| Privatfirmen bei drei Prestigeprojekten der AKP-Regierung ausgefallen. | |
| Sowohl die dritte Brücke über den Bosporus (Yavuz-Sultan-Brücke) als auch | |
| der Eurasien-Straßentunnel unter dem Bosporus (Avrasya Tüp Tüneli) und die | |
| 2016 eröffnete Brücke über den östlichen Ausläufer des Marmara-Meers | |
| (Osman-Gazi-Brücke) werden wesentlich weniger genutzt als projektiert. | |
| Die Zahl der Fahrzeuge, die diese Verkehrswege kostenpflichtig nutzen | |
| sollten, wurde bei der Yavuz-Sultan-Brücke um zwei Drittel, beim | |
| Eurasien-Tunnel um 50 Prozent und bei der Osman-Gazi-Brücke um rund 60 | |
| Prozent zu hoch angesetzt. Die Differenz bezahlt der Staat, der den | |
| Unternehmen eine Rendite auf Basis von wahrscheinlich bewusst überzogenen | |
| Projektionen zugesagt hatte. 2018 zahlte der türkische Staat den | |
| Unternehmen im Rahmen solcher PPPs 7,4 Milliarden US-Dollar. Bis Ende 2021 | |
| soll diese Summe auf 44,5 Milliarden US-Dollar ansteigen. | |
| Mit Einführung des Präsidialsystems und der weiteren Konzentration der | |
| Macht in den Händen einer Person werden sich diese Tendenzen weiter | |
| verstärken. Auch deshalb ist nicht zu erwarten, dass die Türkei in den | |
| nächsten Jahren politisch zur Ruhe kommen und wirtschaftlich einen neuen | |
| Aufschwung erleben wird. | |
| 10 Jan 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Erdoan-attackiert-Gruenen-Chef-erneut/!5311863 | |
| [2] /Kommentar-Anti-Terror-Gesetze-Tuerkei/!5520003 | |
| [3] https://gazete.taz.de/article/?article=!5515598 | |
| ## AUTOREN | |
| Günter Seufert | |
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