| # taz.de -- Spitzel des BKA in Anis Amris Netzwerk: So nah dran | |
| > Der Islamist Anis Amri tötete zwölf Menschen, obwohl es viele V-Leute in | |
| > seinem Umfeld gab. Hätte der Anschlag verhindert werden können? | |
| Bild: Das Bild von der Rolle der Behörden im Fall Anis Amri zersplittert immer… | |
| Berlin taz | Es ist ein unscheinbares Wohnhaus im Berliner Stadtteil | |
| Charlottenburg, das die Seituna-Moschee beherbergt. Graue Fassade, der | |
| Gebetsraum im ersten Stock. Viele streng Gläubige kommen hierher. Im Jahr | |
| 2016 war darunter auch ein Gast, der später düstere Bekanntheit erlangte: | |
| Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz. | |
| Die Seituna-Moschee war der zweite religiöse Anlaufpunkt des Tunesiers – | |
| neben der Berliner Fussilet-Moschee, einem Treff radikaler Salafisten. | |
| Zuletzt, so rekonstruierten die Ermittler, war Amri am 28. Oktober 2016 | |
| dort, wenige Wochen vor dem Anschlag. An diesem Tag nimmt der 23-Jährige in | |
| der Moschee ein Foto einer Schreckschusswaffe samt Munition auf. Wenige | |
| Tage später dreht er, auf einer Brücke, ein Video von sich: das | |
| Bekennervideo, in dem Amri den Treueeid auf IS-Anführer al-Baghdadi | |
| leistet. | |
| Am 19. Dezember 2016 rast Amri schließlich [1][mit einem Lkw] in den | |
| Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz, tötet dabei elf | |
| Menschen. Den Lkw-Fahrer hatte er zuvor erschossen. Es ist der schwerste | |
| islamistische Anschlag in Deutschland bisher. | |
| Genau zwei Jahre ist die Tat nun her. Bis heute aber sind [2][viele Fragen | |
| dazu offen]. Mehr noch: Es kommen immer neue dazu. Denn die Behörden hatten | |
| Amri vor dem Anschlag nicht nur als Top-Gefährder auf dem Schirm, zuletzt | |
| wurden auch bekannt, dass sie gleich eine Reihe von V-Leuten in dessen | |
| Umfeld führten. | |
| ## Operation richtete sich erst gegen Denis Cuspert | |
| Nun räumt das Bundesinnenministerium in einem aktuellen vertraulichen | |
| Schreiben an den Untersuchungsausschuss im Bundestag zum Amri-Anschlag ein, | |
| dass auch das Bundeskriminalamt mindestens eine sogenannte Vertrauensperson | |
| (VP), also einen Spitzel, im Dunstkreis von Amri führte: nämlich in der | |
| Seituna-Moschee. Bei „durchgeführten VP-Einsätzen“ im Untersuchungszeitra… | |
| habe es „Bezüge zur Seituna-Moschee“ gegeben, heißt es in dem Schreiben, | |
| das die taz einsehen konnte. Gleich fünf V-Mann-Führer des BKA seien damit | |
| befasst gewesen. Geschehen sei dies in zwei verknüpften Verfahren namens | |
| „Lacrima“ und „Eisbär“. | |
| Diese Operationen richteten sich ursprünglich gegen den prominentesten | |
| deutschen Islamisten: Denis Cuspert alias Abu Talha al-Almani. Ein früherer | |
| Berliner Rapper, der für den „Islamischen Staat“ in den Krieg nach Syrien | |
| und dem Irak zog. Im Sommer 2015 stießen die Ermittler dabei auf eine | |
| Gruppe von sieben Tunesiern in Deutschland – einer hatte versucht, Cuspert | |
| anzurufen. Die Ermittler hielten auch sie für Terrorverdächtige. Und | |
| versuchten dies mit der Operation „Lacrima“ abzuklären. | |
| Schon Ende 2015 stellten die Polizisten fest, dass die Tunesier Kontakt zu | |
| einem weiteren Landsmann hatten: Anis Amri. Einer der sieben, Bilel Ben A., | |
| wird zu einem von Amris engsten Freunden. Bis zum Schluss hält er mit Amri | |
| Kontakt: Noch am Abend vor dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz sitzt er | |
| mit dem 23-Jährigen in einem Imbiss zusammen. Auf seinem Handy fanden | |
| Ermittler später Fotos des Breitscheidplatzes. Bis heute hält sich der | |
| Verdacht, dass Bilel Ben A. in den Terrorplan eingeweiht war. | |
| Wenn das BKA nun mit seiner „Lacrima“-Operation so nah an Amri dran war: | |
| Warum gelang es nicht, dessen Gefährlichkeit zu erkennen? Umso mehr, wenn | |
| offenbar ein V-Mann des BKA auch in der Seituna-Moschee verkehrte – die | |
| Amri ebenfalls regelmäßig besuchte? | |
| ## Vom Gefährder zum Drogendealer und zurück | |
| Dahinter steht, nun wieder, die große Frage: Waren die Sicherheitsbehörden | |
| doch näher an Amri dran, als bisher zugegeben? Hätten sie den Anschlag am | |
| Ende gar verhindern können? | |
| Als reine Zuständigkeit der Landeskriminalämter in Berlin und | |
| Nordrhein-Westfalen hatten die Sicherheitsbehörden den Fall Amri anfangs | |
| erklärt. Dort wurde der Tunesier, der zwischen beiden Ländern pendelte, | |
| bereits ab Februar 2016 als Gefährder geführt, also als jemand, dem | |
| jederzeit ein Anschlag zuzutrauen sei. Amris Observation aber ließen die | |
| Berliner im Sommer 2016 auslaufen, er erschien ihnen nur noch als | |
| Drogendealer. Dann verübte Amri das Attentat. | |
| Die Fehleinschätzung wird umso fataler, je mehr nun bekannt wird, wie viele | |
| Sicherheitsbehörden doch nah an Amri dran waren. Denn mit dem BKA-Spitzel | |
| sind es nun schon acht V-Leute, die sich in dessen Umfeld bewegten. | |
| Schon früh wurde V-Mann „Murat“ bekannt, ein Deutschtürke aus NRW, gefüh… | |
| vom dortigen LKA. Bereits im Frühjahr 2016 warnte er, Amri wolle in | |
| Deutschland „etwas machen“, er suche nach Kalaschnikows. Die Polizisten | |
| waren alarmiert. | |
| Auch das Berliner LKA hatte Spitzel in Amris Umfeld, gleich drei. Zwei aus | |
| dem Drogenmilieu, einer aus dem islamistischen. So räumte es LKA-Chef | |
| Christian Steiof jüngst ein. Ein V-Mann behauptete, Amri habe einen anderen | |
| Islamisten aus der Fussilet-Moschee, Feysal H., in seine Anschlagspläne | |
| eingeweiht. Jener Feysal H. war just wie Amri am Tag des Anschlags noch in | |
| der Fussilet-Moschee. Indes: Laut Steiof erzählte der Spitzel davon erst | |
| nach dem Anschlag. | |
| ## Amri war kein Einzeltäter | |
| Längst aber ist klar: Auch der Verfassungsschutz hatte seine V-Leute in der | |
| Nähe Amris – auch wenn der frühere Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen | |
| Amri als „reinen Polizeifall“ abtat. Das Bundesamt hatte seine Quelle | |
| ebenfalls in der Berliner Fussilet-Moschee. | |
| Die radikale Gebetsrunde war ein kleiner Zirkel, Amri machte hier teils den | |
| Vorbeter, übernachtete im Haus. Noch am Tag des Anschlags war er in der | |
| Moschee. Amri sei oft vor Ort gewesen, berichtete auch der V-Mann. Auch | |
| noch im November, als ihn die Polizei nur noch für einen Dealer hielt. Auch | |
| das Bundesamt indes beteuert, der Spitzel habe dies erst nach dem Anschlag | |
| mitgeteilt. | |
| Zu guter Letzt führte auch der Berliner Verfassungsschutz einen V-Mann in | |
| der Fussilet-Moschee. Noch Mitte Dezember 2016 soll er dort gewesen sein, | |
| am gleichen Tag wie Amri. Aber auch er gab an: Er habe den Tunesier nicht | |
| gekannt. | |
| Für Martina Renner, Linken-Obfrau im U-Ausschuss, war das Umfeld Amris „mit | |
| V-Männern durchsetzt“. „Es ist unglaubwürdig, wenn die Behörden von dies… | |
| keine Informationen über Amri bekommen haben.“ Und längst ist nicht | |
| ausgemacht, dass bereits alle V-Leute bekannt sind. Naheliegend wäre, dass | |
| die Behörden auch in den islamistischen Szenen in NRW und Hildesheim, wo | |
| sich Amri viel aufhielt, ihre Spitzel hatten. Wusste wirklich keiner von | |
| ihnen etwas von Amris Terrorplan? | |
| ## Auch BKA-V-Mann-Führer müssen vernommen werden | |
| Auch der FDP-Obmann Benjamin Strasser spricht von einem inzwischen „ganz | |
| neuen Bild im Fall Amri“. „Die Behörden hätten mehr wissen können, als s… | |
| bisher zugeben. Mir ist völlig schleierhaft, warum sie ihre gut platzierten | |
| Quellen nicht näher an Amri heranführten, obwohl sie ihn doch für so | |
| gefährlich hielten.“ | |
| Für den Untersuchungsausschuss im Bundestag ist das eine der zentralen | |
| Fragen. Die Bundesregierung indes mauert: Sie verweigerte dort bisher die | |
| Benennung der V-Leute und ihrer V-Mann-Führer in den Behörden – mit Verweis | |
| auf eine Gefahr für deren Leib und Leben. Vorherige Woche reichten FDP, | |
| Grüne und Linke deshalb Klage vorm Bundesverfassungsgericht ein: Sie wollen | |
| erzwingen, dass zumindest die V-Mann-Führer angehört werden. Es gehe hier | |
| um „Schlüsselzeugen“. FDP-Mann Strasser kritisiert die Blockade „als | |
| weniger im Quellenschutz begründet, als den Versuch der Behörden, ihre | |
| Verantwortung kleinzuhalten“. | |
| Auch vom BKA müssten nun die V-Mann-Führer vernommen werden, fordert | |
| Linken-Obfrau Martina Renner. Nach taz-Informationen hat sich das BKA dazu | |
| bereit erklärt – allerdings nur unter „allen zur Verfügung stehenden | |
| Schutz- und Verfremdungsmaßnahmen“. | |
| Auch eine andere Behauptung der Sicherheitsbehörden ist indes inzwischen | |
| abgeräumt: dass Amri ein Einzeltäter war. Erst vor wenigen Tagen berichtete | |
| die Bundesanwaltschaft, [3][dass der Tunesier schon im Sommer 2016] einen | |
| Sprengstoffanschlag plante, zusammen mit einem Franzosen und Tschetschenen, | |
| auch sie Fussilet-Besucher. Der Plan wurde vom Berliner LKA unwissentlich | |
| durchkreuzt – weil es den Tschetschenen für eine Gefährderansprache | |
| aufsuchte. Das zeigt, dass Anis Amri wohl kein grundsätzlicher Einzelgänger | |
| war, sondern dass er Gleichgesinnte sehr wohl in seine terroristischen | |
| Pläne eingeweiht hat. | |
| ## Jeden Tag neue, unglaubliche Einzeheiten | |
| Schon bekannt war, dass Amri vor der Tat mit einem „Mentor“, einem IS-Mann | |
| in Libyen, Chatkontakt hielt. Dieser bestärkte ihn, noch im Lkw schickte | |
| ihm Amri Nachrichten. Italienische Ermittler erklärten später, auch | |
| Mitstreiter aus der Fussilet-Moschee seien Teil der Terrorzelle gewesen. | |
| Das bewiesen abgehörte Telefonate. Deutsche Behörden widersprechen dem, die | |
| Italiener hätten die Gespräche falsch interpretiert. Aber: Zwei Wochen vor | |
| dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz verschwanden sechs | |
| Fussilet-Mitglieder Richtung Türkei. Wussten sie, dass es bald einen | |
| Anschlag geben würde? | |
| Für die Bundestagsaufklärer ist, zwei Jahre nach dem Anschlag auf dem | |
| Breitscheidplatz, nur noch eines klar: „Nichts ist, wie es scheint, und | |
| jeden Tag treten neue unglaubliche Einzelheiten zutage“, sagt die | |
| Grünen-Obfrau Irene Mihalic. Die Aufklärungsarbeit sei deshalb nötiger denn | |
| je. | |
| 19 Dec 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
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