# taz.de -- 100 Jahre Novemberrevolution: „Die ganze Stadt war bewaffnet“ | |
> Die Kulturprojekte organisieren den „Themenwinter“ Novemberrevolution. | |
> SPD und Linke waren dabei nicht immer entspannt, sagt Moritz van Dülmen. | |
Bild: 9. November 1918: Soldaten schließen sich der Revolution an | |
taz: Hundert Jahre Novemberrevolution, ist das für Sie eine Pflichtaufgabe | |
oder eine Herzensangelegenheit? | |
Moritz van Dülmen: Es wurde zu einer Herzensangelegenheit. Wenn ich ehrlich | |
bin, habe ich mich vorher noch nie mit dieser Revolution beschäftigt. In | |
der Schule sind wir nicht dazu gekommen, weil wir schnell noch die Nazizeit | |
machen mussten. Ich musste erst mal anfangen, mich schlau zu machen. Es | |
waren dann vor allem die Fotos, die mich fasziniert haben. | |
Ist es eine Herzensangelegenheit, bei der es etwas zu feiern gibt? Oder ist | |
die Revolution für Sie eine unvollendete? | |
Ich glaube tatsächlich, dass sie noch lange nicht fertig ist. Viele Themen | |
und Rechte, für die man damals gekämpft hat, stehen plötzlich wieder zur | |
Disposition. | |
Zum Beispiel? | |
Die Pressefreiheit. Da stehen wir in Deutschland zwar noch gut da, aber | |
weltweit ist das ein Riesenthema. Generell finde ich es beängstigend, wie | |
viele Rückschritte es gerade wieder gibt. Wir wollen jedenfalls daran | |
erinnern, dass das ein ganz spannender Winter war, der die Gesellschaft vor | |
hundert Jahren umgewälzt hat. | |
Die gängige Lesart ist, dass die Revolution Krieg und Kaiserreich beendet | |
und den Weg für die Weimarer Republik, also die parlamentarische Demokratie | |
geebnet hat. So gesehen hätte Kulturprojekte den Themenwinter auch mit dem | |
19. Januar und den Wahlen für die Nationalversammlung enden lassen. Sie | |
enden aber mit den Märzkämpfen. Warum? | |
Im März geht die Revolution in Berlin zu Ende. Das sind die letzten großen | |
Fights. Wir gucken immer: Wie ist der Fokus auf Berlin? | |
Sie hätten auch sagen können: Wir richten den Blick auf die Schattenseiten | |
und gedenken der 1.200 Toten, die niedergeschossen wurden. | |
Nur der Toten zu gedenken führt zu nichts. Das ist ehrwürdig, aber wir | |
wollten den Bogen schlagen zu den Arbeitnehmeraufständen, die das ja auch | |
waren. Würde man vorher abbrechen, würde man da eine Lücke hinterlassen. | |
„Solidarisiert euch“, lautet eine der sieben Überschriften, mit denen Sie | |
an sieben Orte gehen, in diesem Fall an den Alexanderplatz. Die | |
Novemberrevolution, dafür sind Schießbefehle und Tote ein Beispiel, ist | |
auch eine Zäsur bei der Spaltung der Linken. Ist das heute noch spürbar? | |
Man merkt in den Diskussionen, dass da ein großer Schmerz ist. Streiten tun | |
sich aber weniger die Historiker als die Politiker, wenn es um die Deutung | |
bestimmter Ereignisse geht. Das ist nach wie vor ein etwas nervöses Thema. | |
Wird hundert Jahre Novemberrevolution unter einem linken Kultursenator | |
Klaus Lederer anders begangen, als es bei SPD-Kultursenator Michael Müller | |
der Fall gewesen wäre? | |
Ich glaube nicht. Wir hatten mit beiden intensive Vorgespräche, auch mit | |
beiden Parteien. Damit haben wir schon vor einem Jahr begonnen. Wichtig | |
war, dass wir einen Beirat hinzugezogen haben. Wir wollten uns auf die | |
Ereignisse konzentrieren und so wenig wie möglich parteipolitische | |
Sichtweisen einfließen lassen. | |
Sind die beiden trotzdem noch etwas nervös? | |
Ich glaube, jetzt nicht. | |
Aber sie waren es. | |
Nicht so sehr die beiden Personen, sondern ihr Umfeld. Bei der SPD mehr als | |
bei der Linken. | |
Wie oft wurde in den Räumen der Kulturprojekte scherzhaft gesagt: Wer hat | |
uns verraten? Sozialdemokraten. | |
(lacht) Häufiger. | |
Was genau wird ab November stattfinden? Die sieben Themen sind genannt, | |
darüber hinaus werden hundert Orte markiert. Eine zentrale Ausstellung | |
wird es aber nicht geben, oder? | |
Nein. Letzten Endes ist der Themenwinter Revolution ein Partnerprojekt. Wir | |
versuchen die verschiedenen Facetten mit den verschiedenen Partnern, von | |
Friedhöfen bis Berlinische Galerie, zusammenzubringen und ein Projekt | |
daraus zu machen. Dabei haben wir auch die Topographie der Stadt erforscht, | |
vom Zirkus Busch bis zum Zeitungsviertel. An den Originalschauplätzen | |
entsteht eine andere Emotion. | |
Diese hundert Markierungen sind Bodenaufkleber. Das ist doch sehr dezent. | |
Ja, das lädt zum Stolpern ein. Wir haben auch überlegt, eine große | |
Open-Air-Ausstellung zu machen. Aber über fünf oder sechs Monate ist das zu | |
schwierig. Aber eigentlich hätten wir Barrikaden und Barrieren errichten | |
müssen. | |
Warum haben Sie das nicht gemacht? Die Kulturprojekte kleckern doch auch | |
sonst nicht? | |
Bei vielen Orten ist es nicht einfach, die genehmigungsfähig zu bespielen. | |
Bei Barrikaden haben wir automatisch den Konflikt mit dem Verkehr auf | |
Straßen und Bürgersteigen. Nun gehen wir mit einem großen Möbelwagen aus | |
dieser Zeit auf die Plätze. Die hat man damals auch zu Barrikaden | |
zusammengeschoben. | |
Die Genehmigung von Ausstellungsformaten im öffentlichen Raum ist seit dem | |
Anschlag auf dem Breitscheidplatz deutlich restriktiver geworden. Wie sehr | |
leiden darunter auch die Kulturprojekte? | |
Das ist tatsächlich nicht mehr mit der Zeit von vor zwei oder drei Jahren | |
vergleichbar. Auch so etwas wie die Lichtgrenze, wo sich Hunderttausende | |
unkontrolliert bewegen, ist in gegenwärtigen Zeiten schwierig zu | |
verantworten, weil wir alle ein bisschen Angst haben, es könnte etwas | |
passieren. Die Gefährdungslage ist ein gutes Stück höher. Das hat auch | |
Auswirkungen auf Veranstaltungsplanungen. Wir müssen aber aufpassen, dass | |
wir uns nicht voreilig zurücknehmen. Dreißig Jahre Mauerfall wollen wir | |
nicht indoor in der Mercedes Benz Arena feiern. | |
Nach dem Anschlag hieß es unisono, wir lassen uns unsere Art zu leben nicht | |
nehmen. | |
Das ist ein Wunsch, wo wir intensiv diskutieren müssen, wie wir den | |
umsetzen können. Im Moment ist man auf Vorsicht bedacht. | |
Wer ist auf Vorsicht bedacht? | |
Die Veranstalter und die genehmigenden Behörden, die dann, wenn etwas | |
schiefgeht, auch zur Verantwortung gezogen werden. | |
Also die Bezirke. Und die Polizei? | |
Nimmt Stellung. Die Polizei genehmigt nicht. | |
Was ist für Sie, der sich nun zum ersten Mal mit der Novemberrevolution | |
beschäftigt hat, der spannendste Moment? | |
Ich wusste nicht, dass die Stadt so militarisiert und bewaffnet war. Das | |
beeindruckendste Bild für mich war: Brüder schießt nicht. Wie bekommt man | |
so eine Stadt wieder zur Ruhe? Wie geht man mit der Verrohung um, die der | |
Krieg gebracht hat. Das sind Fragen, die man sich damals gestellt hat und | |
heute zum Beispiel auch in Syrien wieder stellen muss. | |
30 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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