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# taz.de -- Bayerische Landtagswahlen: Weiß-grüne Revolution
> Die CSU galt als letzte Volkspartei. Doch nun verliert sie womöglich die
> absolute Mehrheit – und immer mehr Wähler an die Grünen. Was ist da los?
Bild: Kann auch Maß halten: Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende der bayeri…
Dorfen/München/Niedergottsau taz | Josef Mayerhofer denkt auf der Holzbank
vor seinem Bauernhaus darüber nach, ob er eigentlich ein Konservativer ist.
„Wertkonservativ“, sagt er, „das bin ich schon. Werte sind mir wichtig. D…
Menschen sollten gut miteinander umgehen.“ Mayerhofer schaut nachdenklich
auf den Birnbaum im Hof, daneben prasselt ein Feuer in einer Eisenschale.
Der Zwiebelturm der Maria Himmelfahrt-Kirche, in der Mayerhofer getauft
wurde, steht nur 100 Meter weiter.
Wie abfällig die Spitzenleute der CSU [1][über Flüchtlinge sprechen],
findet Mayerhofer fürchterlich. Asyltourismus. Anti-Abschiebe-Industrie.
„Das ist nicht christlich, das passt nicht.“ Seehofer? Kein Rückgrat, keine
Haltung. Dobrindt? Ein aalglatter Karrierist. Scheuer? Geht gar nicht.
Söder? Nicht viel besser. „So ein Robert Habeck ist meinem Lebensstil
näher“ sagt Mayerhofer. Der Grünen-Chef hetze nicht, spreche normal,
vertrete eine klare Haltung.
Mayerhofer, 47, stämmiger Typ, Dreitagebart, graue Strickjacke, lebt seit
seiner Kindheit in dem oberbayerischen Dorf Niedergottsau und spricht auch
so. Er kennt hier jeden Stein, jeden Baum, jeden Menschen sowieso und
erinnert sich noch an die Zeiten, in denen es zehn Bauernhöfe im Ort gab.
Mit 14 trat er in die Junge Union ein, mit 16 in die CSU. Fast 30 Jahre
lang hat Mayerhofer CSU gewählt. Dann, bei der Bundestagswahl 2017, wollte
er nicht mehr. Jetzt ist er ein Grüner. Warum?
In Bayern steht eine Revolution kurz bevor. In einer Woche wählen die
BürgerInnen einen neuen Landtag. Die CSU wird, das ist so gut wie sicher,
ihre absolute Mehrheit verlieren. Sie liegt in einer aktuellen Umfrage bei
33 Prozent. Auf Platz zwei kommen die Grünen mit 18 Prozent, die SPD weit
abgeschlagen dahinter. Behalten die Demoskopen recht, ist in Bayern bald
nichts mehr, wie es wahr. Selbst für ein Bündnis mit der SPD wird es eng,
Schwarz-Grün könnte die einzig mögliche Zweier-Konstellation sein.
Mayerhofer fände das gut: „Die CSU hat Erfahrung im Regieren“, sagt er.
„Aber sie braucht starke Aufpasser.“
Auf ein paar Gewissheiten konnte man sich in Bayern stets verlassen. Der
Himmel ist weiß-blau wie die Fahne und die CSU kann alleine regieren. So
ist es seit über 60 Jahren, von einem kurzen Zwischenspiel mit der FDP
einmal abgesehen. Doch inzwischen bröckelt der Nimbus der letzten
Volkspartei. Die Leute, die sich vor Fremden fürchten, wählen lieber AfD.
Und viele aus dem liberalen Bürgertum fliehen zu den Grünen.
Was bewegt Konservative, den Grünen ihre Stimme zu geben? Verstehen die
Grünen das moderne Bayern womöglich besser als die CSU?
## Ein Kosmopolit, der sein zu Hause liebt
Neulich hat Mayerhofer an der Anschlagstafel im Dorf eine Einladung des
Altmännervereins gesehen. Tagesausflug nach Österreich, ganz unten ein
Hinweis, dick unterstrichen: „Achtung, bitte die Ausweise nicht vergessen.“
Er zündet sich eine Zigarette an und atmet den Rauch tief ein. „Diese
Rückwärtsentwicklung ist für mich nicht nachvollziehbar. Wir dürfen nicht
in die Kleinstaaterei zurückfallen.“
Mayerhofer, Vertriebsleiter einer Betonfirma, ist 300 Tage im Jahr
unterwegs, er hat Projekte in Polen und anderswo gemanagt. Die CSU war
früher die natürliche Heimat für Leute wie ihn. Ein Kosmopolit, der sein zu
Hause liebt, Laptop und Lederhose. Und heute?
Liebäugelt die CSU mit dem Nationalismus. Seehofer hofiert den ungarischen
Autokraten Viktor Orban, Söder sieht das Ende des Multilateralimus nahen.
Mayerhofer findet, dass in der CSU ein wichtiger Flügel verkümmert ist.
Franz Josef Strauß begeisterte ihn seinerzeit, weil er ein überzeugter
Europäer war. Oder Alois Glück, der bis 2009 die Grundsatzkommission der
CSU leitete. Glück warb für eine aktive Bürgergesellschaft – und ein
menschliches Miteinander.
Seehofers CSU, so sieht es Mayerhofer, verrät ihr europäisches und
sozialliberales Erbe. Und es fällt den Grünen nicht schwer, sich als das
Gegenteil zu positionieren: Proeuropäisch, weltoffen, human. In Bayern
setzen sie auf die Themen, die ihnen am besten liegen – Umwelt und
Bürgerrechte. Sie kritisieren die Zersiedelung der Landschaft,
organisierten das Bürgerbegehren „Betonflut eindämmen“. Und sie stemmen
sich gegen [2][das Polizeiaufgabengesetz der CSU], das den Behörden
präventive Verhaftungen ohne Anklage erlaubt und sogar der Gewerkschaft der
Polizei zu repressiv war. Themen, die allzu links wirken, lassen sie weg.
Laute Forderungen nach einer Erbschaftsteuer? Nicht in Bayern. Vor allem
aber verbergen sie nicht, wie gerne sie regieren würden.
## Bodenständigkeit und Modernität
Das Angebot trifft einen Nerv. Bei einer Demonstration gegen besagtes
Polizeiaufgabengesetz [3][drängten sich in Münchens Innenstadt über 30.000
Menschen]. Zehntausende kamen im Juli zu einer Demo gegen rechte Hetze, die
sich auch gegen die CSU richtete. Grünen-Chef Habeck tritt derweil in
brechend vollen Bierzelten auf, vor 1.800 Leuten allein in Dachau. Der
Wechsel zu den Grünen ist für viele frustrierte Bürgerliche offenbar
naheliegender als der zur FDP oder der marginalisierten SPD. Beim TV-Duell
des Bayerischen Rundfunks trat neulich der Grüne Ludwig Hartmann gegen
Söder an – und nicht etwa die Sozialdemokratin Natascha Kohnen.
Grünen-Spitzenkandidatin Katharina Schulze bekommt im Moment viele
Rückmeldungen von Leuten wie Mayerhofer. Sie schreiben E-Mails oder
sprechen sie auf Wahlveranstaltungen an. Manche sind sogar ehemalige
CSU-Mitglieder, schicken ihr ihr Austrittsschreiben. „Am meisten berühren
mich die, wo man merkt, dass sie mit sich ringen“, sagt Schulze. „Das finde
ich sehr ehrlich. Wenn Leute sagen, sie hätten nie gedacht, dass sie mal
vor mir stehen würden, hätten ihr Leben lang nur CSU gewählt. Aber jetzt
spüren sie: Es geht einfach nicht mehr.“
Aus Angst vor der AfD irrlichtern Seehofer und Co. durch die Politik wie
Anfänger. Die Revolten gegen Merkel in Berlin, der kurze Frieden im Sommer,
dann der Irrsinn des Falls Maaßen. Erst Söders Hetze gegen Flüchtlinge,
dann die Harmonieoffensive. Dagegen wirken die Grünen plötzlich sehr
staatstragend. Habeck hat es in der taz so ausgedrückt: „Früher waren wir
die Chaoten, heute sind es die CSUler.“
Katharina Schulze, 33, verkörpert Bodenständigkeit und Modernität. Sie
fährt mit Polizisten auf Streife, trägt selbstverständlich Dirndl und hat
ein Lächeln, das leuchtet wie ein Halogenscheinwerfer. Schulze setzt sich
auf eine Bank im Steinernen Saal des bayerischen Landtags. Durch eine
Glastür neben ihr kann man in den Plenarsaal sehen. Dort wird gerade über
den Abschluss des GBW-Untersuchungsausschusses diskutiert, der klärt, ob
der Verkauf von 33.000 Wohnungen an ein privates Konsortium nötig war.
Nach ihrer subjektiven Wahrnehmung gebe es zwei Gruppen von enttäuschten
CSU-Wählern, die nun mit den Grünen sympathisierten, erzählt sie. Zum einen
seien da die wertkonservativen, christlichen Wähler. „Die sagen einfach:
Das langt uns jetzt. Die Sprache langt uns, das ist keine menschliche
Politik mehr.“ Schulze breitet die Arme aus. „Warum wird von Asyltouristen
geredet, warum freut man sich, dass man 69 Menschen am 69. Geburtstag
abschiebt? Wo ist denn da eine Haltung, wo ist da ein Herz?“
Die anderen kämen aus dem liberalen Bürgertum. Die beschäftigten sich vor
allem mit Bürgerrechtsthemen, sie habe die CSU etwa durch das
Polizeiaufgabengesetz vor den Kopf gestoßen.
Wenn die Grünen nun all diesen Heimatvertriebenen eine neue Bleibe bieten
wollen, bedeutet dies dann auch, dass sie sich thematisch breiter
aufstellen müssen? Unsinn, meint Schulze. Die Phase, wo sich manche Grünen
wieder verstärkt auf Öko hätten fokussieren wollen, sei längst vorbei. „I…
hab schon damals gesagt: Das ist totaler Quatsch, wir haben schon immer
alle Themen abgedeckt. Na klar können wir Öko, aber wir können andere
Sachen genauso gut.“
## Die Suche nach einer neuen Volkspartei neben der CSU
Klingt fast wie eine Bewerbung. Bayern ist nach dem Niedergang der
Sozialdemokratie auf der Suche nach einer neuen Volkspartei neben der CSU.
Grüne in Berlin erinnern in diesen Tagen gerne an den ersten Wahlsieg
Winfried Kretschmanns in Baden-Württemberg. Seinen Grünen gelang 2011 die
Sensation, den ersten Ministerpräsidenten der Republik zu stellen. Sie
profitierten von einer CDU, die unter Stefan Mappus den Anschluss an die
Wirklichkeit verloren hatte. Und von der Irrelevanz der SPD. Das, hoffen
Grüne, sind Parallelen zu Bayern.
Die Zeiten, in denen sie im Freistaat als strickende, langhaarige Ökos
verschrien waren, sind jedenfalls lange vorbei. Dafür hat vor Jahren schon
der Sepp Daxenberger gesorgt, Biobauer, gelernter Schmied und einst
Grünen-Chef. Daxenberger, ein Typ wie eine Kastanie, war das, was man
gemeinhin ein Urgestein nennt. Er hätte vielleicht das Kunststück
geschafft, den Schwarzen ihre Alleinherrschaft streitig zu machen. Er starb
2010 an Krebs. Vollenden nun Katharina Schulze und Ludwig Hartmann, zwei
junge Politiker aus München, seine Mission?
Martin Pavlik, 34, lässt die linke Hand am Steuer, mit der Rechten zeigt er
durch die Windschutzscheibe. „Da ist er, unser Arc de triomphe!“ Er steuert
den Ford Focus eine schmale Schotterstraße hinauf. Dort oben, auf dem
Hügel, hat man die beste Aussicht auf das, was Pavlik am liebsten „den
Wahnsinn“ nennt. Meterdicke Betonpfeiler wurden bei dem
15.000-Einwohner-Städtchen Dorfen für eine Autobahnbrücke in die Landschaft
gerammt, eine breite Schneise mit zwei Asphaltbändern zieht sich durch die
Wiesen. Die A 94, auf die Pavlik jetzt herabschaut, ist ein Prestigeprojekt
der CSU. Sie soll München mit Passau verbinden.
Pavlik, randlose Brille, runde Wangen, Trachtenhemd, könnte in jedem
Heimatfilm sofort die Rolle des grantelnden Bayern besetzen. Seine Eltern
flohen vor der sozialistischen Diktatur in der Tschechoslowakei, er wuchs
in Oberbayern auf. Er spricht sieben Sprachen, studierte osteuropäische
Geschichte und Slawistik und ging zur Deutschen Bahn, als er nach dem
Studium keine Aussicht auf einen guten Job in der Wissenschaft hatte.
Zugführer und Ausbilder ist er. In seinem Büro zu Hause hängen drei
Urkunden: sein Magister, der Dank des Erzbischofs für 20 Jahre
Ministrantentätigkeit und die Zugführer-Urkunde.
Wenn er über die Bahnstrecke spricht, die Dorfen mit Markt Schwaben,
München und der Welt verbindet, redet er sich in Rage. Keine
Elektrifizierung, Stellwerke Baujahr 1905, nur ein Gleis. Kommen sich zwei
Züge entgegen, was ständig passiert, muss einer am Bahnhof auf dem
Ausweichgleis warten. „Bei der Autobahn“, sagt Pavlik neben dem Bauzaun,
„da spielt Geld keine Rolle.“ Ganz anders bei der Eisenbahn. Eine
elektrische Oberleitung? Moderne Signalanlagen? Nee, zu teuer. „Für die CSU
sind alle, die mit der Eisenbahn fahren, verkappte Grüne, Ökospinner oder
Sozis.“
Pavlik hat sich vorbereitet. Er zieht Fotos aus einer Plastikmappe. Die
gigantische Baustelle für die Autobahnbrücke mit zwei Kränen. Zwei
abgeknickte Pfeiler, die wegen des moorigen Untergrundes einsackten.
„Wurden rausgerissen und neu gebaut. Kein Problem.“ Sein Hochzeitsfoto, sie
im Brautkleid, er mit Anzug und Einstecktuch, auf einer Wiese. „Alles nicht
mehr zugänglich. Da führt jetzt die Autobahn entlang.“
Die Pavliks leben mit ihrem eineinhalbjährigen Sohn in einem alten, weiß
getünchten Haus, die Autobahnbrücke ragt gut 200 Meter weiter in den
Himmel. Drinnen niedrige Decken, draußen ein Apfelbaum, Bienenstöcke,
Brennnesseln. Pavlik hat für den Besuch aus Berlin den Holzherd eingeheizt
und Weißwürste aufgesetzt. Er blättert in dem kleinen, blau-weißen Büchlein
der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, das er auf dem Esstisch
bereit gelegt hat. „Ich argumentiere nicht ideologisch. Es reicht, einen
Blick in die Verfassung zu werfen.“ Pavlik liest vor, laute Stimme,
zwischendurch schlägt er mit der Hand auf den Tisch, dass das Glas mit dem
Händlmaier-Senf vibriert.
Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung. Artikel
106.
Pavlik blättert weiter, er hat die Stellen mit gelbem Textmarker
angestrichen.
Rassen- und Völkerhass zu entfachen ist verboten und strafbar. Artikel 119.
Bei Unglücksfällen, Notständen und Naturkatastrophen und im nachbarlichen
Verkehr sind alle nach Maßgabe der Gesetze zur gegenseitigen Hilfe
verpflichtet. Artikel 122.
Für jeden Berufszweig können Mindestlöhne festgesetzt werden. Artikel 169.
Pavlik schiebt mit dem Messer die Wurst aus der Pelle und greift sich eine
Brezn. Bei seinem Kreuzerlass habe Söder argumentiert, in der Verfassung
sei die Achtung vor Gott festgeschrieben. Komisch, ruft er, bei Wohnungen
und Mindestlöhnen berufe sich Söder nicht auf die Verfassung. „Wo sind denn
die billigen Volkswohnungen, die der Staat bei uns fördern muss?“
Auch Pavlik hat lange CSU gewählt. Ehrenamt, Kirche, Familie, das zählt für
ihn. Er trat mit 16 in die Junge Union ein, arbeitete als Sekretär in der
Kreisgeschäftsstelle, war Schriftführer im Orts- und Kreisverband. Später
hadert er mit der Migrations- und Verkehrspolitik, schreibt einen bösen
Brief an den CSU-Bürgermeister, sammelt Artikel der Lokalpresse. Im August
2016 setzt er sich hin und tippt seinen Abschiedsbrief. Als Doppelstaatler
mit deutschem und slowakischen Pass sei es für ihn nicht möglich, der JU
weiter anzugehören. Andreas Scheuer, damals CSU-Generalsekretär, stelle
Doppelstaatler pauschal „unter Generalverdacht“.
Pavlik stützt sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und beugt sich vor.
„Weißt du, warum es hier funktioniert? Wegen uns. Nicht wegen der Politik,
sondern trotz der Politik.“ Als das Landratsamt Flüchtlinge in dem
aufgegebenen Wirtshaus in seiner Nachbarschaft einquartierte, kümmerten
sich BürgerInnen um das Entscheidende. Sie setzten durch, dass syrische
Familien mit Kindern in das Haus mit Spielplatz kamen und die jungen Männer
aus Eritrea in den Ortskern neben die Bundesstraße. Nicht umgekehrt, wie es
das Amt wollte. Sie organisierten eine Kleiderbörse und drängten darauf,
dass eine Bushaltestelle eingerichtet wurde. Wie sollten die Kinder sonst
zur Schule kommen?
Wer Pavlik einen Tag lang durch seinen Heimatort Dorfen begleitet, mit ihm
den Bahnhof anschaut, den Unteren Markt und den Marienplatz, kann nicht
übersehen, wie wichtig ihm gelebter Bürgersinn ist. Er tritt auf die
Bremse, als ein syrischer Mann mit seiner Frau am Straßenrand winkt. „Wollt
ihr zum Heim? Magst einsteigen, Ali?“ Er zeigt den Buchladen, wo er immer
seine Bücher kauft. Und den Schreiner, der die Eckbank für die Küche
gefertigt hat. Amazon? Ikea? Pffft. Um die heimische Wirtschaft müsse man
sich eben schon kümmern, findet er.
Pavlik sagt: „Wir regen uns so auf, weil wir unsere Heimat lieben.“
Vielleicht ist es das, was ihn und Mayerhofer verbindet. Sie finden, dass
sich Grundsätzliches ändern muss, damit ihr Bayern so schön bleibt, wie es
ist. Dazu passt die Losung, die die Grüne Schulze für die kommenden Jahre
ausruft: „Pragmatisch die Welt retten.“
Herbert Gruber bezeichnet sich selbst als „grünen Protestwähler“. Er wolle
ein Gegengewicht darstellen zu all den Leuten, die AfD wählten. „Und wenn
ich es der jetzigen Regierung schwer machen will, und die sagt: Wählt die
Grünen auf keinen Fall! Dann weiß ich natürlich, was ich zu tun habe.“
München Hauptbahnhof, Gleis 14. Gruber ist gerade in den ICE 580 nach
Kassel eingestiegen. 35 Minuten sind es bis nach Augsburg, wo Gruber, der
in Wirklichkeit anders heißt, mit Frau und zwei Töchtern wohnt. Der ICE
fährt mit Ökostrom, die Autos, an deren Bau Gruber tagsüber als Ingenieur
mitwirkt, nicht. Sein Verhältnis zum Auto bezeichnet er als „durchaus
kritisch“. Der 47-Jährige ist keiner, der sich die Wirklichkeit einfacher
macht, als sie ist. Klar, man könne sich schon fragen, warum man Autos
braucht, die eine so hohe Leistung haben, sagt er. Aber auch: „Dass wir uns
eine Europäische Union leisten können, hängt auch damit zusammen, dass es
in Europa eine sehr kräftige Automobilindustrie gibt.“
In Wirklichkeit ist es für ihn natürlich überhaupt nicht leicht, nun die
Grünen zu wählen. Er hat bei den Schwarzen sein Kreuz gemacht, solange er
denken kann. Gruber ist – unüberhörbar – Schwabe, und zwar Württemberger
Schwabe. So war zunächst die CDU die Partei seiner Wahl, bevor er dann 2001
ins bayerische Augsburg zog. „Wenn ich die Wahl gehabt hätte, weiterhin die
CDU zu wählen, hätte ich das gemacht.“ Ein neuer Trennungsbeschluss à la
Kreuth wäre ganz in seinem Sinne.
Gruber erzählt von seinem diskussionsfreudigen Elternhaus und seiner
christlichen Prägung. Und dass er in der fünften Klasse der einzige war,
der jeden Abend die Tagesschau gesehen hat und wusste, wer welcher Minister
war. Es waren so unterschiedliche Politiker wie Helmut Schmidt, Lothar
Späth und Christian Ströbele, die ihn früher beeindruckt haben. Und heute?
„Da wird das Eis dünn.“ Vielleicht noch die Claudia Roth. „Das ist eine,
die ihren Weg geht.“
Gruber sitzt an einem dieser kleinen ICE-Tischchen. Graumeliertes Haar,
Geheimratsecken, Dreitagebart. Das Hemd ist kurzärmlig, blau und
kleinkariert. Ja, als konservativ würde er sich schon bezeichnen, aber so
richtig viel anfangen könne er mit diesen Schubladen nicht. Dass am Ende
die jetzige Entscheidung stand, hat natürlich weit mehr mit der CSU zu tun
als mit den Grünen.
Wie die CSU das Thema Flüchtlinge behandle, das gehe ihm gewaltig gegen den
Strich. „Für mich hat sich die CSU ganz klar von ihren christlichen
Grundwerten entfernt.“ Und von Arbeitsverboten für Flüchtlinge, auf die die
CSU setzt, hält Gruber gar nichts. „Wenn Sie jemandem nicht die Möglichkeit
geben, sein Talent sinnvoll einzusetzen – was soll er denn machen? Im
Prinzip zwingt man die Leute, schwarz zu arbeiten oder in die Kriminalität
zu gehen.“
## Die neuen Verbündeten an der Seite der Grünen
Auch das ist neu bei dieser Wahl: Die Grünen haben Verbündete, die früher
fest an der Seite der Schwarzen standen. Christliche Organisationen und
Kirchenvorstände wünschen sich eine humane Flüchtlingspolitik,
Wirtschaftsverbände und der Mittelstand fordern den Spurwechsel, der es
Asylbewerbern erlauben würde zu arbeiten.
Im Grunde, überlegt Gruber in dem ICE, sei ja ohnehin jeder Schwabe ein
verkappter Grüner. „Ein Schwabe würde ja nie selber eine Revolution
anzetteln, aber wenn eine Revolution ist, dann findet er das schon nicht
ganz so schlecht. Und ihm liegt der Umgang mit der Natur und mit dem
Menschen am Herzen.“
Was will Gruber, was wollen die vielen enttäuschten bisherigen CSU-Wähler
mit ihrer Stimme für die Grünen erreichen? Hofft er auf Schwarz-Grün?
Langes Schweigen. „Ich weiß es nicht. Ich sehe das eigentlich nicht.“ Aber
er wolle der CSU aber zumindest einen Denkzettel verpassen. „Die CSU soll
verstehen, dass immer nur weiter nach rechts nicht der richtige Weg ist.“
Die Grüne Schulze gibt sich im Moment demonstrativ bescheiden. Sie zitiert
gerne einen Satz, den Kretschmann prägte: „Wir bleiben auf dem Teppich –
auch wenn der Teppich gerade fliegt.“ Schließlich waren die Grünen schon
öfter Umfrage-Weltmeister, schnitten dann aber bei Wahlen schlechter ab.
Menschen geben sich in Umfragen gerne progressiver, als sie tatsächlich
sind.
Auch die Mobilisierungskraft der CSU ist nicht zu unterschätzen. Söder
setzt im Schlussspurt auf die Kampagnenfähigkeit seiner Partei und ihrer
140.000 Mitglieder. Motto: Damit Bayern bleibe, wie es ist, dürfe es „keine
Experimente und Spielereien“ geben. Die CSU hat die Grünen – neben der AfD
– zum Hauptgegner erklärt. Sie plakiert, dass die Grünen eine teure
City-Maut und Tempo 30 für Münchner Autofahrer planten, und schreibt
darunter: „Nicht mit uns!“
Aber sind die Bayern wirklich Revoluzzer? Oder denken sie in letzter
Minute: Schlecht ging es uns nicht mit der CSU? Josef Mayerhofer, Martin
Pavlik und Herbert Gruber haben sich bereits entschieden.
8 Oct 2018
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