| # taz.de -- 100 Jahre Novemberrevolution in Berlin: Die vergessenen Revolution�… | |
| > Die Matrosen der Volksmarinedivision werden in der Geschichtsschreibung | |
| > als Spartakisten geschmäht oder ignoriert. Eine Spurensuche in Berlin. | |
| Bild: Sie versuchten, die Revolution zu verteidigen: Revolutionäre der Volksma… | |
| Hier müssen sie gesessen haben. Ein Foto zeigt die Matrosen beim Essen im | |
| Neuen Marstall. In der vorderen Reihe sitzen vier an einem Tisch und | |
| löffeln aus Näpfen, daneben ein kleines Mädchen, vielleicht die Tochter. | |
| Einer liest Zeitung beim Essen, ein anderer, dahinter, reinigt seine Waffe. | |
| Ein Moment der Ruhe in einer unruhigen Zeit. Wurde das Foto vor oder nach | |
| den Weihnachtskämpfen vor 100 Jahren aufgenommen? | |
| Heute hat im Neuen Marstall gegenüber dem Schloss nicht mehr die | |
| Volksmarinedivision ihren Sitz, sondern die Hochschule für Musik Hanns | |
| Eisler. An die Revolutionszeit erinnern nur noch zwei Bronzereliefs, die an | |
| der Fassade zum Schlossplatz hin angebracht sind. Auf einem ist Karl Marx | |
| zu sehen, auf dem anderen Karl Liebknecht. Von den Matrosen, die hier | |
| stationiert waren, um die Institutionen der neuen Regierung im Schloss oder | |
| dem Reichskanzlerpalais zu bewachen, ist keine Rede. | |
| Marit Magister weiß um die Leerstelle, deshalb hat die Sprecherin der | |
| Musikhochschule Martin Spangenberg mitgebracht. Spangenberg ist Professor | |
| für Klarinette und interessiert sich für Geschichte. „Sebastian Haffners | |
| Buch über die Novemberrevolution habe ich schon im Studium gelesen“, sagt | |
| er, und natürlich sind ihm auch die revolutionären Matrosen ein Begriff. | |
| Dass sie im Neuen Marstall stationiert waren, ist ihm aber neu. | |
| Bislang verband Spangenberg das 1901 fertiggestellte Gebäude vor allem mit | |
| den kaiserlichen Kutschen und Schlitten. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs | |
| waren dort 350 Pferde untergebracht. „Die Pferde waren im Keller und | |
| Erdgeschoss, die Kutschen wurden über Rampen ins erste Obergeschoss | |
| gezogen“, berichtet auch Magister. | |
| Von all dem ist heute nichts mehr zu sehen. Im Zweiten Weltkrieg wurde der | |
| Marstall ausgebombt, bei der Sanierung in den 50er Jahren blieben nur zwei | |
| historische Treppenhäuser erhalten. Auch aus der Zeit vor 100 Jahren, als | |
| die revolutionären Matrosen in den Marstall zogen, gibt es keine Spuren | |
| mehr. Nur das Foto vom gemeinsamen Mahl der Matrosen. Fotograf und | |
| Zeitpunkt? Unbekannt. | |
| Die Novemberrevolution und mit ihr das Ende des von Bismarck mit Blut und | |
| Eisen geschmiedeten Kaiserreiches begann vor 100 Jahren in Kiel und | |
| Wilhelmshaven. Die Kriegsmarine wollte eine letzte Schlacht gegen England | |
| erzwingen, doch die Matrosen verweigerten den Befehl. In Berlin kommen die | |
| revolutionären Matrosen am 9. November an. | |
| Am gleichen Tag ruft Philipp Scheidemann die Republik und Karl Liebknecht | |
| eine freie sozialistische Republik aus. Der Kaiser dankt ab, die | |
| Regierungsgeschäfte übernimmt der Rat der Volksbeauftragten um den SPDler | |
| Friedrich Ebert. Aber auf wen können sich die drei sozialdemokratischen und | |
| die drei USPD-Volksbeauftragten in dieser brenzligen Situation verlassen? | |
| ## Ruhe und Ordnung | |
| Am 11. November gründet sich im Marstall die Volksmarinedivision; es ist | |
| die Geburtsstunde einer loyalen Revolutionstruppe. „Es wurde heute am 11. | |
| November 1918 durch Graf Metternich eine Organisation gegründet, die für | |
| Ruhe und Ordnung sorgen soll“, berichtet Fritz Radtke, einer ihrer ersten | |
| Kommandanten, in seinen Tagebuchaufzeichnungen. „Diese ganze Organisation | |
| hat man Volks-Marine-Division benannt. Es wurde ein Ausschuss gewählt, ich | |
| bin auch gewählt und soll Marstallkommandant werden.“ | |
| Marstall und Schloss, später auch Lehrter Bahnhof und Berliner | |
| Abgeordnetenhaus: Die Orte, in denen die Volksmarinedivision, der Verband | |
| der revolutionären Matrosen, untergebracht war, sind bekannt. Was aber ist | |
| mit ihrer Geschichte? Wie präsent ist sie jenen, die heute an diesen Orten | |
| arbeiten? | |
| Der nächste Ort der Spurensuche führt ins Berliner Abgeordnetenhaus, Raum | |
| 101, das Büro des Parlamentspräsidenten Ralf Wieland. Wieland ist der | |
| Hausherr im ehemaligen Preußischen Abgeordnetenhaus und das, was man ohne | |
| zu übertreiben einen geschichtsfesten Sozialdemokraten nennen darf. | |
| Zum Stichwort Revolution fällt ihm eine Menge ein, natürlich auch die | |
| Gretchenfrage: „Soll Deutschland eine Räterepublik nach sowjetischem | |
| Vorbild werden oder eine parlamentarische Demokratie?“, erinnert Wieland an | |
| die wichtigste Entscheidung, die die Teilnehmer des Reichsrätekongresses ab | |
| dem 16. Dezember 1918 im Abgeordnetenhaus treffen mussten. | |
| Zur Hand hat Wieland einen dicken Wälzer, den ein Historiker über die | |
| Geschichte des Hauses verfasst hat. „Mit großer Mehrheit haben die Räte für | |
| die Wahlen zur Nationalversammlung gestimmt“, sagt Wieland. Dass im | |
| Preußischen Abgeordnetenhaus auch die zweite Abteilung der | |
| Volksmarinedivision mit 600 Matrosen stationiert war, ist ihm neu. Auch im | |
| Buch des Historikers ist darüber nichts zu finden. | |
| Sind die Matrosen der Volksmarinedivision die Stiefkinder der Revolution, | |
| verstoßen, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan haben? In die linksradikale, | |
| spartakistische Ecke gestellt und zum Freiwild für die Freikorps-Truppen | |
| erklärt, die an ihrer Stelle aus der Taufe gehoben wurden? Oder sind sie | |
| deshalb in Vergessenheit geraten, weil für die Helden, die in der DDR | |
| gefeiert wurden, im vereinigten Deutschland kein Platz ist? | |
| In der Bergmannstraße in Kreuzberg befindet sich der Grabstein von Paul | |
| Wieczorek. Gäbe es nicht einen engagierten Arzt, der den Grabstein | |
| restaurieren ließ, wäre auch Wieczorek in Vergessenheit geraten. Er starb | |
| bereits am 13. November 1918, ermordet im Marstall von einem | |
| Korvettenkapitän. | |
| Sein Nachfolger wurde Fritz Radtke, der erste Kommandant im Marstall. Beide | |
| waren keine Spartakisten, Radtke hat sich sogar dafür ausgesprochen, das | |
| Schloss zu räumen, nachdem es dort zu Plünderungen gekommen war. Aber es | |
| gab auch Heißsporne wie Heinrich Dorrenbach, der an der Eskalation | |
| mitgewirkt hat, die zu den Weihnachtskämpfen 1918 führte. | |
| Was genau ist damals passiert? Warum weigerte sich Dorrenbach mit seinen | |
| Leuten, das Schloss zu verlassen? Wie kam es dazu, dass seine Leute den | |
| verhassten Stadtkommandanten Otto Wels gefangen nahmen und in den Marstall | |
| verschleppten? Was steckte hinter den blutigen Kämpfen an Schloss und | |
| Marstall am 24. Dezember, von denen es zahlreiche Fotos gibt? Und wie kam | |
| es dazu, dass die revolutionären Matrosen gegen die 1.200 aus Potsdam | |
| eingerückten Gardetruppen als Sieger hervorgingen? | |
| Warum also nicht bei der Stiftung Humboldt-Forum nachfragen. Und zwar bei | |
| Alfred Hagemann, der in der Stiftung die Abteilung „Geschichte des Ortes“ | |
| leitet. Doch auch Hagemann muss beim Thema Volksmarinedivision passen. | |
| „Leider kann ich Ihnen dazu nichts sagen“, räumt er gegenüber der taz ein. | |
| „Wir sind sehr auf den 9. November und die Ausrufung der Republik | |
| konzentriert. Alles, was danach kommt, damit haben wir uns noch nicht | |
| beschäftigt. Weder mit der Volksmarinedivision noch mit den | |
| Weihnachtskämpfen.“ Immerhin, so der Historiker, sei das „für uns auch ei… | |
| Anregung, uns damit zu beschäftigen, da wir dazu viele Fotos haben“. | |
| Die Weihnachtskämpfe waren eine Zäsur in der Geschichte der revolutionären | |
| Matrosen. Zwar wurde die Erstürmung von Schloss und Marstall abgewendet. | |
| Für die Regierung aber stand die Volksmarinedivision nun auf der anderen | |
| Seite der Barrikade. Die Umstürzler mussten kaltgestellt werden. | |
| Also wurde die Division zunächst als eigenständige Formation aufgelöst und | |
| als Abteilung in die Republikanische Soldatenwehr (RSW) eingegliedert. Der | |
| Sitz wurde vom Schloss ins Marinehaus unweit des Märkischen Museums | |
| verlegt. Die Revolutionsgarde wurde vom Zentrum des Geschehens abgezogen | |
| und auf die andere Spreeseite geschickt. | |
| Im Marinehaus treffe ich Martin Düspohl, der zusammen mit Gernot | |
| Schaulinski eine Ausstellung über die Novemberrevolution im Märkischen | |
| Museum vorbereitet. Auf seinem Computer zeigt Düspohl ein Foto. „Vor dem | |
| Marinehaus geben die Matrosen Waffen an Berliner Arbeiter aus“, beschreibt | |
| Düspohl das Bild. Es ist März 1919, der Showdown vor dem großen Finale. | |
| Danach wird es keine Revolution mehr geben und auch keine | |
| Volksmarinedivision. | |
| Düspohl, lange Jahre Leiter des Friedrichshain-Kreuzberg-Museums, hat sich | |
| nicht nur mit der Revolution vor 100 Jahren beschäftigt, sondern auch mit | |
| ihrer Revolutionsgarde. Für ihn repräsentiert die Volksmarinedivision ein | |
| Dilemma: „Die Matrosen waren nicht einheitlich für ein Rätesystem, aber | |
| auch nicht für die Regierung und das parlamentarische System.“ Das galt | |
| umso mehr, als nach der „Blutweihnacht“ die Vertreter der USPD aus dem Rat | |
| der Volksbeauftragten ausgeschieden sind. „Dennoch“, sagt Düspohl, | |
| „radikalisieren sie sich nicht, und sie sind auch nicht auf der Seite von | |
| Spartakus gelandet.“ | |
| Nirgendwo zeigt sich dies deutlicher als bei den Januarkämpfen 1919, die | |
| als „Spartakusaufstand“ in die Geschichtsbücher eingingen. Nach der | |
| Absetzung des USPD-Polizeipräsidenten Emil Eichhorn plante Karl Liebknecht, | |
| Vertreter des Spartakusbundes und Mitbegründer der KPD, einen Generalstreik | |
| am 7. Januar zu nutzen, um die Regierung zu stürzen. Doch als sich | |
| Liebknecht im Marstall der Unterstützung der Volksmarinedivision versichern | |
| wollte, ließ die ihn abblitzen. Düspohl findet deshalb, dass die Matrosen | |
| in der Erinnerung an die Revolution einen angemessenen Platz bekommen | |
| sollen. | |
| Danach sieht es freilich nicht aus, zumindest nicht an der Französischen | |
| Straße 32. 250 Matrosen waren nach den Märzkämpfen, bei denen auch das | |
| Marinehaus beschossen wurde, mit dem Hinweis auf eine „letzte Löhnung“ in | |
| die Zahlstelle der Volksmarinedivision gelockt worden. Eine Falle, die 29 | |
| von ihnen das Leben kostete. Die Gedenktafel, die daran zu DDR-Zeiten | |
| erinnerte, als in dem Gebäude unter anderem der Aufbau-Verlag seinen Sitz | |
| hatte, ist verschwunden. | |
| Inzwischen hat die Robert-Bosch-Stiftung, deren Berlin-Repräsentanz sich | |
| heute in der Französischen Straße 32 befindet, die Historiker Sebastian | |
| Panwitz und Johannes Bähr damit beauftragt, die Geschichte des Hauses zu | |
| erforschen. Bähr, Professor für Geschichte in Frankfurt, nennt den | |
| Hinterhalt am 11. März 1919 das „dunkelste Kapitel in der Geschichte des | |
| Hauses“. Eine neue Gedenktafel, ließ die Bosch-Stiftung wissen, sei derzeit | |
| aber nicht in Planung. | |
| Obwohl sich ein Termin geradezu aufdrängt. Am 11. März 2019 jährt sich die | |
| feige Ermordung zum 100. Mal. | |
| Dieser Text ist Teil des aktuellen Schwerpunkts zur Revolution 1918 und der | |
| Rolle der Volksmarinedivision in der Wochenendausgabe der taz-Berlin. In | |
| Ihrem Briefkasten oder am Kiosk. | |
| 6 Oct 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Uwe Rada | |
| ## TAGS | |
| Novemberrevolution 1918 | |
| Deutsche Geschichte | |
| Stadtschloss | |
| Der 9. November | |
| Kreuzberg | |
| CDU Berlin | |
| Novemberrevolution 1918 | |
| Novemberrevolution 1918 | |
| Novemberrevolution 1918 | |
| Novemberrevolution 1918 | |
| Novemberrevolution 1918 | |
| Matrosenaufstand | |
| Novemberrevolution 1918 | |
| Humboldt Forum | |
| Novemberrevolution 1918 | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Die Erfindung Kreuzbergs: Mühlenhaupts Montmartre | |
| Zum 100. Geburtstag feiert Berlin Kurt Mühlenhaupt, den Maler der kleinen | |
| Leute. Höhepunkt ist die Werkschau über die Kreuzberger Bohème. | |
| Linkspartei will 100 Jahre KPD feiern: Berlins CDU sieht rot | |
| Die Fraktion der Linken will den 100. Geburtstag der KPD im Berliner | |
| Abgeordnetenhaus begehen – und trifft damit den Kalten-Krieger-Nerv der | |
| CDU. | |
| 1918 und heute: Salz in die Wunden gestreut | |
| Das Märkische Museum thematisiert in einer sehenswerten Ausstellung das | |
| „lange Leben der Novemberrevolution“. | |
| 100 Jahre Neubeginn in Bremen: Wie die Revolution sich selbst fraß | |
| Nicht ganz drei Monate lang herrschte in Bremen der Arbeiter- und | |
| Soldatenrat. Das Experiment scheiterte am Realitätsverlust der radikalen | |
| Köpfe. | |
| November-Revolution 1918: Sieg oder Niederlage? | |
| 1918 wurden in Braunschweig und Bremen Räterepubliken ausgerufen. Ihr | |
| Scheitern zeigt, was in Weimar schief lief | |
| 100 Jahre Novemberrevolution: „Die ganze Stadt war bewaffnet“ | |
| Die Kulturprojekte organisieren den „Themenwinter“ Novemberrevolution. SPD | |
| und Linke waren dabei nicht immer entspannt, sagt Moritz van Dülmen. | |
| Umstrittenes Broschüren-Vorwort: Thümler hat’s nicht so gemeint | |
| Der niedersächsische CDU-Minister weist die Grünen-Kritik an seinem Vorwort | |
| zu einer Broschüre über die Revolution von 1918/19 in Nordwestdeutschland | |
| zurück. | |
| CDU-Minister zur Novemberrevolution: Ein legendäres Vorwort | |
| Niedersachsens Wissenschaftsminister Thümler (CDU) hat eine eigene | |
| Interpretation der Novemberrevolution von 1918. Die Grünen sind empört. | |
| Historiker über die Novemberrevolution: Die Rettung der Revolution | |
| Robert Gerwarth und Wolfgang Niess suchen nach dem Positiven in der | |
| Novemberrevolution 1918. Sie begründete, was wir heute sind. | |
| Ausstellung zur Novemberrevolution: Und wer hat geschossen? | |
| In einer neuen Ausstellung wird in Berlin der Toten der Novemberrevolution | |
| 1918 gedacht. Dabei bleiben allerdings einige Fragen offen. | |
| Hamburger Schau über Revolution 1918: Soldaten gegen Hungernde | |
| Eine Hamburger Schau widmet sich den Revolutionsjahren 1918/19, die | |
| aufgrund der moderierenden Haltung des Senats unblutiger verliefen als | |
| anderswo. |