| # taz.de -- Berlinische Galerie zeigt Loredana Nemes: Blütezeit einer Fotograf… | |
| > Verschleierte Männer und andere Porträts: „Gier Angst Liebe“ ist die | |
| > großartige Einzelausstellung von Loredana Nemes in der Berlinischen | |
| > Galerie. | |
| Bild: Ausschnitt aus Loredana Nemes Serie Blütezeit, 2012 | |
| Ihre „fotografische Guillotine“ nennt Loredana Nemes die | |
| Zweitausendstelsekunde, in der sie die Möwen an der Spree aufnahm. Die | |
| Hochgeschwindigkeitsauslösung hält jede einzelne Feder im weißen Wirbel der | |
| Flügel fest, wenn sich die Vögel auf dem winterschwarzen Wasser beim Streit | |
| ums Futter ineinander verkeilen. Paradoxerweise steht der Tanz der „Gier“ �… | |
| so der Titel, den Nemes ihrem von 2014 bis 2017 entstanden Zyklus gab – | |
| dann oft in der Zweidimensionalität eines ornamentalen Musters still. Der | |
| größtmögliche Realismus kippt gewissermaßen in die Abstraktion. | |
| Mit dem imposanten Fries der dreizehn Aufnahmen von „Gier“, an der rechten | |
| Wand der großen Halle hat die Fotografin die Aufmerksamkeit der | |
| Besucher*innen der Berlinischen Galerie sofort gewonnen. Stoßen sie dann im | |
| ersten Galerieraum auf den zuletzt entstandenen Zyklus „23197“ und im | |
| nächsten Raum auf „Beyond“, die zwischen 2008 und 2010 entstandene | |
| Langzeitbeobachtung, die Loredana Nemes bekannt gemacht hat, können sie | |
| eine Verbindung erkennen. Auch wenn die drei Werkgruppen − wie die | |
| insgesamt sechs Zyklen, die ihre erste institutionelle Einzelausstellung | |
| bilden − ganz unterschiedlich gelagert sind: Die Verbindungslinie liegt in | |
| der Abstraktion. | |
| Nach der Überschärfe bei „Gier“ ist es bei „23197“ nun die Unschärfe… | |
| die Figur in der Farbfläche auflöst. Die über- und ineinander geschichteten | |
| roten, gelben, blauen und grauen Farbfelder erinnern an Gemälde von Mark | |
| Rothko. Mit ihm und seinem Werk hat „23197“, wie sich herausstellen wird, | |
| aber gar nichts zu tun. Trotzdem steckt in der Assoziation vielleicht mehr | |
| als nur eine Koinzidenz. Denn Rothko sagte, die Wiege seiner Bilder sei | |
| Gewalt. Und Nämliches kann auch Loredana Nemes über ihre ersten | |
| Farbfotografien sagen. | |
| Mit ihnen versuchte sie mit der Angst fertig zu werden, die sie zu | |
| überwältigen drohte, als sich mit einem Lkw verübte Mordanschläge auf | |
| unschuldige Passanten weltweit häuften. In den verschwommenen und diffusen | |
| Farbmustern ihrer Großformate konfrontiert Nemes die Betrachter*innen mit | |
| einem frontal aufgenommenen Lkw − gerade so, als ob er auf sie zuraste. Wo | |
| er doch in Wirklichkeit parkt. | |
| ## Der Schutz der Abstraktion | |
| Der Schutz der Abstraktion ist bei „Beyond“ der Schutz des Ornaments. Der | |
| Schutz der semitransparenten Folie, des Spitzenvorhangs oder auch des | |
| geschliffenen Glases, all das, was die sich dahinter abspielenden | |
| Kaffeehausszenen im türkischen und arabischen Milieu in vage | |
| Unkenntlichkeit rückt. Nach ihrem Umzug nach Berlin kam Loredana Nemes vor | |
| allem in Kreuzberg, Neukölln und im Wedding an diesen Cafés vorbei. | |
| Und so unzugänglich, wie sich die gerne in ehemaligen Ladenlokalen oder | |
| aufgegebenen Kneipen beheimateten Kaffeehäuser gegenüber Frauen und | |
| Nichtmuslimen zeigten, fokussierte die Fotografin sie auch mit ihrer alten | |
| Plattenkamera: von der gegenüber liegenden Straßenseite aus, bei Nacht. | |
| Natürlich fiel sie auf und kam mit Betreibern und Gästen in Kontakt, die | |
| sie schließlich porträtieren konnte. Obwohl es ja gewöhnlich die Frau ist, | |
| die sich in der islamischen Gesellschaft verschleiert, trat hier nun der | |
| Mann hinter den Sichtschutz des Lokals, wodurch er sich ebenfalls | |
| verschleierte. | |
| Wirken durch den Glasschliff beim einen Augen und Mund komplett verrutscht, | |
| kann man den anderen hinter dem kleinteilig gepunkteten Glas recht gut | |
| erkennen, und ein dritter fasziniert als modernistische Gitterstruktur. So | |
| hinreißend surreal lässt sich also das Aussperren, das notwendigerweise das | |
| Eingesperrtsein zur Folge hat und „Parallelgesellschaft“ genannt wird, ins | |
| Bild setzen. | |
| ## Die Schrift an der Wand | |
| Im nächsten Raum, in dem Loredana Nemes einen, genauer: ihren Mann als | |
| Puzzle einzelner Gliedmaßen und Körperteile präsentiert, fällt erneut die | |
| Schrift an der Wand auf, wie schon bei „23197“. Zu lesen sind hier kurze | |
| Gedichte und Gedanken, dort Konjugationen „ich wüte, du wütest“ und die | |
| Permutationen des Wortes Angst. Bei fünf Buchstaben sind es 120 | |
| Möglichkeiten, Loredana Nemes kennt die Formel 5 x 4 x 3 x 2 x 1. Denn die | |
| 1972 in Sibiu in Rumänien geborene Fotografin, die im Alter von 14 Jahren | |
| nach Deutschland kam, hat in Aachen Germanistik und Mathematik studiert, | |
| bevor sie sich entschied, Kunst zu machen. | |
| Zur Kunst gehört das Stipendium, das Loredana Nemes 2012 ins schwäbische | |
| Ludwigsburg führte. Dort blühten die Kirsch- und die Apfelbäume. Es war | |
| Frühling, und die Leute waren wieder draußen unterwegs. Darunter die | |
| adoleszenten Jugendlichen, deren Umgang mit der Familie, den Freunden, den | |
| Mädchen oder Jungs, sich in dieser Zeit stark verändert, was Nemes in | |
| Gruppenporträts festhalten wollte. | |
| Unverstellt, direkt und spontan. Deshalb sprach sie die Jugendlichen nicht | |
| nur auf der Straße an, sondern nahm sie auch dort auf, vor einer neutralen | |
| Hauswand. Trotzdem sind die Bilder fotografisch komplex: Sie wirken oft wie | |
| Collagen oder Filmausschnitte, weil einzelne Protagonisten doppelt im Bild | |
| sind, frontal und im Profil zugleich. | |
| ## Betörende Porträts | |
| Diese Sicht war das Ergebnis von Nemes’ Bemühung, jedes einzelne ihrer | |
| Modelle konzentriert im Blick zu haben. Dazu stellte sie die Gruppe auf und | |
| ging dann mit der Kamera vom einen zur Nächsten. Sie fotografierte sie also | |
| einzeln und fügte die Bilder erst später wieder zur Gruppe zusammen. | |
| Dass Loredana Nemes absolut betörende Porträts gelangen, wird einem | |
| spätestens dann bewusst, wenn man meint, Dominik, Max und Julius schon als | |
| Apostel oder Stifterfiguren auf einem Altarbild der Frührenaissance gesehen | |
| zu haben. Aber es schauen alle Kids eindringlich und lebenslustig zugleich | |
| in die Welt. Man sieht es: Sie stehen in der Blüte ihrer Jugend. Und da | |
| wirkt es nicht einmal tautologisch, dass die Querformate der | |
| Gruppenporträts mit den Hochformaten blühender Obstbäume gemischt sind. | |
| 25 Jul 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Brigitte Werneburg | |
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