# taz.de -- Kolumne Schlagloch: Her mit dem Zukunftsstaat! | |
> Wenn die Jusos die alte Garde der SPD ablösen wollen, müssen sie viel | |
> radikaler denken. Hier schon mal ein paar Vorschläge. | |
Bild: Die radikale Pose stimmt schon mal: die Nachwuchshoffnung der SPD in Akti… | |
Unmut brodelte. Der radikale Flügel wollte die Koalition mit der | |
bürgerlichen Mitte beenden. Da trat der Vorsitzende ans Pult. Er war | |
heiser. Es sei nun einmal so, sagte er, in einer Koalition könne man | |
lupenrein Sozialistisches eben nicht durchsetzen. Und es sei nun einmal | |
auch so, dass die Fraktion das Gesetz zur Einführung der Prügelstrafe nicht | |
habe verhindern können. Aber solle man dafür die gestaltende Mitwirkung auf | |
so vielen anderen Feldern aufgeben? | |
Schließlich, so schloss der Vorsitzende seine Rede, wäre das Gesetz auf | |
jeden Fall beschlossen worden. „Aber Genossen, dank der konstruktiven | |
Mitarbeit unserer Partei haben wir, wenn auch mit der Faust in der Tasche, | |
die Zahl der Prügel von fünfundzwanzig auf zwanzig herabgedrückt. Und die | |
freie Arztwahl. Das ist der Erfolg kluger, leidenschaftsloser, | |
weitblickender Realpolitik.“ Die Szene stammt aus Felix Riemkastens Roman | |
„Der Bonze“ von 1930. Der Autor hatte sich von der Partei abgewandt, deren | |
Führer in einer Zeit, in der es ums Ganze ging, gemäß der Parole handelte: | |
Mit uns wird es nur langsam schlimmer. | |
Das böse Buch fiel mir ein, als ich Andrea Nahles' poltrige Warnung auf dem | |
Jusokongress hörte. Die Vorsitzende verbat sich [1][Grundsatzkritik an der | |
GroKo]. Uneinigkeit führe zur Spaltung. Es klang fast ein wenig drohend. | |
Die Forderung des Juso-Chefs Kevin Kühnert nach einem Parteitag Anfang | |
2019, um über den Fortbestand der Koalition zu entscheiden, war vom | |
SPD-Vorstand abgeschmettert worden; umso kräftiger klang jetzt seine | |
Ankündigung, die nachrückende Generation werde im Herbst Vorstandssitze und | |
Richtungskompetenz beanspruchen. | |
Nur, für welches Programm? Die Partei, konzedierte der Rebell, habe keine | |
Antwort auf die großen Fragen. Doch seine Beispiele für eine | |
sozialdemokratischere Politik – der Kampf für die Dieselbesitzer und gegen | |
das transnationale Steuerdumping – waren erstaunlich kompatibel mit dem | |
Mainstream der Mitte. | |
## Es geht um Systemwechsel | |
Aber wir leben in einer Epoche, in der es mit dem Drehen an kleinen und | |
mittelgroßen Rädern nicht mehr getan ist angesichts der Megakrisen Klima, | |
Digitalisierung, Naturzerstörung, Pflegenotstand, Europazerfall, | |
Ungleichheit und Migration. Probleme, über die an den Abendbrottischen wie | |
in den Leitartikeln mehr als nur eine Ahnung davon herrscht, dass sie alle | |
miteinander und auf ungute Weise mit dem Kapitalismus zusammenhängen. | |
„Die revolutionärste Tat“ besteht laut Rosa Luxemburg darin, zunächst | |
einmal „laut zu sagen, was ist“. Und wenn die Jusos eine [2][wirkliche | |
Erneuerung der Partei] wollen, dann dürfen sie nicht unterhalb der Ahnung | |
ansetzen, die sich, so glaube ich, bei der Mehrheit der Bürger verstetigt | |
hat: Wenn Demokratie und europäische Lebensweise bewahrt werden sollen, | |
dann reichen ein paar Prozente hier, ein paar Milliarden dort nicht mehr, | |
dann geht es um Systemwechsel. | |
Die Jusos, wenn sie den Kurs der Partei wenden wollen, täten gut daran, bis | |
zum Herbst über strukturelle Veränderungen von Institutionen und über | |
„systemüberwindende Reformen“ nachzudenken. Ein paar willkürlich gegriffe… | |
Überlegungen nur zur Anregung: | |
Die sozialdemokratische Antwort auf die Digitalisierung ist nicht die | |
Alimentierung der Überflüssigen durch ein Grundeinkommen, sondern eine | |
allgemeine Verkürzung der Normalarbeitszeit. Pflege und Gesundheitswesen | |
müssen der Gewinnorientierung entzogen und wieder zur öffentlichen Aufgabe | |
werden. Die Privatisierung von Sozialwohnungen und Infrastrukturen muss | |
verboten oder rückgängig gemacht, Bodenpreise, Pachtzins und Mieten | |
gedeckelt werden. Die Spaltung in verwahrlosende öffentliche Schulen für | |
die vielen und staatlich subventionierte, privat betriebene Bildungsoasen | |
für die wenigen muss gestoppt werden. Mit einer 0,5prozentigen Steuer auf | |
Vermögen könnte die Zahl der Lehrer auf das Niveau von Finnland gebracht | |
werden. | |
## Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert | |
Kommunaler Wohnungsbau, Bodenrechtsreform, Agrarwende, Bildungsexpansion, | |
Öffentlicher Nahverkehr – das wären „systemüberwindende Reformen“, die | |
alles, was ein gutes Leben sichert, dem Markt entziehen würden. Den | |
„Zukunftsstaat“ schaffen, so hieß Bebels Parole zu Beginn des 20. | |
Jahrhunderts. | |
Zukunftsstaat – das ist ein schönes Wort, das auch heute wieder | |
verheißungsvoll klingen kann, denn, wenn nicht alles täuscht, schwindet die | |
Neigung, den Öffentlichen Sektor zu verunglimpfen, und die Idee, dass | |
„Staat eine Kraft des Guten“ sein kann (Thomas Friedman), gewinnt an Boden. | |
Aber ein Bebel des 21. Jahrhunderts wird noch gesucht. Kevin allein wird es | |
nicht richten, auch wenn der bayerische SPD-Fraktionschef Horst Arnold ihn | |
schon als neuen Parteichef vorschlägt. | |
Eine Programmskizze müsste nicht nur mit Finanzierungsideen gepaart sein. | |
Sie müsste auch den härtesten Grund für das anhaltende Einverständnis mit | |
unhaltbaren Zuständen angehen. Insgeheim, davon bin ich überzeugt, wissen | |
alle: Diese Zustände wären nur zu ändern, wenn wir im „Westen“ unsere | |
„imperiale Lebensweise“ radikal ändern. Und das heißt: Verzicht. | |
Offenbar aber hält die parlamentarische Klasse ein Leben ohne Easyjet und | |
Nackensteaks für drei Euro bei ihren Wählern nicht für mehrheitsfähig. | |
Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert: das wäre der Versuch, die Erfahrung zu | |
widerlegen, dass Institutionen und Mentalitäten sich nur nach Katastrophen | |
oder Kriegen umbauen lassen. Dagegen steht Bertolt Brechts Einsicht, dass | |
Umwälzungen nur in Sackgassen stattfinden. | |
Felix Riemkasten übrigens ging zunächst in die „Innere Emigration“, schri… | |
Jugendbücher und wurde nach l945 Yogalehrer. | |
5 Dec 2018 | |
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## AUTOREN | |
Mathias Greffrath | |
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