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# taz.de -- Alternativ-fortschrittliches Silvestermenü: Krabbeln im Bauch
> Insekten auf dem Teller: Silvester bietet eine willkommene Gelegenheit,
> die wieder entdeckten Eiweißquellen kulinarisch auszutesten.
Bild: Lecker-schmecker: Grillen, Seidenraupen, Wasserläufer und Ameisen
Bremen taz | Insekten auf den Tisch! Wann, wenn nicht jetzt zum Wechsel des
Jahres könnte eine der Speiseplanzutaten probiert werden? Korken knallen,
die Stimmung ist lässig berauscht, gute Vorsätze für 2019 sprudeln nur so.
Angesichts der Daten und Prognosen für den Klimawandel, die Welternährung
und den Umweltschutz also einfach mal das Silvestermenü unter dem Motto
gestalten: Zurück in die Zukunft des Fleischgenusses – und Krabbeltiere zu
Köstlichkeiten herrichten.
Experten der Vereinten Nationen haben längst prognostiziert: In 30, 40
Jahren wird die traditionelle Tierzucht nicht mehr alle der dann neun
Milliarden ErdenbewohnerInnen mit tierischem Protein versorgen können.
Umdenken sei angesagt, denn etwa 2.100 Insektenarten gelten seit
Jahrhunderten als essbar und rund zwei Milliarden Menschen in 140 Ländern
würden das aktuell bereits nutzen. Zumeist nicht nur aus lukullischen,
sondern auch aus ökonomischen Gründen. Weil Fleisch nicht verfügbar oder zu
teuer ist.
In der Ethno-Küchenliteratur sind hübsche Alltagsbeispiele zu finden über
Käfer und Mücken, die sich todesmutig auf glühende Lampen stürzen, dann
frisch gegrillt auf einen darunter stehenden Teller fallen und von dort
sofort weggeknuspert werden. Gerade in Asien, Afrika und Mittelamerika, wo
dank des fehlenden Winters die Insekten ganzjährig besonders artenreich,
groß und vielzählig anzutreffen sind, gelten fliegende Kleintiere, Raupen
und Maden als Delikatessen.
Mexikaner streuen schon mal geröstete Ameisen als Croutons über den Salat.
Neben Insekten werden dort auch Riesenspinnen gegessen. In tropischen
Regionen liegen Larven des Rüsselkäfers auf Palmenteigpizzen. Aber auch in
antiquarischen deutschen Kochbüchern sind Rezepte für Maikäfersuppe zu
finden.
Heutzutage gilt: Bis zur Genehmigung nach der seit Januar 2018 geltenden
Novel-Food-Verordnung der EU ist der Verzehr von Insekten zwar nicht
zugelassen, aber gestattet. Schließlich sind sie reich an ungesättigten
Fettsäuren, Proteinen, Vitaminen, Mineral- und Ballaststoffen, auch eine
gute Quelle für Eisen und Zink, fast frei von Kohlehydraten und äußerst
fettarm. ErnährungswissenschaftlerInnen und inzwischen auch Start-ups zur
Insektenzucht hoffen, dass möglichst schnell möglichst viele Konsumenten
auf den Geschmack kommen.
Geworben wird für die Nischenprodukte erstmal in der Eventgastronomie. Food
Trucks reisen missionierend durchs Land. Präsentieren Hüpfer, Käfer,
Würmer, Wanzen, Schmetterlinge als exklusive Snack-Kultur mit dem
Distinktionsgewinn als Mehrwert. Holger Prüß fand das Angebot sofort
„cool“. Als Einkäufer der Rewe-Filiale an der Westerstraße in Bremen holte
er im Frühjahr 2018 sogleich fünf Produkte ins Sortiment. „Die Neustadt ist
nicht nur aufgrund der vielen Studenten sehr experimentierfreudig“, erklärt
er. „Zur Markteinführung gab es Medienrummel, eine Werbekampagne, das war
eine riesige Sache.“
Bald darauf standen sieben weitere Produkte deutscher Anbieter im Regal.
„Aber nach dem Hype flaute das Interesse wieder ab“, berichtet Filialleiter
Florian Gerke.„Der Umsatz mit den Insekten pendelte sich bei 800, 900 Euro
pro Monat ein und stagniert seither. Gekauft werden sie meist als Gag zum
Wochenende.“
Auch bundesweit ist kein Boom zu vermelden. Und ein kürzlich
veröffentlichter „Marktcheck“ der Bremer Verbraucherzentrale ergab, dass
nur zwei Supermärkte der Hansestadt entsprechende Waren führen. Die Skepsis
scheint zu überwiegen. Ein Speisetabu. Aber solche sind ja schon vielfach
überwunden worden: Es gibt Menschen, die lechzen nach Stierhoden,
Kalbshirn, Algen oder rohem Fisch auf Reisquadern.
Machen wir den Test. Kaufen Heuschrecke, Grille und Mehlwurm.
Gefriergetrocknet kommen sie in den Handel. Nun liegen sie auf meinem
Teller. Sehen lebensecht aus. Wie gerade erst gestorben. Ekelassoziationen
verhindern die Verköstigung. Sind das doch Tiere, die einen sonst beim
Picknick erschrecken, als Hygienegefahr, Infektionsquelle, Schädlinge
gelten und häufig tot in den dreckigsten Ecken des Hauses anzutreffen sind.
„Gerade die sollte man nicht essen, sie könnten im Gegensatz zu den
gezüchteten Speiseinsekten auch Keime und Parasiten enthalten“, so Prüß.
Auch für die Rohware gilt: vorm Hineinbeißen bitte erhitzten.
Also kurz mal in Butter durch die heiße Pfanne geschwenkt. Zurück auf den
Teller. Lecker sieht anders aus. Augen zu und rein mit der Heuschrecke in
den Mund. Hmmm. Schnurpst schön, hat diese Chips-Anmutung und punktet mit
nussigen Röstaromen. Mutig geworden können Würmer nun auch in Dips getunkt,
Grillen als Topping auf Frischkäse-Stullen angerichtet werden.
Auf die Vorbehalte haben Insektenfabrikanten bereits reagiert. Damit die
Tierchen ihre Verspeiser nicht mehr mit toten Augen angucken, kommen sie
seltener in originaler Gestalt in den Handel, sondern dehydriert und zu
Pulver zermahlen.
Ein Blick ins Rewe-Regal: In Gewürzmischungen ist zehn Prozent Grillenmehl
gemixt, ebenso viel einer Dinkelbrotmischung sowie dem Knäckebrot
zugesetzt. Im angebotenen Knuspermüsli befinden sich homöopathische vier
Prozent gemahlene Buffalowürmer, das sind Larven des
Getreideschimmelkäfers. Zusammen mit Soja, Rapsöl, Zwiebeln, Tomatenmark,
Senf, Salz und Gewürzen gibt es sie auch tiefgefroren in Form von
Burger-Pattys. Die Fusilli bestehen zu 18 Prozent aus diesen Krabblern,
aufs sinnliche Erlebnis hat das einen mandelig herben Effekt, auf die
Konsistenz der Pasta kaum Einfluss. Aber auf den Preis. 200 Gramm kosten
5,99 Euro.
Die Stiftung Warentest warnt allerdings: „Wer eine Allergie gegen
Hausstaubmilben oder Schalen- und Krustentiere hat, könnte auch eine
Kreuzallergie gegen Insekten entwickeln.“ Ansonsten gelten sie als gesund,
nahrhaft und umweltschonend. Benötigen wenig Platz, wenig Wasser, wachsen
schnell.
Für ein Kilo Rindfleisch brauche man 25 Kilogramm Futter, nur zwei für ein
Kilogramm Grillen, behaupten Hersteller. Außerdem seien Schweine für bis zu
hundertmal mehr Treibhausgase pro Kilogramm Wachstum verantwortlich als zum
Beispiel die Mehlwürmer. Hinzu kommt eine optimale Ausbeute der Ressourcen:
Der essbare Anteil von Insekten liegt laut Verbraucherzentrale bei 80 bis
100, für Rinder bei 40 Prozent. Farmen produzieren gerade in Asien und
Amerika bereits tonnenweise Gliederfüßler als Tierfutter. Für Menschen des
Westens bleibt Insekten-Essen weiter ein Trend-Thema, hat aber derzeit nur
für die Wagemutigen unter den Neugierigen auch Praxisfolgen. Vielleicht
kommen Silvester ja welche hinzu.
30 Dec 2018
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Silvester
Insekten
Ernährung
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Archäologie
Insekten
Schwerpunkt Klimawandel
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