# taz.de -- Ausstellung „Stadtrand Berlin“: Der Stadtrand, unendliche Weiten | |
> Der Stadtfotograf André Kirchner hat 1993 ein Jahr lang den Stadtrand | |
> fotografiert. Seine Serie berichtet von viel Himmel und großen | |
> Möglichkeiten. | |
Bild: 1993: Jahre des gesellschaftlichen Übergangs | |
Baumruinen, die verwaschenen weißen Blütendolden der wilden Möhre, | |
Autoreifen. Manchmal blitzt am Horizont ein Streifen Stadt auf, Wohnblöcke | |
zumeist, manchmal die Wendeschleife einer Tram, eine kaputte S-Bahn-Brücke, | |
ein Schild mit der Aufschrift „Bauerwartungsland“, ein Stück Autobahn, auch | |
Fabrikschornsteine, einmal ein weißer Kasten von Möbel Höffner, ein | |
andermal einer des Papierherstellers Herlitz. | |
Der Berliner Stadtfotograf André Kirchner, geboren 1958 in Erlangen und | |
seit 1981 in der Stadt, ist einer der bekanntesten seiner Generation. 1993 | |
bekam er den Auftrag der Berlinischen Galerie, den Stadtrand Berlins zu | |
fotografieren. Die Serie aus 60 Schwarz-Weiß-Fotografien, die vom Frühjahr | |
1993 bis zum Frühjahr 1994 entstanden sind, kann man nun anlässlich von 30 | |
Jahren Mauerfall erstmals in einem eigenen Raum bis zum 29. Juli in der | |
Berlinischen Galerie bewundern. | |
Ein Jahr lang fuhr André Kirchner immer wieder an die Grenzen Großberlins, | |
wie sie 1920 definiert wurden, lief ein paar Kilometer, suchte Motive – | |
typische Motive, wie er sagt – vom ehemaligen Grenzkontrollpunkt Drewitz | |
gegen den Uhrzeigersinn bis zur Glienicker Brücke von Potsdam. Das | |
Besondere: Anders als viele Mauerfotografen vor ihm fotografierte er das | |
Ende der Stadt nicht von innen nach außen, sondern von außen nach innen – | |
also mit Blick in die Stadt hinein. | |
Kirchner war fasziniert vom „knallharten Übergang zwischen Stadt und Land“, | |
wie er bei einer Presseführung in der Galerie sagt, „ohne Vermittlung, | |
einfach abgehackt.“ Während im Westen die Mauer verhindert hatte, dass die | |
Stadt in die Ränder hinein wuchs, war im Osten dafür vor allem die fehlende | |
Wirtschaftskraft verantwortlich. 1993 und 1994 waren Jahre des Dazwischen, | |
erklärt Kirchner, in denen man das Alte gerade noch fühlen, das Neue aber | |
auch höchstens erahnen konnte. Es waren Jahre des gesellschaftlichen | |
Übergangs. | |
## Kirchner ging streng subjektiv vor | |
Anders aber als bei einer Fotografie, die sich streng dokumentarisch | |
begreift, vermittelt sich bei den Bildern Kirchners sehr viel dessen, was | |
der Fotograf damals bei seinen Aufnahmen dachte und fühlte. Im Grunde ging | |
er streng subjektiv vor, was sich auch bei der Betrachtung eines Stadtplans | |
in der Mitte des Raums erschließt, in dem alle Punkte eingezeichnet sind, | |
wo die Fotos entstanden. Während sich an manchen Stellen sehr viele Punkte | |
ballen, gibt es lange Abschnitte, an denen Kirchner überhaupt nicht war. | |
Wäre es um Objektivität oder Vollständigkeit gegangen, hätte Kirchner auf | |
den 236 Kilometern, die er abgelaufen ist, etwa alle vier Kilometer halt | |
machen und fotografieren müssen, was sich ihm bot. | |
Statt dessen spricht André Kirchner von seiner Sehnsucht, raus zu kommen, | |
der Freude des Westberliner Fotografen, „der immer wieder gegen die Mauer | |
gerannt ist“, nun endlich auch mal den Himmel so frei zu sehen zu dürfen. | |
Um all das auszustrahlen, hat er seine Bilder klug konzipiert: Kirchner hat | |
das Verhältnis von Himmel und Landschaft beim New Topographic Movement, | |
einer neuen Schule der amerikanischen Landschaftsfotografie, vom Kopf auf | |
die Füße gestellt. Bei ihm sieht man auf jedem Bild ein Drittel Landschaft | |
und zwei Drittel Himmel, also sehr viel Himmel, sodass der Horizont sich | |
also fast wie eine Linie durch die nebeneinander gehängten Bilder zieht. | |
Hinzu kommt, dass Kirchner grundsätzlich analog arbeitet und seine Bilder | |
im eigenen Labor entwickelt und bearbeitet, also von der Idee bis zum | |
Endprodukt maximal nah dran bleibt an ihnen. Seine Fotos sind mit einer | |
Panoramakamera gemacht, also in einem Format, das die Landschaftsmalerei | |
entwickelt hat – in der Hoffnung, dem Menschen die ganze Welt zu Füßen | |
legen zu können. | |
Tatsächlich ist es ein absolutes Phänomen, wie fast jedes dieser schönen | |
Bilder von Vandalismus, Verantwortungslosigkeit und Vernachlässigung | |
erzählt – ohne dass dies wirklich großartig ins Gewicht fallen würde. | |
Anders gesagt: Es ist fast nicht fassbar, wie viel lebendige Euphorie diese | |
vordergründig tristen Bilder, auf denen bis auf eine Ausnahme gar keine | |
Menschen zu sehen sind, versprühen. Sie erzählen von den ungenutzten | |
Brachen am Rande Berlins, von ewig viel Weite und Raum, von unendlichen | |
Möglichkeiten und großem Aufbruch – all das, was im Berlin der | |
Nachwendezeit so viele Kreative und Lebenskünstler faszinierte. | |
Keinen der Orte, die Kirchner damals fotografiert hat, würde man | |
wiedererkennen, wenn man ihn heute noch einmal fotografieren würde. Genau | |
deshalb ist es so schön, sie zu sehen. | |
Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124–128. Bis zum 29. Juli, Mittwoch | |
bis Montag 10 bis 18 Uhr, Eintritt 10 Euro, ermäßigt 7 Euro. | |
7 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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