# taz.de -- Politikstil von Kevin Kühnert: Die neue Sachlichkeit | |
> Der Juso-Chef liefert den Gegenbeweis dafür, dass man heutzutage nur mit | |
> Populismus erfolgreich sein kann. Er war drei Wochen auf NoGroko-Tour. | |
Bild: Hier kommt die neue Sachlichkeit | |
BERLIN taz | Es gibt ein Wort, mit dem Kevin Kühnert sich selbst | |
beschreibt: unprätentiös. Und es gibt Wörter, mit denen ihn Menschen | |
beschreiben, die den Juso-Chef schon lange kennen: redlich, bescheiden, | |
nicht eingebildet. Es sind, laut Duden, alles Synonyme füreinander. Zum | |
polarisierenden Rebellen jedenfalls taugt Kühnert nicht: keine Eitelkeiten, | |
keine ideologisch aufgeladenen Reden, keine Poltereien. Stattdessen: | |
Kurzhaarfrisur, stets sachliche Argumente und integrative Signale an alle | |
in der Partei, die anderer Meinung sind. | |
Und dennoch: Kevin Kühnert ist zum Symbol des Ringens der Sozialdemokratie | |
geworden. Wie fundamental soll man sich erneuern? Was wünschen sich die | |
Menschen in Deutschland von der SPD, wofür wird sie noch gebraucht? Wo soll | |
man sich politisch verorten? Kühnert und seine Jusos haben sich | |
entschieden: weiter links. | |
In den vergangenen Wochen ist Kevin Kühnert durch die Republik gezogen, um | |
die Neuauflage der Großen Koalition zu verhindern. In Hamburg, Leipzig und | |
München ist er aufgetreten, in Pirna, Soest und Bad Schwartau, an 24 Orten. | |
Er hat mit Genoss*innen gerungen und versucht, sie zu einem Nein beim | |
[1][Mitgliederentscheid] zu bewegen, der noch bis zum 2. März läuft. Ob | |
Kühnert damit Erfolg hat, entscheidet sich am Sonntag, gänzlich | |
unrealistisch ist es nicht. Wie es dann in der Partei weiterginge, ob | |
Kühnert damit Nahles und Scholz gestürzt hätte, will er nicht prophezeien. | |
Er sagt nur: „Für eine Erneuerung muss nicht das ganze Personal | |
ausgetauscht werden.“ | |
Die dritte Station seiner NoGroko-Tour Mitte Februar ist die | |
Dersim-Kulturgemeinde in Berlin-Kreuzberg. Als Kühnert ankommt, sind seine | |
Hände tief in den Jackentaschen vergraben, den Schal hat er mehrfach um den | |
Hals gewickelt, fast bis zur Oberlippe. Er registriert das Rudel | |
Journalist*innen, das sich am Eingang postiert hat, geht aber mit kurzen | |
schnellen Schritten daran vorbei. Die Moderatorin des Abends lobt ihn | |
überschwänglich, als er neben ihr Platz nimmt, sagt, bei diesem Gast könne | |
sie den Andrang natürlich verstehen. Kühnerts Wangen färben sich rot. Dass | |
er wie ein Star präsentiert wird, ist nichts, an das er sich schon gewöhnt | |
hat. | |
## „Ein Nein ist kein Selbstzweck“ | |
Wenn er zu reden beginnt, verfliegt diese Spur von Schüchternheit aber | |
prompt. Dann bewegt er sich auf dem sicheren Boden, den er vor einigen | |
Wochen aufgeschüttet hat: die Nachteile und die Folgen einer Großen | |
Koalition auflisten. Dass sie die Parteien zu ähnlich mache, dass sie nicht | |
die großen Fragen denke, sondern sich in Details verliere, dass eine | |
progressive, aber auch vertrauenswürdige Zusammenarbeit mit der Union nicht | |
möglich sei. Zahlreiche Kommissionen und mehr als 100 Prüfaufträge enthalte | |
der Koalitionsvertrag anstelle konkreter Politikvorschläge: „Das sind | |
vorprogrammierte Enttäuschungen.“ Aber was ist die Alternative?, wird er | |
oft gefragt, „Wenn wir jetzt mit Nein stimmen, zerstören wir uns doch | |
komplett“, sagt ein älterer Mann im Publikum. „Ein Nein ist kein | |
Selbstzweck“, antwortet Kühnert, „es wird keine Automatismen geben, wir | |
müssen dann alle weitermachen. Aber lasst eure Entscheidung nicht von Angst | |
leiten.“ | |
Kühnert ist 28 Jahre alt, er wurde im Sommer vor der Wende in Berlin | |
geboren. Am Rande der geeinten Hauptstadt wächst er auf, die Eltern | |
arbeiten als Beamte. Mit 15 Jahren tritt er in die SPD ein, nach dem Abitur | |
beginnt er ein Politikstudium, das er mittlerweile an der Fernuni Hagen | |
fortsetzt. Daneben arbeitet er für die Berliner Abgeordnete Melanie | |
Kühnemann. Erst Ende November wird er zum Juso-Vorsitzenden gewählt, heute | |
ist er berühmt. | |
Wieder ein kalter Abend in Berlin, diesmal Ende Februar. Auch die | |
SPD-Führung ist jetzt auf Tour, wirbt auf Regionalkonferenzen für die | |
Groko. In einer Mehrzweckhalle in Berlin-Hellersdorf steht Kevin Kühnert am | |
Rednerpult. Die linke Hand liegt ruhig darauf, die rechte hat er in eine | |
Tasche der dunkelblauen Jeans geschoben. | |
„Warum will die SPD zum wiederholten Mal gegen dieselbe Wand laufen?“, | |
fragt er in den vollen Raum. „Das gibt doch Kopfschmerzen.“ Die SPD habe | |
längst die Erfahrung gemacht, dass auch Beschlüsse, die in einem | |
Koalitionsvertrag stehen, nicht zwangsläufig umgesetzt werden, wie das | |
Recht der Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit. Er lasse sich auch | |
SPD-Altschulden nicht plötzlich als Erfolge verkaufen, etwa die Rückkehr | |
zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung. Und allem voran: | |
Nichts habe sich an der Situation geändert, über die sich am 24. September | |
alle einig gewesen seien: dass die Große Koalition abgewählt wurde. Er sei | |
einfach nur bei genau dieser Position geblieben, während andere Angst | |
bekommen hätten. | |
Wenn Fragen aus dem Publikum kommen, macht er sich Notizen. Wenn die Runde | |
vorbei ist, sagt er: „Das würde ich jetzt unter den Obergriff ‚Erneuerung | |
der SPD‘ fassen.“ Kühnert sucht nach Überschriften für seine Antworten, … | |
will systematisch und strukturiert sprechen, sich nicht hinreißen lassen zu | |
unüberlegten oder unsachlichen Äußerungen, die ihm tatsächlich nie über die | |
Lippen kommen. „Kevins Argumentation ist immer auf Augenhöhe, stets | |
inhaltlich und wird niemals persönlich“, sagt die Berliner Juso-Chefin | |
Annika Klose. „Er polarisiert nicht, weil er Menschen nicht angreift.“ | |
## Ein erträglicher Rebell | |
Er ist die Art von Rebell, die man in Deutschland gerade noch erträgt, weil | |
sie nicht zu viel Toleranz und Anpassungsbereitschaft verlangt. Da will | |
einer nicht die große umstürzende Veränderung, sondern eine in den | |
bestehenden Strukturen. Keine Träume oder allzu idealistische | |
Vorstellungen treiben ihn, sondern der schlichte Wunsch, dass es in der | |
Gesellschaft gerechter zugeht. Und nicht zuletzt, dass es seine Partei in | |
vier Jahren noch gibt. Niemand, über den man sagen könnte: „Ach, diese | |
jungen Leute mit ihren dollen Fantasien!“ | |
Auch in Berlin-Hellersdorf mahnt der Juso-Chef zur Verhältnismäßigkeit: | |
„Wir dürfen den Koalitionsvertrag nicht für die Lücken kritisieren, die wir | |
in unserem eigenen Wahlprogramm gelassen haben. Das geht nicht, wenn man | |
ein so mut- und kraftloses Programm anbietet.“ | |
Kühnerts größte Stärke ist seine Authentizität. Doch weiß er sicherlich | |
auch, dass man mit allzu abseitigen Positionen schnell wieder im ohnehin | |
schon mit reichlich SPD-Genoss*innen bevölkerten Nirwana verschwindet. Oder | |
zumindest in einer Schublade. Also verzichtet er darauf. | |
Schnell hat er sich eingefügt in den Berliner Politik- und Medienbetrieb, | |
er macht das, was man machen muss, wenn man für seine Sache werben will. Er | |
gibt Interviews, sitzt Markus Lanz gegenüber, einen Schuh auf dem Knie | |
liegend, er twittert frohgemut mit Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer | |
und hat einen Pressesprecher, der die „endlosen“ Anfragen organisiert. Das | |
ist niemand, der das System als solches verändern möchte, sondern jemand, | |
der es schnell begriffen hat. Ein Typ, aber einer, den man bereits fertig | |
ins Regal stellen kann. | |
## Auf dem Weg nach oben | |
Immer wieder betont Kühnert, ein Nein zur Groko sei kein Selbstzweck, es | |
komme auf das an, was die Sozialdemokratie im Anschluss daraus mache. | |
Sollte es zu einer Minderheitsregierung kommen, müsse sich die Partei in | |
der Opposition erneuern, strukturell, personell, aber vor allem inhaltlich. | |
Welche Rolle er selbst dabei spielen oder auch im Falle eines Ja zur Groko | |
übernehmen würde, will er nicht mutmaßen. „Ich bleibe natürlich Juso-Chef… | |
sagt er nur. | |
Doch wenn auch der Parteivorstand es mit einer Erneuerung ernst meint, | |
kommt er um Kühnert nicht herum. Malu Dreyer und Sigmar Gabriel haben sich | |
im Spiegel bereits dafür ausgesprochen, Kühnert stärker einzubinden, egal | |
wie das Mitgliedervotum ausgeht. Er selbst sagt: „Wenn ich am Ende eine | |
kleine Fußnote in der Geschichte der SPD bin, bin ich zufrieden“. | |
Mehr als eine Stunde beantwortet Kühnert an dem Abend in Berlin-Hellersdorf | |
die Fragen der Journalist*innen. Ob er noch Freizeit habe? „Um ins Kino | |
zu gehen, reicht es nicht“, ob er auf der Straße erkannt werde? „Ja, | |
schon“, wie er sich selbst beschreiben würde? Na klar: „Unprätentiös“.… | |
geht er mit kurzen federnden Schritten zu seinen Jusos, um mit ihnen | |
Selfies zu machen. | |
28 Feb 2018 | |
## LINKS | |
[1] /SPD-Basis-stimmt-ueber-Groko-Vertrag-ab/!5483918 | |
## AUTOREN | |
Hanna Voß | |
## TAGS | |
Kevin Kühnert | |
SPD | |
Jusos | |
NoGroko | |
Kevin Kühnert | |
SPD | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
SPD-Basis | |
SPD | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kommentar SPD für neue GroKo: „Ja“ aus Angst | |
Nicht die Lust zu regieren hat beim SPD-Votum den Ausschlag gegeben – | |
sondern die Befürchtung, bei Neuwahlen schwächer zu sein als die AfD. | |
Mitgliederentscheid der SPD: Kopf über Herz | |
Als Generalsekretärin der SPD Baden-Württemberg kämpfte Luisa Boos in den | |
letzten Wochen für die Groko – an die sie gar nicht glaubt. Was treibt sie | |
an? | |
SPD-Basis stimmt über Groko-Vertrag ab: Das Prinzip Hoffnung | |
Für die SPD-Spitze geht es beim Basisvotum um viel. Eine Reise in eine | |
Partei, in der die da oben die da unten nicht verstehen. | |
NoGroko-Tour durch Deutschland: Hunderte kommen zu Kühnert | |
Juso-Chef Kevin Kühnert macht während seiner Tour auch Station in Berlin. | |
In Kreuzberg argumentiert er energisch, bleibt aber sachlich. | |
Die SPD im Konflikt um die Groko: Erneuerung, schon wieder | |
Über den Koalitionsvertrag stimmt wohl bald die SPD-Basis ab. Es könnte | |
knapp werden, auch weil die Jusos so stark sind. |