# taz.de -- 40 Jahre taz: Hambacher Forst: Partisanenkrieg in der Baumkrone | |
> Die BaumschützerInnen aus dem Hambacher Forst entwickeln immer neue | |
> subversive Strategien – im Boden, in der Luft und im Virtuellen. | |
Bild: Partisanenkampf in der Luft: SEK-Beamte jagen eine Aktivistin im Hambache… | |
Manchmal taucht in den Medien tatsächlich der Begriff Krieg auf. Der Krieg | |
im Hambacher Forst. Der Krieg um die Bäume. Infokrieg, Propagandakrieg. | |
Dazu immer wieder: psychologische Kriegsführung. | |
Krieg im Forst? Dann ist der eigene Körper die passive Munition. Der muss | |
im Baumhaus entkettet, heruntergeholt und weggetragen werden. Passiver | |
Widerstand. Genauer: technischer Widerstand. | |
Dazu gehört Tarnung selbst in der Niederlage: Ein Teil der oft sehr jungen | |
Wald-BewohnerInnen setzt alles daran, anonym zu bleiben. Im Kampf Kapuzen, | |
nur Sehschlitze. Nur noms de guerre: Moses, Frodo, Jazzy, Clumsy. Bei | |
Festnahme sind dann die Fingerkuppen verklebt oder abgefeilt. Kein | |
Abdrücke, keine Identifizierung. Partisanenkampf. | |
Im Waldboden sind Nachschubverstecke angelegt, vor allem für | |
Kletterausrüstung. Das weiß auch die Polizei, ohne die versteckten | |
Erdlöcher zu kennen. Was sie natürlich ärgert. Ersatzweise setzte sie ein | |
Märchen in die Welt: Es gebe Tunnelsysteme, raunte ein Beamter dem Reporter | |
der regierungsnahen Rheinischen Post zu. „Ähnlich wie beim Vietcong im | |
Vietnamkrieg.“ Das machte herrliche Headlines. Und Dummblätter wie Bild | |
plapperten groß nach. | |
## Zeit ist ein Faktor in diesem Stellungskampf | |
Natürlich ist das Unfug. Wohl aber gibt es metertiefe Erdlöcher, in denen | |
sich Aktivisten angekettet haben. Sie zu lösen dauert Stunden. Zeit ist ein | |
Faktor in diesem Stellungskrieg. Jede Stunde kostet. Und treibt auch den | |
politischen Preis in die Höhe. | |
Viele Kriegsbeobachter gibt es. Journalisten, die als Zeugen sofort | |
herbeigetwittert werden, wenn ein Einsatz losgeht. Oder Michael Zobel. Der | |
fachkundige Waldpädagoge aus Aachen ist längst Wort-Widerständler geworden, | |
mit scharfer Analyse und brennender Empathie. Seit über vier Jahren führt | |
er Waldspaziergänge in diesem zauberhaften | |
Hainbuchen-Stileichen-Maiglöckchen-Wald. Zuletzt kamen zweimal an die | |
zehntausend Menschen, um sich „dem IrRWEg in den Weg zu stellen“. | |
Auch mit einer Tausendschaft kriegt die Polizei den Wald nie hermetisch | |
abgeriegelt. Sonntag waren unzählige BesucherInnen eingedrungen. Ein paar | |
hundert drängten Polizeiketten sogar von innen bis an den Waldrand: „Wir | |
sind friedlich – was seid ihr?“ Das ist der Hit, neben dem skandierten | |
„Hambi bleibt!“. | |
Zwischenzeitlich Geräumte haben zwar ein Betretungsverbot des Waldes, sind | |
aber nicht aus der Welt. HambisImExil heißt eine Facebookgruppe. Und es | |
gibt Zellen von außerhalb. Am Montag haben sie die Braunkohlebahn | |
blockiert, neun Stunden lang. Hambi ist überall. Auch stofflich: Neuerdings | |
werden Eicheln säckeweise aus dem Wald gebracht. Zum Pflanzen. Hambi für | |
daheim. | |
## Tipps für die Feuerwehr | |
Es gibt auch Kooperation. Bei einer heiklen Räumung im Baumhaus „Lump“ | |
reden Einsatzleiter der Feuerwehr und ein Besetzer laut miteinander. Der | |
Aktivist gibt klare Ansagen, welche Seile im Astwerk lebensrettend sind. | |
„Wenn sie das da drüben kappen, stürzen die drei da oben ab.“ – „Ja, … | |
sehe, was Sie meinen.“ Drei Leute baumeln in Hängematten in einem | |
Seilsystem, knapp unterm Himmel. | |
Der Feuerwehrmann tut wie geheißen. Bei Lebensgefahr gibt es keine Tabus. | |
Fehlt nur noch das Jobangebot an den versierten Kletterer auf dem Baumhaus. | |
Und da ist der Cyberkrieg: Montag und Dienstag hatten Hacker den Server von | |
RWE runtergefahren. Musik ist Muss im Widerstandskampf. Mal erklingt | |
vielstimmig „Bella Ciao“ – die Hymne der italienischen Partisanen im | |
Zweiten Weltkrieg. Dann spielt ein Baumhausbewohner eine leise | |
Saxofonmelodie, woanders kämpfen mal Flöten, mal Akkordeons gegen den | |
Räumungslärm. Oder man singt Ton Steine Scherben. | |
Die Hubkranfirmen tarnen sich neuerdings: Die Namen sind überklebt, um | |
einen Shitstorm mit Boykottaufrufen zu vermeiden. Apropos Shit: Zur | |
psychologischen Kriegsführung gehört reichlich Scheiße. AktivistInnen | |
schütten schon mal Koteimer von oben auf die Beamten. Die Gegenseite liebt | |
es, den Ekel zu beschreiben, dazu wird Bildmaterial zugeschissener Helme | |
und Uniformen geliefert. Klar sind die Attacken widerlich. Und machen nur | |
bei den Subversivsten gute PR. Die Aachener Nachrichten adelten den | |
Beschiss sogar als welteinmalige Strategie. Heimatstolz ist also auch | |
dabei. | |
## Die digitale Meinungshoheit | |
Über Twitter, Livestreams (etwa taz-Mitarbeiterin [1][@anettselle]) und | |
Blogs sind beide Seiten im ständigen Informationsaustausch. Und führen den | |
Kampf um die Meinungshoheit. Natürlich auch die Polizeitwitterer: Am | |
Dienstag haben sie sich selbst gefeiert, dass man den Aktivisten erlaubt | |
hatte, die Gedenkstätte für den tödlich verunglückten Filmemacher Steffen | |
Meyn wegzuschaffen, bevor endgeräumt wird in diesem Bereich. | |
Als am Dienstag eine Person aus zwei Metern von einer Leiter gefallen sein | |
soll, ist das einen Extratweet wert. Hintergrund: Neuerdings ist die | |
potenzielle Gefahr ein Räumungsargument. So wird Steffens Tod | |
instrumentalisiert. | |
Die Baumhaussiedlung Kleingartenverein blieb bis Montag als eine der | |
letzten intakt. Dann begann die Räumung. Dabei hatte die taz-Aboabteilung | |
gerade die ersten Solidaritäts-Exemplare der Zeitung verschicken wollen. | |
Adressat: Im Hambacher Wald, Baumhaussiedlung Kleingartenverein Baumhaus | |
RentnerInnenglück, Herr „Moses“ Kerpen, Flur 7, Flurstück 50, 50170 Kerpe… | |
2 Oct 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/anettselle | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
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