# taz.de -- 40 Jahre taz: Umweltpolitik: Ein Defensivspiel | |
> Die Individualisierung der Umweltbewegung war nicht hilfreich. | |
> Ökologisches Handeln ist vom politischen Konzept zum privaten Lebensstil | |
> mutiert. | |
Bild: Monokultur: 15 Millionen Hektar der Fläche werden in Deutschland „konv… | |
Mit ihrer [1][ersten Nullnummer] hat die taz vor 40 Jahren eine Umweltseite | |
geschaffen. Das war damals eine Revolution. Was bei anderen Zeitungen unter | |
„Vermischtes“ abgetan wurde, bekam hier einen festen Platz. Es war ein | |
Signal: Hier wird ein Thema gesetzt. | |
Das Wissen über die Umweltwirklichkeit ist seitdem immens gewachsen. Das | |
Menschheitsrisiko Klimawandel war 1978 in der Öffentlichkeit nicht bekannt. | |
Die erneuerbaren Energien gab es nur in den Möglichkeitsräumen der | |
Technikträume. Die Pläne zum Atomausstieg führten deshalb direkt in einen | |
neuen Kohleeinstieg – zum Beispiel in Städten wie Bremen und Mannheim. | |
Zunächst ging es voran. Beim Weltgipfel in Rio 1992 wurde Nachhaltigkeit | |
erstmals zum Leitbild erklärt, Staaten und Städte beschlossen | |
Nachhaltigkeitspläne. Realisiert wurde nur wenig. Das Denken der 90er Jahre | |
richtete sich auf den Markt, erst nach 1998 setzte die rot-grüne | |
Bundesregierung die erneuerbaren Energien aufs richtige Gleis. Die größte | |
Hoffnung, regenerative Versorgung der Menschheit, ist in Sichtweite. | |
In anderen Bereichen aber geht es rückwärts. 15 Millionen Hektar der | |
Landesfläche werden „konventionell“ bewirtschaftet, das bedeutet heute | |
meist eine Monokultur, die bis auf eine alle Pflanzenarten beseitigt und | |
die Lebensräume für Insekten und Vögel zerstört. 150 Millionen „Nutz“-T… | |
vergüllen das Grundwasser und überstehen die Quälhaltung nur durch | |
Antibiotika. Die größten Braunkohle-Dreckschleudern der Welt laufen noch | |
immer in Deutschland. Selbst mit ökonomischer Vernunft oder Wettbewerb hat | |
all das wenig zu tun. Die Macht der Lobbys und Monopole ist das Elend der | |
deutschen und europäischen Politik. | |
## Mischung aus Selbstoptimierung und Schuld | |
Für vernünftige Klima- und Umweltpolitik gibt es in der Bevölkerung große | |
Mehrheiten. Trotzdem ist aus dem Hoffnungsträger Umweltpolitik, der | |
gemeinsamen Arbeit an der Sicherung der Zukunft, ein trauriges | |
Defensivspiel geworden. | |
Die Ökologiebewegung hat seit 1978 weltweit das Denken verändert. | |
Fatalerweise hat sie dabei das schlechte Gewissen zum täglichen Begleiter | |
gemacht. Moderne Mittelschichtsmenschen neigen zu einer Mischung aus | |
Selbstoptimierung und Übernahme von Schuld: Sind nicht „wir alle“ das | |
Problem? | |
Der Soziologe Pierre Bourdieu hatte gewarnt: Hinter jedem „Wir alle“ | |
verbergen sich die feinen Unterschiede des „… aber ich nicht ganz so wie | |
die da“. Hilfreich war die Individualisierung des Problems nicht. Ökologie | |
ist vom politischen Konzept zum privaten Lebensstil mutiert und der | |
richtige Lebensstil zum sozialen Wertmaßstab: Würden „wir alle“ endlich d… | |
„richtige“ Obst, Auto, Käse, T-Shirt kaufen, dann wäre alles gut. | |
Nur: „Wir alle“ tun das nicht. Das Resultat: Manche fühlen sich besser – | |
und andere schlechter. Die individualisierte Sicht auf ökologische | |
Zusammenhänge spaltet die Gesellschaft. Der Staat flüchtet unterdessen aus | |
der Verantwortung und die Wirtschaft erklärt für „nachhaltig“, was | |
profitabel erscheint. | |
Wo Umweltverantwortung zur individuellen Liebhaberei wird, wird | |
verantwortliches Handeln zur Preisfrage: Wer „seine Werte“ leben will, muss | |
dafür bezahlen. Und die Preise, so das Mantra der Umweltökonomen, sollen | |
„die Wahrheit sagen“. Sie sagen aber nicht allen die gleiche. Die | |
Stromrechnung etwa, die zu einem Viertel aus Steuern besteht, macht für | |
manche 10 Prozent ihres Budgets aus, während andere nur ein Prozent | |
veranschlagen müssen. | |
## Die Individualisierung der Ökologie spaltet | |
Umweltpolitik ist so zum Faktor der gesellschaftlichen Spaltung geworden. | |
Ihre Potenziale zur Bekämpfung dieser Spaltung werden hingegen ignoriert. | |
Offenbar reicht es nicht, ökologische Konzepte mit Politik kurzzuschließen | |
und alle notwendigen Zwischenschritte auszublenden. Das Gespräch über | |
wünschenswerte Lebensmodelle und ihre institutionelle Umsetzung ist | |
allerdings fast verstummt. Kann eine Gesellschaft formulieren, was sie sich | |
wünscht? Braucht sie dazu einen Staat, und was genau soll er tun? Gewiss | |
ist nur: „Der Markt“ trifft die notwendigen Entscheidungen nicht für uns. | |
Wie könnten neue Anfänge aussehen? | |
Energiekosten können sozial gestaltet werden: In der Schweiz kommen die | |
Abgaben in einen Topf, am Ende des Jahres werden sie pro Kopf als | |
„Ökobonus“ zurückgezahlt. Wer wenig verbraucht hat, gewinnt – in der Re… | |
also ärmere Haushalte oder kinderreiche Familien – auf Kosten der | |
Bessergestellten, die viel verbrauchen | |
Planung kann einfallsreich sein: Verlässliche E-Mobilität auf der Schiene | |
kann Abstände verkürzen, dasselbe kann digitale Infrastruktur leisten. Die | |
„Unräume“ zwischen Vorstadt und Land am Rand der Ballungszentren könnten | |
durch gute Stadtplanung zu kreativen Orten des 21. Jahrhunderts und zu | |
wohnungspolitischen Modellen werden. Investoreninteressen hinterherzubauen | |
und Innenstädte weiter zu verdichten hilft nicht. | |
## Zeit, neu durchzustarten | |
Produktive Alternativen zur Agrarsteppe sind möglich: Überall entstehen | |
auch in Deutschland neuartige Dörfer, junge Leute wollen wieder Bäuerinnen | |
und Bauern werden oder bleiben. Anstatt dem Bauernsterben weiter zuzusehen, | |
sollte es ein Ziel sein, die Zahl der Betriebe bis 2030 um 10 Prozent zu | |
erhöhen. | |
Unterdessen verteuern die EU-Subventionen den Boden, die Grundlage | |
ländlicher Wertschöpfung, und die Landflucht hat nicht nur in Ungarn, | |
Rumänien oder Polen politische Folgen. | |
Wenn die Politik bei der Zukunftssicherung versagt, braucht sie über | |
Verdrossenheit nicht zu klagen. Und wenn die Gesellschaft ihre moralischen | |
Grundsätze dauerhaft verletzt, stellen Menschen die Frage, wofür ihr | |
Gemeinwesen eigentlich steht. | |
Die taz von 1978 stand für einen mutigen Anfang. Zeit, neu durchzustarten. | |
27 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
Roland Schaeffer | |
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