# taz.de -- 40 Jahre taz: Rebecca Harms und Gorleben: „Ein Riesenerfolg für … | |
> Rebecca Harms, langjährige Europa-Abgeordnete der Grünen aus | |
> Lüchow-Dannenberg, blickt auf über 40 Jahre politische Arbeit zurück. | |
Bild: Neben dem gelben X des atomaren Widerstands: Rebecca Harms im Wendland | |
taz: Nach neueren taz-Gepflogenheiten müssten wir uns siezen. Aber wir | |
kennen uns seit über 40 Jahren, weil ich seinerzeit als taz-Reporterin über | |
den antiatomaren Widerstand im Wendland berichtete. Ist es okay, wenn ich | |
dich weiter duze? | |
Rebecca Harms: Na klar. | |
In der taz-Nullnummer vom 27.9.1978 endet ein Interview mit dir als | |
damaliger Sprecherin der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg so: „Unsere | |
Träume und Sehnsüchte, was das Leben so lohnt, sollen keine Sterne sein, | |
verborgen vom Mond!“ Was sagst du heute dazu? | |
(lacht) Kitsch as kitsch can. Aber mir fällt auf: Man kann beim Lesen kaum | |
unterscheiden, wo die Fragen aufhören und die Antworten beginnen. Das ist | |
keine Kritik, sondern sagt viel über das damalige Verhältnis zwischen taz | |
und dem Widerstand in Gorleben. | |
Du hast 1977 die Bürgerinitiative mitgegründet, als Gorleben zum Standort | |
einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage gemacht werden sollte. Du warst | |
damals erst 21, wie kamst du dazu? | |
Mit Freunden aus der Schule und aus der Jugendzentrumsbewegung hatte ich | |
entschieden, nach dem Abi nicht in die Stadt und an die Uni zu gehen. Wir | |
wollten in der Provinz bleiben und sie verändern. Wir wollten Berufe | |
lernen, die uns für das Landleben richtig erschienen. Ich wurde Gärtnerin. | |
Wir wollten uns von den Plänen der Atomindustrie nicht unsere Zukunftspläne | |
durchkreuzen lassen. Die Bürgerinitiative wählte mich schon bei der | |
Gründung in den Vorstand. Später war ich mehrfach Vorsitzende. | |
Welche Rolle spielte damals die taz für euch? | |
Nicht nur die Parteien, sondern auch die allermeisten Medien unterstützten | |
in den 1970er und 1980er Jahren die Atomenergie. Das änderte sich erst mit | |
Tschernobyl. Auf unserer Presseliste standen bundesweit vielleicht ein | |
Dutzend Journalisten, die offen für Kritik an der Atomkraft waren. Dazu kam | |
dann die taz. Sie entsprang einem ähnlichen Geist wie die Landkommunen, die | |
wir im Wendland gründeten. Es ging nicht allein um Technikkritik. Es ging | |
um ein Lebensgefühl, sich nicht der Konsumgesellschaft zu unterwerfen. | |
Geprägt von den Ideen einiger Öko-Vordenker wollten wir zeigen, dass | |
weniger mehr ist. | |
Waren die 40 Jahre Widerstand in Gorleben ein Erfolg? | |
Ein Riesenerfolg. Die Anti-Atom-Bewegung hat für den Atomausstieg und die | |
Energiewende Voraussetzungen geschaffen. Ohne die Arbeit der | |
Bürgerinitiative würde es im Wendland heute so aussehen wie rund um die | |
Wiederaufbereitungsanlagen in Windscale/ Sellafield und in La Hague – zwei | |
der gefährlichsten Orte, die die Atomindustrie hinterlassen wird. Es gibt | |
in Gorleben das Zwischenlager, aber keine Wiederaufbereitungsanlage, hier | |
wird kein Atommüll behandelt oder verpackt und auch nicht 1.000 Meter tief | |
im Salz vergraben. Unsere Generation wird ein betriebsfertiges Endlager | |
nicht erleben. Ich halte es für einen der größten Erfolge, dass eine neue | |
Standortsuche möglich ist. Auch wenn Gorleben trotz der Nichteignung des | |
Salzstocks nicht ausgeschlossen wurde, sehe ich die Chance, eine | |
verantwortbare Endlagerung vorzubereiten, als größer denn je an. | |
Das Hüttendorf der „Freien Republik Wendland“, das im Mai 1980 aus Protest | |
gegen das Endlager auf der Tiefbohrstelle 1004 entstand und einen Monat | |
später von der Polizei geräumt wurde, ist bis heute ein Mythos. | |
Viele Jahre nach der Freien Republik erhielt ich vom Generalbundesanwalt | |
die Nachricht, dass die Verfahren gegen mich wegen Anführung einer | |
terroristischen und einer kriminellen Vereinigung eingestellt wurden. | |
Obwohl wir als Bürgerinitiative unseren zivilen Ungehorsam strikt gewaltlos | |
gestalteten, wurden etliche von uns in der Zeit des „Deutschen Herbstes“ | |
und der Konfrontation zwischen RAF und Staat als Terroristen abgestempelt. | |
Durch Akteneinsicht erfuhr ich von jahrelanger Überwachung meines Telefons, | |
meines Hauses und eingeschleusten V-Leuten im Wendland. Die Kritik am | |
Verfassungsschutz in Deutschland hat eine lange Geschichte. | |
Ist das Wendland eine Modellregion für das Potenzial von zivilem | |
Ungehorsam? | |
Die Bereitschaft zum zivilen Ungehorsam ist wichtig gewesen. Aber genauso | |
wichtig war es, das wir uns viel Wissen erarbeitet und Atomindustrie und | |
Politik qualifiziert herausgefordert haben. Das Wendland war ein Ort der | |
frühen Bürgergesellschaft. Mit Helmut Lippelt haben Marianne Fritzen, | |
Undine von Blottnitz und Martin Mombauer, alles Mitglieder unserer | |
Bürgerinitiative, die Grünen in Niedersachsen gegründet. Ich hielt mich da | |
raus, weil ich sicher war, dass wir mit dem Elan der Bewegung die | |
Atomindustrie schlagen könnten, lange bevor der zähe Marsch in die | |
Parlamente Erfolg hätte. Da lag ich falsch. Die Anti-Atom-Bewegung hätte es | |
ohne die Grünen nicht geschafft und umgekehrt. Die Bürgergesellschaft im | |
Wendland hat sich im Winter 2015 in einem großen Einsatz in der | |
Flüchtlingsarbeit neu bewiesen. Und die AfD hat hier geringe Unterstützung. | |
Und wie bist du in die Politik geraten? | |
Auch wenn mir das niemand so recht glaubt, weil ich ja immer eine große | |
Klappe hatte: Ich bekam Selbstzweifel, weil ich nicht studiert hatte. Ich | |
arbeitete als Gärtnerin und begann in Hamburg und Berlin Vorlesungen in | |
Literaturwissenschaft zu hören. Meine enge Freundin Undine von Blottnitz | |
wurde 1984 mit den ersten Grünen ins Europa-Parlament gewählt und sagte: | |
„Komm mit. Das wird spannender als Literaturwissenschaft“. Ich machte bis | |
Ende 1988 ihr Büro. Der unerbittliche Streit zwischen „Fundis“ und „Real… | |
stieß mich ab, ich fand keine Nähe zur Partei. Meine wichtigste Arbeit war | |
1986 die Koordination der Berichte des Europaparlamentes zu den Folgen des | |
Supergaus von Tschernobyl. Ich knüpfte ein Netzwerk von Wissenschaftlern | |
und Aktivistinnen rund um die Welt. Mit vielen arbeite ich bis heute. | |
War Tschernobyl ein Wendepunkt? | |
Ja. Seitdem gibt es in der Bundesrepublik klare Mehrheiten gegen Atomkraft. | |
Auch für mich persönlich gab es einen einschneidenden: Ich wurde 1988 vom | |
sowjetischen PEN-Club eingeladen, Tschernobyl zu besuchen und danach | |
öffentlich in Kiew und Moskau darüber zu diskutieren. Ich habe über „Eine | |
Reise in die Zone“ eine große taz-Geschichte geschrieben. Was ich zu sehen | |
bekam, war unglaublich. Tausende junge Soldaten und Soldatinnen in riesigen | |
Zeltlagern, die nur mit Schaufeln und Schubkarre riesige Gebiete | |
„säuberten“. Das sowjetische Imperium warf Menschen in die Schlacht gegen | |
die unsichtbare Gefahr, die später sich selbst überlassen wurden. Niemand | |
weiß, wieviele jämmerlich verreckten. Heute wissen wir, dass Tschernobyl | |
auch den Zerfall der Sowjetunion beschleunigte. Die Freundschaften, die ich | |
dort 1988 schloss, prägen mich bis heute. | |
Daher auch dein Engagement für die 1992 unabhängig gewordene Ukraine? | |
Der Besuch in Tschernobyl hat mich an das Land, das es damals noch gar | |
nicht gab, gebunden. Der Osten Europas hat mich damals umarmt und mich | |
nicht wieder losgelassen. Ich entschied mich 2004 für das Europaparlament, | |
weil ich das Zusammenwachsen zwischen West und Ost in Europa mit gestalten | |
wollte. Und 2013 musste ich mit meinen Freunden auf dem Maidan sein. Ich | |
erlebte als eine der ersten Grünen, wie sich der russische Infokrieg | |
anfühlt. Russische Trolle denunzierten mich als „Faschistenhure“ und | |
„Faschistenflittchen“. Und ich beobachtete selbst unter Grünen oder im | |
Wendland die Wirkung dieser Propaganda. Statt mich zu unterstützen, wurde | |
mir empfohlen, im beginnenden Europawahlkampf das Thema zu wechseln. Bei | |
den Bewertungen der Ereignisse in der Ukraine sowohl bei den Grünen als | |
auch in Deutschland insgesamt hatte ich früh das Gefühl, dass etwas | |
auseinandergeht. | |
Nach Tschernobyl warst du auch in Fukushima? | |
Ja, 2012, ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe. Ich dachte in Tschernobyl, | |
dass die sowjetische Regierung und Armee unmenschlich mit den Leuten | |
umging. Aber die Japaner sind nicht besser. Es ist gut, dass die WHO seit | |
diesem Sommer endlich gegen das Verheizen von Leiharbeitern in Fukushima | |
angeht. | |
Du willst bei den Europawahlen im Mai 2019 nicht mehr antreten. Warum | |
nicht? | |
Ich bin mit der Ausrichtung der europäischen Grünen oft nicht | |
einverstanden. Die Frage, woher die politischen Verschiebungen in Europa | |
rühren und was wir Grünen falsch machen in der Reaktion auf Rechte und | |
antieuropäische Populisten, wird nur vordergründig beantwortet. Es reicht | |
mir nicht zu behaupten, dass wir als die besseren Europäer ein Gegenpol | |
sein müssen oder dass mehr EU- Investitionen oder die Abschaffung der | |
Zeitumstellung ein Gegenmittel sind. | |
Also „zurück an die Basis“, wie wir es damals nannten? | |
Zurück in die Heimat. Ich fange an, von der neuen Freiheit zu träumen. | |
Vielleicht mache ich noch mal Filme mit der „Wendländischen | |
Filmkooperative“. Zum Beispiel über ein Dorf bei Kharkiv, dass für | |
Tschernobyl-Flüchtlinge gebaut wurde und in dem inzwischen viele Menschen | |
aufgenommen wurden, die vor Putins Krieg im Donbas geflüchtet sind. Ute | |
Scheub | |
27 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Ute Scheub | |
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