| # taz.de -- Mitgliederentscheid der SPD: Kopf über Herz | |
| > Als Generalsekretärin der SPD Baden-Württemberg kämpfte Luisa Boos in den | |
| > letzten Wochen für die Groko – an die sie gar nicht glaubt. Was treibt | |
| > sie an? | |
| Bild: Luisa Boos zwischen Kopf und Herz | |
| Es ist Sonntag, der 21. Januar, graues Wetter im noch graueren Bonn. Die | |
| SPD hält zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen einen Bundesparteitag ab. | |
| Er besteht im Grunde aus einer einzigen, quälenden Debatte: Groko – ja oder | |
| nein? Um 13.43 Uhr zeigt die Liveübertragung, wie eine junge Frau ans | |
| Rednerpult tritt, dunkler Blazer, helle Strähnchen. Luisa Boos spricht ins | |
| dunkle Nichts des Saals: „Wisst ihr eigentlich noch, was ihr in eurer | |
| Kindheit abends nach dem Zubettbringen gemacht habt?“ | |
| Die Gesichter der Delegierten, die die Kamera einfängt, sind müde. Aber sie | |
| verändern sich, als Boos von der Sache mit dem Telefon erzählt. Das Telefon | |
| stand vor der Tür des Kinderzimmers, und hinter der Tür lag Luisa im Bett | |
| und lauschte dem Weinen der Erwachsenen, die jeden Abend versuchten, die im | |
| Bosnienkrieg festsitzenden Verwandten zu erreichen. „Ich weiß, wie es sich | |
| anfühlt, wenn Familien auseinandergerissen werden“, sagt Luisa Boos, 33 | |
| Jahre alt, bei Freiburg aufgewachsene Enkelin jugoslawischer Gastarbeiter | |
| und heute Generalsekretärin der SPD in Baden-Württemberg. Applaus setzt | |
| ein, als sie fortfährt: „Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten | |
| sollten die Begrenzung der Familienzusammenführung auf 1.000 Personen nicht | |
| mittragen.“ | |
| Zu diesem Zeitpunkt ist längst abzusehen, dass die 1.000er Grenze beim | |
| Familiennachzug in einem möglicherweise kommenden Koalitionsvertrag stehen | |
| wird. Aber als Luisa Boos, langjährige Juso-Frontfrau und ausgewiesene | |
| Parteilinke, keine zwei Minuten später ihre Rede mit „Unsere Werte lassen | |
| wir uns nicht wie Butter vom Brot nehmen“ beendet, ist das kein Votum gegen | |
| die Groko. Es ist eines dafür. Eine Vernunftentscheidung für das kleinere | |
| Übel; Kopf über Herz. Luisa ist das Herz. Die Generalsekretärin der Kopf. | |
| Und ihre Partei ist jetzt in einer Lage, in der beides zusammen | |
| funktionieren muss. | |
| Für die Generalsekretärin ist, wie sie den jetzt hellwachen Delegierten | |
| erklärt, eine einfache Rechnung entscheidend: 1.000 sind mehr als 0. Denn | |
| ohne Groko bliebe der Familiennachzug dank konservativer Mehrheit im | |
| Bundestag womöglich ganz ausgesetzt. In dieser Rede auf dem Parteitag | |
| materialisiert sich das ganze Gefühlschaos, in dem sich die Partei gerade | |
| befindet. Ist das, was Boos da gezeigt hat, nun Entschlossenheit, die die | |
| SPD dringend braucht? Oder ein Zeichen dafür, dass sie endgültig nicht mehr | |
| weiß, wofür sie steht? | |
| ## Schulz hat längst abgesagt | |
| An den Augenblick, in dem sie wusste, was sie auf dieser Bühne zu sagen | |
| hat, erinnert sich Boos noch einen Monat später sehr genau. In einem | |
| Ludwigsburger Festsaal hat sie gerade den Vormittag mit Lars Klingbeil | |
| verbracht, dem SPD-Generalsekretär auf Bundesebene. Es ist politischer | |
| Aschermittwoch, sie werben für die Groko, und es könnte besser laufen. | |
| Martin Schulz, am Vortag endgültig gescheitert, hat verständlicherweise | |
| abgesagt, aus dem Publikum kräht durchgehend ein wütender Altgenosse mit | |
| einem Schild, auf dem „SPD ohne Mutti“ steht, und beim Abschlussfoto mit | |
| Klingbeil springt ein Haufen Jusos mit NoGroKo-Zipfelmützen ins Bild. | |
| Es ist also erstaunlich, dass Boos noch gute Laune hat, als sie nachmittags | |
| auf die Autobahn Richtung Südwest abbiegt. Drei Stunden Fahrt bis zum | |
| nächsten Termin. Blazer und Pumps behält sie an. Nach den abgeschlossenen | |
| Sondierungen Mitte Januar, so erzählt sie, während sie zügig auf die linke | |
| Spur wechselt, verkroch sie sich zwei Tage lang unter der Bettdecke, | |
| nachdem sie das Papier mit den Ergebnissen gelesen hatte: Kein höherer | |
| Spitzensteuersatz. Keine Bekämpfung der Kinderarmut. Stattdessen: | |
| Begrenzung des Familiennachzugs. „Als Luisa dachte ich: Das geht nicht. Das | |
| kann ich nicht mittragen. Und als Generalsekretärin: Oh, das wird schwer zu | |
| vermitteln.“ Aber sie war lange genug dabei, um gleichzeitig zu wissen: Sie | |
| muss. Und schrieb die Rede. | |
| Der sportliche VW ist weinrot und glitzert in der Februarsone, innen riecht | |
| er fabrikneu. „In so ’nem richtigem SPD-Rot gab’s den nicht“, sagt Luisa | |
| Boos und klingt nicht so, als würde sie das sehr bedauern. Mit | |
| „Funktionärskarren“ kann sie nichts anfangen. Gerne besucht sie jeden | |
| kleinen Ortsverein, im Landesverband ist das vor allem ihre Aufgabe. Es ist | |
| ein bisschen so, als sei sie die Bürgermeisterin von Baden-Württemberg. | |
| Tankstellenpause: Zigarette, Milchkaffee, Coldplay. Tut ihr die | |
| Groko-Entscheidung noch weh? Schiefes Lächeln. „Ja. Aber es gibt ja auch | |
| gutes im Koalitionsvertrag. Die Punkte zu Europa, Bildung und Familie zum | |
| Beispiel. Und die Finanzierung von Frauenhäusern.“ Europa, das ist ihr | |
| anderes Herzensthema. Zweimal wollte sie schon ins Europaparlament, dritter | |
| Versuch nicht ausgeschlossen, findet zumindest Luisa, während die | |
| Generalsekretärin einstreut, dass sie ihre Aufgaben erst mal im Land sehe. | |
| Sie bläst ein bisschen rote Gauloise in Richtung der französischen Grenze | |
| und erzählt vom Wahlkampf mit Martin Schulz, der sich bei jedem Treffen | |
| nach ihrem Jungen erkundigt habe. | |
| ## Pragmatismus ist gefragt | |
| Ihr jetziges Amt hingegen verdankt Boos nicht zuletzt etwas, was es in der | |
| SPD nur selten gibt: einem linken, durchsetzungsfähigen Frauennetzwerk. Für | |
| die Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis arbeitete sie acht Jahre lang. Als | |
| es dann nach der desaströsen Landtagswahl 2016 – die SPD landete mit knapp | |
| 13 Prozent hinter der AfD – neues Personal brauchte, wollte die designierte | |
| Landesvorsitzende Leni Breymaier Boos als ihre Generälin. Das krachte | |
| gewaltig in der ohnehin gespaltenen Baden-Württemberg-SPD. Vor allem die | |
| Pragmatiker aus der Landtagsfraktion hatten was gegen die junge Mutter, die | |
| einst ihren eigenen Juso-Kreisverband gründete, aber lange nicht in die SPD | |
| eintrat, weil ihr die nicht links genug war. Nun muss sie selbst | |
| pragmatisch sein. „Nicht aus Überzeugung, sondern weil die Alternativen | |
| auch nicht überzeugen“, das ist ihr Mantra. | |
| Am Abend ist sie zu Gast bei einem kleinen Ortsverein in Steinen bei | |
| Lörrach, dicht an der Schweizer Grenze, der regelmäßig in beinahe rührend | |
| großer Gestik das „Rote Steuerrad“ an eine bedeutende sozialdemokratische | |
| Persönlichkeit verleiht. Die Steinener SPD trifft sich im Mehrzweckraum | |
| unter Neonröhren, in einer Reihe stellen sich alle für Bockwurst und | |
| Apfelschorle an. Das Durchschnittsalter ist über 60, man trägt Lesebrille | |
| und spricht Dialekt. Mehr Basis geht nicht, und hier wirkt Boos, die immer | |
| noch Blazer und Pumps trägt und der man nicht anhört, dass sie wieder im | |
| selben badischen Örtchen wohnt, in dem sie aufwuchs, dann doch plötzlich | |
| wie eine von denen, über die sie sich hier eigentlich heute den Frust von | |
| der Seele reden wollen. | |
| Dass sie ihre Dankesrede nachts um halb zwei geschrieben hat, merkt man | |
| dafür nicht. „Ich möchte, dass die Bürger wieder wissen: Hier steht ein | |
| Sozi und kann nicht anders“, dafür bekommt sie Applaus. Eigentlich geht es | |
| gerade um die Zukunft der SPD, nur wenige im Saal werden den Satz auch | |
| persönlich verstehen: Als Beschreibung dessen, was in letzter Zeit in ihr | |
| vorgegangen sein muss. | |
| Wenige Wochen zuvor hatte Boos auf Facebook geschrieben: „Ich will keine | |
| erneute Große Koalition. Ich will kein ‚Weiter so‘.“ Das war Luisa, da | |
| sprach das Herz. Die Generalsekretärin muss derweil ihren Landesverband | |
| zusammenhalten, mehr denn je. Gelingt ihr das? Ruft man den Stuttgarter | |
| Fraktionsvorsitzenden an, hört man noch immer mehr Kritik als Lob für Boos, | |
| was angesichts der Lage, in der die Partei gerade steckt, eine umso | |
| deutlichere Spitze ist. Was ihr an nötigem Panzer fehlte, holte sie sich | |
| nach ihrem Amtsantritt bei einem Coaching, wie Boos im Gespräch später | |
| offen erzählt. Da lernte sie auch, was sie immer dann tut, wenn die Hand | |
| eines zutraulichen Genossen beim Gruppenfoto unter die Hüfte rutscht: | |
| „Einfach die eigene Hand drauflegen und kräftig zudrücken. Viele merken | |
| dann erst, wie unpassend ihre Berührung ist.“ | |
| In Steinen werden Hände bloß geschüttelt. Erst recht die des neusten | |
| Mitglieds: Dieter Gersabeck, 67, Pensionär. Er ist eingetreten, um gegen | |
| die Groko zu stimmen: ein Denkzettel. Obschon ihn Boos’ Rede begeistert – | |
| oder gerade deshalb: „Die müssen erst mal alle abtreten, damit sie an die | |
| Macht kommt.“ Boos steht daneben und lächelt nachsichtig. | |
| „Die Groko-Debatte ist nicht die entscheidende Schlacht“, sagt sie am | |
| nächsten Tag in ihrem Freiburger Regionalbüro mit Blick über Stadt und | |
| Berge. „Das haben einige Denkzettelverfechter noch nicht verstanden. Wenn | |
| es der Partei noch schlechter geht, schlägt wieder die Stunde der | |
| vermeintlich starken Männer. Und das bringt uns nicht weiter.“ In der Ecke | |
| steht vergessen Martin Schulz als Pappfigur. | |
| Luisa und die Generalsekretärin sind inzwischen Freundinnen, aber noch | |
| nicht eins geworden. Sie üben sich in Kompromissen: Gemeinsam mit | |
| GeneralsekretärInnen aus anderen Ländern hat Boos schon in der | |
| Sondierungsphase eine Halbzeitüberprüfung der Großen Koalition | |
| durchgesetzt. | |
| 2 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Johanna Roth | |
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