| # taz.de -- Debatte Große Koalition vor Hessen-Wahl: Politik als Speeddating | |
| > Die Leute sagen, es gehe ihnen gut. Die Groko macht Politik wie | |
| > angekündigt. Woher kommt also der große Zorn auf die Volksparteien? | |
| Bild: Keine Experimente: Angela Merkel, Horst Seehofer und Andrea Nahles (v.l.) | |
| Wenn man die Deutschen fragt, dann sagen die meisten, dass es ihnen | |
| wirtschaftlich gut geht. Zudem glauben sie, dass es morgen noch besser | |
| wird. Die Ängste um den Job und vor der Zukunft sind zwar in der unteren | |
| Mittelschicht ausgeprägter als weiter oben, wo, laut einer | |
| Allensbach-Umfrage, schönste Sorglosigkeit herrscht. Aber auch unten bangt | |
| nur ein Viertel um den eigenen Job. Da ist nichts von german angst, nichts | |
| von jener ambivalenten Lust am Untergang, die den Deutschen oft bescheinigt | |
| wurde. | |
| Die zukunftsfrohe Zufriedenheit, die Demoskopen schon seit Längerem messen, | |
| steht in merkwürdigem Kontrast zum Wahlverhalten. Die BürgerInnen mögen die | |
| Regierungsparteien, Union und SPD, nicht mehr. Sie stürzen sie von einer | |
| Krise in die nächste. Die Umfragen, die zurückliegende Wahl in Bayern und | |
| wohl auch die kommende in Hessen weisen in die gleiche Richtung. Der | |
| Verdruss über die staatstragenden Volksparteien, die doch jahrzehntelang | |
| für rationale, berechenbare Politik sorgten, ist massiv. | |
| Ja, Seehofers Ego-Chaos-Kurs in der Flüchtlingspolitik, die Maaßen-Affäre, | |
| [1][Merkels Getrickse beim Diesel] katalysieren diese Stimmung. Aber sie | |
| sind die Verstärker, nicht der Grund. Konfuse Starts von Regierungen gab es | |
| schon öfter, etwa bei Schwarz-Gelb 2009 oder bei Rot-Grün 1999. Doch noch | |
| nie war der Missmut so gewaltig. | |
| Dabei ist die Bilanz der Groko nicht überraschend miserabel. Sie versagt | |
| beim Klimaschutz, ihr fehlt der Mumm, sich mit der Autoindustrie anzulegen | |
| und auch für eine schwungvolle Unterstützung für Macrons EU-Reform. Aber | |
| wen wundert das wirklich? Diese Regierung funktioniert, wenn man die | |
| hysterischen Anfälle der CSU mal beiseite lässt, ziemlich genau so, wie es | |
| im Prospekt stand. Die SPD sorgt dafür, dass Kitas ein paar Milliarden mehr | |
| bekommen, die CDU für ein paar Tausend Pflegekräfte mehr und päppelt mit | |
| dem Baukindergeld die Mittelschicht. Durchschnittsverdiener müssen weniger | |
| Sozialabgaben zahlen und bekommen mehr Kindergeld. Keine großen Ideen, | |
| dafür kleinteiliges, ordentliches Handwerk. Genau dies war das lange | |
| unschlagbare Erfolgsrezept von Angela Merkel. Woher also der Zorn? | |
| ## Rapider Wechsel von Zu- und Abwendung | |
| Zum einen zeigt sich, was schon seit Jahren eine Binsenweisheit ist. Die | |
| Bindungen an die Parteien sind lockerer geworden. Die Frustschwelle ist | |
| niedriger, die Bereitschaft zum Wechsel höher. Ein wenig verhalten sich die | |
| BürgerInnen wie jemand, der das Zalando-Päckchen zurück zur Post bringt, | |
| weil die Hose in echt doch etwas langweilig aussah. Das ist nicht neu. | |
| Schon bei dem in Vergessenheit geratenen Hype um die Piraten war diese | |
| Flüchtigkeit, ein rapider Wechsel von Zu- und Abwendung, zu bestaunen. | |
| Politik als Speeddating. | |
| Davon profitieren derzeit die Grünen, die sympathischerweise gar nicht so | |
| tun, als würden sie verstehen, was ihnen da widerfährt. Sie sind ja eher | |
| Projektionsfläche für diffuse oder widersprüchliche Wünsche als der sichere | |
| Hafen, in dem die Enttäuschten für die Zukunft andocken. Würden die Grünen | |
| derzeit in Berlin mitregieren, sie könnten von Ergebnissen wie in Bayern | |
| und Hessen nur träumen. | |
| Also alles nur kurzatmige Stimmung, ein Wolkenbild, das der rasch | |
| wechselnde Wind demnächst in die andere Richtung jagt? Muss Merkel das nur | |
| stoisch wie immer aussitzen? Falsch. Einfach weiter kleinteilig Gesetze zu | |
| machen, wird nicht reichen. Die ewige Merkel, die SPD, die zwischen bravem | |
| Mitregieren und Leiden pendelt – man hat all das zu oft gesehen. Es ist wie | |
| bei einer alten Bekanntschaft, die zerbricht: Was früher beruhigend | |
| vertraut wirkte, scheint wie zähe, nervende Wiederholung. | |
| Ob es besser wird, wenn die SPD die Regierung in die Luft jagt, wenn Merkel | |
| abtritt oder wenigstens ihren Abgang ankündigt – das weiß niemand. Aber | |
| sicher ist: Wenn einfach alle bleiben, die angeschlagene Merkel, die | |
| nervöse CSU, die hadernde SPD, dann geht die Agonie weiter. | |
| 26 Oct 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Diesel-Autos-in-Innenstaedten/!5541113 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Schwerpunkt Angela Merkel | |
| CDU | |
| CSU | |
| SPD | |
| Kevin Kühnert | |
| Landtagswahl in Hessen | |
| Grüne Bayern | |
| Journalismus | |
| Landtagswahl Bayern | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| SPD und Groko nach der Hessen-Wahl: Jetzt bloß keine Panik | |
| Nach der Hessen-Wahl ist SPD-Chefin Andrea Nahles wild entschlossen, | |
| weiterzumachen. Andere Stimmen fordern ein Groko-Ende – nur wie? | |
| Wahl in Hessen Hochrechnung: CDU vorn, SPD und Grüne eng | |
| Die zweite Hochrechnung zur Hessenwahl sieht die CDU bei 27,6 Prozent, SPD | |
| und Grüne bei knapp 20, die AfD bei 12,6. FDP und Die Linke bleiben | |
| einstellig. | |
| Nach dem Bayern-Wahlerfolg der Grünen: Alles ist etwas too much | |
| Die Grünen sind im Höhenflug. Aber was fangen sie damit an? Die taz | |
| begleitet Katharina Schulze und Annalena Baerbock. | |
| Kolumne Macht: Drama, Drama, Drama | |
| Reaktionen auf die Bayern-Wahl: Wer als Journalist Politik mit einer | |
| Seifenoper verwechselt, muss sich nicht wundern, wenn die Glaubwürdigkeit | |
| leidet. | |
| Nach der Bayernwahl: Bloß keine Aufregung | |
| Auf das bayerische Beben folgt in der Berliner Großen Koalition ein | |
| vernehmliches Rumpeln. Der SPD bleibt wenig außer Durchhalteparolen. |