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# taz.de -- Juso-Chef über die SPD: „Wir müssen aggressiver auftreten“
> Kevin Kühnert gilt vielen in der SPD als Hoffnungsträger. Bei Fragen der
> Spaltung zwischen Basis und Spitze gibt sich der Juso-Chef
> kompromissbereit.
Bild: Erlebt als schwuler Mann noch heute Diskriminierung: Kevin Kühnert
taz: Herr Kühnert, in Frankreich [1][protestieren die Gelbwesten gegen die
Regierung]. Wo stehen Sie – auf der Seite von Präsident Macron oder auf der
des Protests?
Kevin Kühnert: Diese Frage ist mir zu schematisch.
Sympathien werden Sie doch haben?
Die Heilsversprechen von Macron haben das Leben der Menschen nicht
verbessert. Er hat den Arbeitsmarkt liberalisiert und
Arbeitsschutzstandards gesenkt – und wollte die Benzinsteuer erhöhen, was
normale Beschäftigte getroffen hätte. Protest dagegen ist natürlich
notwendig und hat meine Solidarität. Aber manche Gelbwesten wettern im
selben Atemzug gegen den UN-Migrationspakt, gegen Zuwanderung und gegen die
EU. Das delegitimiert den Protest noch nicht grundsätzlich, aber …
… ist Ihnen zu unordentlich?
Nein. Protest hat immer ein anarchisches Moment. Man muss sich ja nicht
erst bei einer Gewerkschaft oder Partei anmelden, um auf die Straße gehen
zu dürfen. Trotzdem fände ich gut, wenn die Gelbwesten einen Minimalkonsens
formulieren würden. Etwa: Hey, wir sind wütend. Aber Rassismus lassen wir
nicht zu.
Muss die SPD mehr auf linken Populismus setzen?
Wir müssen auf dem Feld von Verteilungsfragen und Sozialpolitik viel
aggressiver auftreten. Das ist mittlerweile auch in den meisten Köpfen der
SPD angekommen.
Mit Verlaub, davon merkt man von außen wenig.
Immer mehr Leute in der SPD sagen hinter vorgehaltener Hand, dass es im
Rahmen der Erneuerung natürlich nach links gehen muss. Wenn Sie Leute auf
der Straße fragen, ob Reiche stärker besteuert und so an der Finanzierung
der Gesellschaft beteiligt werden sollen, kriegen Sie Zustimmungsraten von
80 Prozent.
Hinter vorgehaltener Hand? Das nützt doch nichts, Herr Kühnert.
Sie sind jetzt wieder auf der taktischen Ebene. Natürlich wird das noch
viel lauter werden müssen. Aber die Verteilungspolitik allein ist nicht
mehr der entscheidende Kampf für die Sozialdemokratie. Die eigentlich
spaltende Frage haben Wagenknecht in Deutschland oder Mélenchon in
Frankreich aufgemacht. Wollen wir einen progressiven Populismus à la Nancy
Fraser, der Umverteilung und Minderheitenrechte nicht gegeneinander
ausspielt? Oder haben wir die Leute mit der gesellschaftspolitischen
Liberalisierung überfordert, war es zu viel Eheöffnung, Frauenrechte und
Migrations-Hurra?
Lassen Sie uns raten: Sie sind bei Nancy Fraser?
Ja. Ich finde das Konzept richtig, das Bernie Sanders in den USA vertritt.
Er hat die Stahlarbeiter im Rust Belt angesprochen ohne dabei zu verhehlen,
dass er sich für Minderheiten einsetzt und die Grenzen nicht dicht machen
will.
Nils Heisterhagen, ein Genosse von Ihnen, [2][hält linksliberale
Gesellschaftspolitik für ein Elitenkonzept]. Er argumentiert, die SPD müsse
sozialpolitisch linker und innenpolitisch härter werden.
Ich habe Heisterhagens Texte teilweise gelesen. Aber mir hat bis heute
keiner erklären können, warum beide Aspekte – Umverteilung und
Liberalisierung – im Widerspruch zueinander stehen. Das ist doch kein
Entweder-Oder!
Ist der Kampf für Gleichberechtigung nicht gewonnen? Homosexualität ist,
siehe Westerwelle, Wowereit oder von Beust, gesellschaftlich normalisiert
worden.
Falsch.
Falsch?
Homosexualität wird toleriert. Aber bei weitem nicht so akzeptiert, wie es
echte Gleichstellung erfordern würde.
Wieso?
Ich erlebe als schwuler Mann noch genügend diskriminierende Situationen.
Zum Beispiel darf ich wegen meiner sexuellen Orientierung kein Blut
spenden. Weil mir ein Lebenswandel unterstellt wird, der mich als Spender
disqualifiziert. Was stimmt ist, dass wir über solche Diskriminierungen
kaum noch reden.
Es gibt also eine latente Diskriminierung?
Es gibt den Pay Gap nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch
zwischen heterosexuellen und anderen Lebensweisen. Diskriminierungen werden
meist mit einem freundlichen Gesicht vorgetragen. Kramp-Karrenbauer
formuliert ihre Ablehnung der Ehe für alle ja konziliant. Zum Glück gelingt
heute mehr Jugendlichen ein lockeres Outing ohne Verwerfungen. Aber es gibt
bei queeren Jugendlichen immer noch erschreckend viele Selbstmorde. Viele
Tabus sind noch nicht überwunden.
Didier Eribon beschreibt in dem Buch [3][„Rückkehr nach Reims“], dass es in
der Pariser Elite kein Problem war, homosexuell zu sein, sehr wohl aber aus
einem Arbeiterhaushalt zu kommen. Die harte Grenze für sozialen Aufstieg
ist nicht mehr, einer Minderheit anzugehören, sondern aus der falschen
Klasse zu kommen. Einverstanden?
Klasse ist häufig ein großer Bremsklotz, einverstanden. Aber Eribon wurde
oft falsch interpretiert. Er plädiert für mehr Repräsentanz der
Arbeiterklasse und ihrer Interessen. Aber er sagt zu Recht auch, dass
Arbeiter homosexuelle und transsexuelle Kinder haben, Migranten sind oder
dass Arbeiterinnen Diskriminierung als Frauen kennen. Frauen- oder
Minderheitenrechte sind keine Themen, die erst ab 3.000 Euro netto im Monat
relevant werden.
Die Entfernung zwischen Regierungen und Regierten wächst in vielen
westlichen Demokratien. Die SPD setzt auf kleine Reparaturen im System.
Reicht das, um den Groll der Basis zu besänftigen?
Das ist ein schwer auflösbarer Konflikt. Bei vielen Menschen ist der
emotionale Dispo überzogen. Wer lange das Gefühl hat, die SPD baue sowieso
nur Mist, schaltet ab – und nimmt reale Verbesserungen nicht mehr zur
Kenntnis.
Andrea Nahles ist in der Partei sehr gut vernetzt, trotzdem hat sie sich im
Fall Maaßen [4][eine krasse Fehleinschätzung geleistet]. Warum?
Die Nöte der jeweiligen Rollen zu verstehen ist wichtig. Die Spitzenleute
haben den Koalitionsvertrag verhandelt, sind tief in Themen drin und
addieren im Kopf, welche Erfolge noch kommen. Dieses Jahr gleiche
Krankenkassenbeiträge für Beschäftigte und Arbeitgeber, nächstes Jahr die
Grundrente und die Bildungsinvestitionen für die Kommunen. Die Perspektive
vieler Mitglieder ist eine ganz andere. Die kriegen Zuhause im Sportverein
nur negatives Feedback, im Sinne von: Mensch, eure Leute da oben sind schon
wieder eingeknickt. Beide Perspektiven haben eine Berechtigung und müssen
in Übereinstimmung gebracht werden.
Ende 2019 will die SPD eine Halbzeitbilanz der Groko ziehen. Rechnen Sie
damit, dass Ihre Partei die Koalition verlässt?
Das kann ich heute nicht abschätzen, vielleicht bricht das Bündnis ja auch
schon davor. Viel hängt von den nächsten Monaten ab. Wie wirkt sich der
Führungswechsel in der Union aus? Wie weit muss Kramp-Karrenbauer den
Merz-Leuten entgegenkommen?
Sie waren [5][von Beginn an gegen die Groko], die die SPD nun in den
Abgrund zieht. Hätten Sie militanter auftreten müssen?
Nö. Wieso?
Sie haben auf dem Bonner Sonderparteitag, als es um die Aufnahme von
Koalitionsverhandlungen ging, eine moderate Rede gehalten. Mit einer harten
Ansage hätten Sie vielleicht gewonnen.
Ich kenne meine Partei ganz gut und weiß, wann ich wie auftrete, um meine
Überzeugungen bestmöglich zu vertreten. Wäre ich in Bonn krawalliger
aufgetreten, hätten wir weniger Zustimmung für unser Anliegen bekommen.
Echt? Die Entscheidung für die Groko auf dem Parteitag war knapp.
Ich musste ja nicht die überzeugten Groko-Gegner mit den roten Zipfelmützen
für mich gewinnen, sondern die zweifelnden Delegierten. Die, die wissen
wollten, wie es danach weitergeht. Außerdem: Wir als Jusos hatten kein
Interesse daran, dass der Laden nach der Entscheidung implodiert.
Trotzdem haben wir das Gefühl, dass Sie ein zahmer Rebell sind. „Diese
GroKo ist final erledigt“, [6][twitterten Sie nach der Hessen-Wahl]. Aber
Taten lassen Sie nicht folgen, oder?
Die Haltung der Jusos zur Groko ist bekannt. Wir haben sehr grundsätzlich
argumentiert, warum wir die Koalition für nicht sinnvoll halten – auch
wegen demokratietheoretischer Aspekte. Es bringt doch aber nichts, wenn ich
jeden Montag ein Facebook-Bild poste, auf dem steht, wir sind immer noch
dagegen.
Weil Sie damit falsche Erwartungen wecken würden?
Klar. Wir Jusos sind für viele zu einem Fixpunkt einer politischen Kultur
geworden, die sich mehr traut und zuspitzt. Und unsere Position ist
unverändert. Aber ich weiß auch, dass es keine unmittelbaren Auswirkungen
hat, wenn ich ständig das Ende der Groko fordere. Wir müssen dann
attackieren, wenn die Attacke angebracht und erfolgsversprechend ist. Sonst
benebeln wir die Leute mit Illusionen.
Viele in der SPD projizieren Hoffnungen auf sie. Belastet Sie das manchmal?
Einerseits fühle ich mich wie jeder Mensch geschmeichelt, wenn mir jemand
sagt, ich mache meine Sache gut. Gleichzeitig geht mir alles etwas schnell
und zu oberflächlich. Ich bin jetzt seit einem Jahr Juso-Chef. Und nur,
weil ich ab und zu sinnvolle Sachen sage, qualifiziert mich das noch nicht
automatisch für ein Spitzenamt.
Bayerns SPD-Fraktionschef Horst Arnold hat [7][Sie als Parteichef
vorgeschlagen].
Ja, mit einer spannenden Begründung. Ich hätte die Debatte über die Groko
hingekriegt, ohne dass Verletzungen zurückgeblieben seien. Aber das allein
ist ja noch keine Qualifikation für den Parteivorsitz. Diskutieren ohne zu
verletzen können ziemlich viele SPD-Mitglieder.
Ein Journalist hat geschrieben: „Je dunkler es um die SPD wird, desto
heller strahlt Kühnert.“ Empfinden Sie das als gefährlich?
Gefährlich?
Erinnert ein bisschen an [8][Martin Schulz].
Aber die These ist dünn. Ich bin bewusst in eine Partei eingetreten. Der
Ort, wo ich Politik machen will, ist eine große Kollektivorganisation. Auf
dem Zettel steht SPD – und nicht Kevin Kühnert.
Aber Personal entscheidet heute Wahlen.
Die SPD hat auch andere Erfahrungen gemacht. Frank-Walter Steinmeier und
Peer Steinbrück hatten in ihren Bundestagswahlkämpfen gute
Beliebtheitswerte. Trotzdem fuhren sie für die SPD keine grandiosen
Ergebnisse ein. Die Leute verstehen schon, dass wir ein komplexer Apparat
sind. Und dass einer allein nicht alles vom Kopf auf die Füße stellen kann.
Nervt es Sie, dass Sie auf der Straße erkannt werden?
Wenn ich in Eile bin, erwische ich mich dabei, dass ich den Kopf nach unten
halte. Damit mich möglichst keiner anspricht und ich meinen Zug erwische
oder so. Ich bin ganz schlecht darin, Leute stehen zu lassen. Aber ich sehe
die Bekanntheit eher als Privileg. Es ist toll, im ICE oder sonstwo
ungefiltertes Feedback für meine Arbeit zu kriegen.
Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?
Ich mache keine Karriereplanung. Die SPD ist im Moment eine
14-Prozent-Partei. Wer seine Karriereplanung darauf aufbaut, hat den Schuss
nicht gehört.
Jetzt machen Sie sich klein. Sie werden doch auf dem kommenden
SPD-Parteitag kandidieren, oder?
Ja, ich werde auf dem nächsten Parteitag für ein Amt kandidieren. Aber für
welches, da habe ich noch keine Idee. Ich will erst schauen, wie der
Erneuerungsprozess vorankommt. Wichtig finde ich, dass für den Vorstand
mehrere Menschen antreten, die eine bestimmte Agenda unterstützen …
Was für Punkte meinen Sie?
Die ließen sich leicht entwerfen. Sie müssten zum Beispiel sagen: Wir heben
unsere Hand im SPD-Vorstand nur für verteilungspolitische Projekte, die die
Schere zwischen Arm und Reich schließen. Es geht auch um Machtfragen – und
darum, Mehrheiten im Vorstand zu ermöglichen.
Traut die SPD sich, sich mit den Eliten anzulegen? Sie haben mal gesagt,
SPDler würden nervös, wenn Welt-Chef Ulf Poschardt einen bösen Kommentar
schreibt.
Stimmt leider. Danach hat mich übrigens Ulf Poschardt gefragt, ob wir uns
mal zum Mittagessen treffen sollen.
So fängt es an. Sie haben doch schon eine Kolumne im Handelsblatt.
Eine unbezahlte Kolumne, wie ich betonen möchte.
Wie verdienen Sie eigentlich Ihr Geld?
Ich arbeite für ein Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus.
Arbeiten Sie da wirklich? Ihr Job als Juso-Chef ist doch recht aufreibend.
Es ist natürlich nur ein Teilzeit-Job. Und, da rollen viele mit den Augen,
es ist ein Politik-Job. Aber anders geht es nicht. Meine Chefin hat
Verständnis, wenn ich kurzfristig eine Stunde in einer Telefonkonferenz
hängen muss – und dafür abends länger bleibe.
Wäre es nicht ehrlicher, das Amt als Juso-Chef zu bezahlen?
Das ist eine grundsätzliche Frage. Bei uns ist das politische Amt ein
Ehrenamt, auch wenn der Aufwand natürlich vom Verband getragen wird. Für
mich ist das kein Problem, ich bin kein sonderlich anspruchsvoller Mensch.
Aber ich sehe mit Sorge, dass mein Amt für bestimmte Gruppen junger
Menschen nicht leistbar ist. Wer eine Ausbildung macht, kann nebenher
keinen Verband mit 80.000 Mitgliedern leiten.
Blüht Ihnen eigentlich auch die typische Funktionärskarriere? Schröder und
Nahles waren früher Juso-Vorsitzende.
Diese Beispiele stecken tief in den Köpfen drin, weil sie jeder kennt. Aber
seit dem Zweiten Weltkrieg gab es gut zwei Dutzend Juso-Vorsitzende, und
viele sind nicht mehr im Politikbetrieb. Von links unten nach rechts oben,
das ist mir zu einfach. Fragen Sie mich in ein paar Jahren nochmal.
17 Dec 2018
## LINKS
[1] /Protest-in-Frankreich/!5556632
[2] /Gastkommentar-zur-Sozialdemokratie/!5524515
[3] /Theaterfassung-Rueckkehr-nach-Reims/!5447872
[4] /SPD-Vize-ueber-Maassen-Entscheidung/!5534738
[5] /Politikstil-von-Kevin-Kuehnert/!5485735
[6] https://twitter.com/KuehniKev/status/1056803638159511552
[7] /Kolumne-Schlagloch/!5553359
[8] /Nach-dem-Amtsverzicht-von-Martin-Schulz/!5481030
## AUTOREN
Stefan Reinecke
Ulrich Schulte
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