# taz.de -- Wegweisender G20-Prozess in Hamburg: Dabei gewesen sein ist alles | |
> Reicht das Marschieren mit Gewaltbereiten, um für deren Taten verurteilt | |
> zu werden? Ein G20-Prozess in Hamburg klärt diese Frage. | |
Bild: Diesmal mit Polizei: Demonstration gegen den G20-Prozess in Hamburg | |
HAMBURG taz | Als die Angeklagten den Gerichtssaal betreten, gibt es | |
Standing Ovations aus dem durch eine Glasscheibe abgetrennten | |
Zuschauerraum, der bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Schüchtern winken | |
Halil K. (24) und Can N. (22), die sich seit Ende Juni in Hamburg in | |
Untersuchungshaft befinden, zurück in Richtung von Freunden und Verwandten, | |
die aus ihrer hessischen Heimat angereist sind. | |
Gegen Halil K., Can N. und die gerade erst volljährig gewordenen Roni S. | |
und Khashajar H. beginnt an diesem Dienstag vor der Jugendkammer des | |
Hamburger Landgerichts [1][ein Strafverfahren aus dem G20-Komplex, das – | |
egal wie es ausgeht – Rechtsgeschichte schreiben dürfte]. Die | |
Anklageschrift, die Staatsanwalt Tim Paschkowski vorträgt, offenbart warum. | |
Den vier Angeklagten wirft er vor, am 7. Juli 2017 während [2][des | |
Hamburger G20-Gipfels] an einem Aufmarsch von 220 größtenteils vermummten | |
und dunkel gekleideten Personen teilgenommen zu haben, aus dem heraus | |
zahlreiche Straftaten begangen wurden. Obwohl die zahlreichen | |
Videoaufnahmen, die als Beweismittel vorliegen, keinen Hinweis darauf | |
liefern, dass einer der vier jungen Männer eigenhändig Schaufensterscheiben | |
eingeworfen, Autos in Brand gesetzt oder Steine geschleudert habe. Allein | |
durch ihr Mitmarschieren hätten sie den Gewalttätern „psychische Beihilfe“ | |
geleistet. Somit sei ihnen jede einzelne aus der Menge begangene Straftat – | |
die insgesamt mehr als eine Million Euro Schaden verursacht haben sollen – | |
rechtlich zuzuordnen. | |
Für die Staatsanwaltschaft ist der Aufmarsch eindeutig keine Demonstration, | |
deren TeilnehmerInnen unter dem Schutz des Versammlungsrechts stehen. | |
Vielmehr habe es bei allen rund 220 TeilnehmerInnen „einen gemeinsamen | |
Tatentschluss“ gegeben, zu zerstören, also die Verabredung zu Straftaten. | |
Diese seien durch „gewollt arbeitsteiliges Zusammenwirken“ verübt worden. | |
Mit dieser Rechtsauslegung ordnen die Ankläger den Angeschuldigten nicht | |
nur alle Straftaten zu, die während ihrer physischen Teilnahme an dem Umzug | |
verübt wurden, sondern auch die, die geschahen, nachdem die vier den | |
Aufmarsch wohl bereits verlassen hatten. | |
## „Dimension der Taten“ | |
Was das nach ihrer Rechtsauslegung bedeutet, hat die Staatsanwaltschaft | |
bereits im Vorfeld deutlich gemacht: Als im Rahmen einer Entscheidung über | |
die Haftverschonung für die zwei älteren Beschuldigten die Jugendkammer die | |
vorläufige Rechtseinschätzung äußerte, die Angeklagten hätten mit | |
Haftstrafen von höchstens drei Jahren zu rechnen, reichte das den | |
Anklägern, die Ablehnung des Gerichts wegen Befangenheit zu beantragen. | |
Die Kammer habe, so die Ankläger, „die Dimension der Taten“ vollständig a… | |
den Augen verloren; angemessen sei bei vorläufiger Beweiswürdigung vielmehr | |
eine Strafe von sechs bis zehn Jahren Haft. Ohnehin kämpft die | |
Staatsanwaltschaft mit harten Bandagen: Sie lehnte nicht nur – erfolglos – | |
die Kammer ab, sondern beantragte auch – diesmal erfolgreich – die | |
Aufhebung der vom Gericht wegen der Komplexität und voraussichtlichen | |
Verfahrensdauer angeordneten Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers | |
pro Angeklagtem. | |
Die stark abweichende Rechtsauffassung der verbliebenen VerteidigerInnen | |
erläuterte in einem „open statement“ Anwältin Gabriele Heinecke. Die | |
Anklageschrift spreche selber von „mehreren gewaltbereiten Beteiligten“, | |
also nicht davon, dass alle Marschierer militant waren. Keinem der vier | |
hessischen Angeklagten werde „vorgeworfen, eigenhändig Straftaten begangen | |
zu haben“, vorliegende Videosequenzen gäben keinen Hinweis darauf, dass sie | |
die „Straftaten auch nur gebilligt“ hätten. | |
Zudem liefere das Videomaterial Hinweise darauf, dass sie die Demo schon | |
nach wenigen Minuten wieder verlassen hätten. Der Aufmarsch an der | |
Elbchaussee erfülle zudem – vom Transparent bis hin zur Formation – „alle | |
Attribute einer Demonstration“, stehe somit unter dem Schutz des | |
Versammlungsrechts, dass friedliche und unfriedliche TeilnehmerInnen genau | |
voneinander unterscheidet. | |
18 Dec 2018 | |
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## AUTOREN | |
Marco Carini | |
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