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# taz.de -- Haftstrafen für Schwarzfahren: Wer zu arm ist, kommt in den Knast
> Jährlich sitzen etwa 7.000 Schwarzfahrer im Gefängnis. Sie verbüßen eine
> Ersatzfreiheitsstrafe.
Bild: Der öffentlicher Nahverkehr ist eine Lebensader
Herr B. erscheint nicht. Zweimal hat ihn Richterin Pelz an diesem heißen
Augustmorgen aufgerufen. Er soll in Saal 134 im Gebäude B des Amtsgerichts
Berlin-Moabit erscheinen. Sie wartet. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Nichts
passiert. Dann vollstreckt sie das Urteil: Der Strafbefehl wird
rechtskräftig, Herr B. muss zahlen: ein Bußgeld für das Erschleichen von
Leistungen und die Verhandlungskosten.
Sein Verteidiger kann nichts für ihn tun: Ihm fehlt eine Vollmacht. Während
er seine Akten in die Tasche steckt, wirbt er – und es wirkt charmant –
doch noch einmal bei der Richterin um Verständnis: Wie einfach man zum
Erschleichen dieser Leistung komme, sagt er, habe er neulich in Hamburg
erlebt: „Da war mit einem Mal ein Teil meines Zuges privat, und mein Ticket
galt nicht.“ Die Richterin nickt.
Noch im nach abgestandenem Schweiß riechenden Gerichtssaal stehend, sagt
sie, dass niemand möchte, dass Verfahren wegen Beförderungserschleichung
mit Haft enden. Die Medien berichteten jedoch einseitig. Es gebe viele
Bemühungen, dass es nicht dazu kommt: Man kann das erhöhte
Beförderungsentgelt in Raten zahlen oder die Geldbuße durch soziale Arbeit
ableisten. „Nur, was soll die Justiz tun, wenn jemand auf nichts reagiert?“
Schwarzfahren – das Wort soll vom Jiddischen shwarz = arm abgeleitet sein
und der sprachlichen Herkunft nach also „arm fahren“ bedeuten – ist eine
Straftat und wird nach Ermessen der Verkehrsunternehmen meist ab dem
dritten Mal angezeigt. Dann droht zusätzlich zum erhöhten
Beförderungsentgelt von 60 Euro auch eine Geldstrafe. Wer die nicht
begleicht, muss mit Haft rechnen.
Laut Verband Deutscher Verkehrsunternehmen verbüßten deutschlandweit
zuletzt etwa 7.000 von 230.000 angezeigten Schwarzfahrern eine
Ersatzfreiheitsstrafe. Allein in Berlin laufen pro Jahr etwa 40.000
Ermittlungsverfahren wegen Beförderungserschleichung. In der
Justizvollzugsanstalt Plötzensee saß zeitweise ein Drittel der Insassen
Ersatzfreiheitsstrafen ab, meist wegen Schwarzfahrens. Ist diese Strafe
angemessen? Löst man so das Problem?
Das WDR-Politikmagazin „Monitor“ hat bei den Bundesländern nachgefragt, wie
viel die Verfahren den Staat jährlich kosten. Ergebnis: 200 Millionen Euro.
Selbst der Deutsche Richterbund spricht sich für die Abschaffung des
Straftatbestands aus. Durch die strafrechtliche Ahndung von
Schwarzfahrvergehen kämen die ohnehin schon überlasteten Gerichte an ihr
Limit.
An diesem Freitag verhandelt eine Kollegin von Richterin Pelz in einem
anderen Saal des Berliner Amtsgerichts über drei weitere Fälle von
Beförderungserschleichung: den einer Spanierin, die dreimal ohne Ticket
gefahren ist, den einer Frau mit Schizophrenie, deren Akte neben 11-maliger
Beförderungserschleichung auch Ladendiebstahl umfasst, und den eines
Mannes, der wegen Beförderungserschleichung in sieben Fällen angeklagt
wird. Niemand erscheint.
Die Spanierin wird noch einmal bestellt, die an Schizophrenie Leidende für
schuldfähig befunden und zu 80 Tagen verurteilt. „Schizophrenie ist keine
Entschuldigung“, sagt die Richterin. Der chronische Schwarzfahrer soll das
nächste Mal von der Polizei vorgeführt werden.
## 100 Tage Knast
Einer, der schon mal im Gefängnis war wegen viermaliger
Beförderungserschleichung, steht mit verwuschelten Haaren und schwarzem
T-Shirt auf dem vollen Bahnsteig des S-Bahnhofs Sonnenallee in Berlin
Neukölln. Paul soll er hier heißen. Paul Z. Im Jahr 2013 war er im Knast.
100 Tage lang. Obwohl er mittlerweile eine Monatskarte hat, schätzt er –
alte Schwarzfahrergewohnheit – die anderen Wartenden ab: Es könnte ja doch
ein Kontrolleur darunter sein. Er wurde hier schon mal erwischt.
Im Leben des 34-Jährigen lief einiges schief. Der Vater Alkoholiker. Einer,
der zuschlug. „Schon mit neun habe ich mich geritzt, gezündelt und
geklaut.“ Hilfeschreie seien das gewesen, Sachen, die ein Kind macht, um zu
zeigen, dass etwas nicht stimmt. Seine Mutter schickte ihn zum Psychiater.
Der verabreicht Psychopharmaka.
Er war zwölf, als er von den Medikamenten auf Alkohol und harte Drogen
umstieg. Mit 14 lief er von zu Hause weg, war fortan einer der Punks, die
am Berliner Zoo abhingen. Mit 26 bekam er eine drogeninduzierte Psychose:
Aus der Zeit stammen seine vier Anzeigen. Er dreht sich eine Zigarette,
leckt am Klebstreifen, sagt: „Schwarzfahren hat mir ’s Genick gebrochen.“
Deswegen ist er verschuldet und vorbestraft. „Ich kriege keine Wohnung,
nicht mal ’n Handyvertrag.“
Auf dem Bahnsteig versucht ein junger Mann, ein Straßenmagazin zu
verkaufen. Die meisten fächern sich Luft zu und warten auf die S-Bahn, ohne
zu reagieren. Paul Z. wirft ein paar Cent in seinen Pappbecher: „Mehr habe
ich selber nicht.“
## Das „trifft nur die sozial Schwachen“
Die Gefängnisstrafen fürs Schwarzfahren – im Juristendeutsch
„Ersatzfreiheitsstrafen“ genannt – sind eine Blaupause des Zustands der
Gesellschaft. Paul Z. bringt das mit einem einfachen Satz auf den Punkt:
„Mit der jetzigen Gesetzeslage wird Armut kriminalisiert.“
Die Soziologin Nicole Bögelein findet das auch: „Die Ersatzfreiheitsstrafe
trifft nur die sozial Schwachen, da die Zahlungsunfähigkeit quasi
Voraussetzung zur Verhängung der Strafe ist“, sagt die Mitarbeiterin des
Instituts für Kriminologie der Universität Köln am Telefon. Sie hat ein
Buch über die Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen geschrieben.
Tatsächlich zeigt eine Studie aus Nordrhein-Westfalen von 2018: Das Delikt
ist ein Prekariatsproblem. 58 Prozent der Menschen, die eine
Ersatzfreiheitsstrafe in NRW verbüßen, sind langzeitarbeitslos, 21 Prozent
obdachlos, 13 Prozent alkoholabhängig, 32 Prozent drogenabhängig. Bei 17
Prozent ist eine Suizidgefährdung dokumentiert. Wenn sich daraus kein
politischer Handlungsbedarf ableitet, woraus dann?
In Neugilching, einem Stadtteil von München, steigt Luna S. in die S-Bahn
und packt ein Schild aus. „Ich fahre ohne Ticket! Alles für alle und zwar
umsonst!“ steht darauf. Sie fährt bewusst ohne Fahrschein. Und zwar immer.
Dass Schwarzfahren arme Menschen ins Gefängnis bringen kann, sei einer der
Gründe, warum sie das tue. Die 21-Jährige versteht das Fahren ohne
Fahrkarte als Teil ihrer politischen Arbeit.
## Nulltarif für alle
Es ist heiß an diesem Nachmittag in München, Lunas Freund ist mitgekommen,
barfuß, die beiden sind schwarz gekleidet und tragen Antifa-T-Shirts. Der
Waggon ist recht leer, doch Luna S. fragt die wenigen Fahrgäste, ob sie
einen Flyer mit Argumenten für den Nulltarif wollen. Die meisten schütteln
den Kopf.
„Mobilität ist ein Menschenrecht“, sagt die Aktivistin, die auch im
Hambacher Forst gegen den Braunkohletagebau kämpft. Sie fordert die
Entkriminalisierung von Schwarzfahren und kostenfreie Verkehrsmittel:
Menschen, die sich kein Ticket leisten können, würden doch in ihrer
Bewegungsfreiheit und in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
beschnitten. Zudem findet sie, dass es ökologisch untragbar sei, dass
öffentliche Verkehrsmittel so teuer sind.
Dass das eine relevante Argumentation ist, meinen auch einige Politiker. Im
Februar wurde im Bundestag über einen kostenlosen öffentlichen
Personennahverkehr debattiert. Grüne und Linke waren dafür. Kein Geld,
meinten die Sprecher beider Parteien, sei kein Argument.
Stefan Gelbhaar von den Grünen sagte: „Das Angebot von Bus und Bahn muss
gut sein, aber eben auch bezahlbar. Das ist für viele Menschen nicht mehr
gegeben. Deswegen gibt es so viele Schwarzfahrer.“ Und dann, an die
Regierungsparteien gerichtet: „Da, wo Sie heute den Diesel subventionieren,
müssen wir in Zukunft den ÖPNV sowie den Fuß- und Radverkehr unterstützen.�…
## Die Debatte wird kontrovers geführt
Die sozialen und ökologischen Probleme, die mit dem Nahverkehr
zusammenhängen, sind in der Politik bekannt. In einigen Städten wird seit
dem Dieselskandal mit 1-Euro-Tickets experimentiert. Auch über
Beförderungserschleichung wird seit Jahrzehnten kontrovers debattiert.
Im September 2017 sprach sich der nordrhein-westfälische Justizminister
Peter Biesenbach, CDU, für die Entkriminalisierung des Delikts aus: um die
Behörden zu entlasten. So setzte er eine neue Diskussion in Gang.
Im April legten die Linke und die Grünen Entwürfe für eine entsprechende
Gesetzesänderung vor. Die Linke fordert Straffreiheit, die Grünen wollen
den Straftatbestand zur Ordnungswidrigkeit herabstufen. Es ist ein Vorstoß,
die politische Mehrheit dafür ungewiss. Ende September soll es nun eine
öffentliche Aussprache im Bundestag dazu geben.
Luna S. wollte früher auch in die Politik. Schnell habe sie gemerkt, dass
das nicht das Richtige für sie ist. Jetzt bezeichnet sie sich als
Vollzeitaktivistin. Mit 15 habe sie die Schule abgebrochen, um sich darauf
zu konzentrieren, und es bisher nicht bereut. Denn für sie ist der
politische Aktivismus zur Lebensschule geworden. „Ich weiß jetzt, wie ich
mich selbst und andere verteidigen kann, auch vor Gericht.“ Zudem lernte
sie, wie man Pressemitteilungen schreibt, wie man sich an einen Kohlenzug
ankettet, wie man einen Workshop zu zivilem Ungehorsam veranstaltet und
vieles mehr.
2015 war sie nach einer Protestaktion im Hambacher Forst einen Monat in
Untersuchungshaft: wegen Landfriedensbruch und Sachbeschädigung. Das hat
sie nicht abgeschreckt. Auch jetzt, wo im Hambacher Forst wieder gerodet
werden soll, ist sie bei den Protesten dabei.
## Luna S. ist optimistisch
Im April wurde sie dreimal beim Schwarzfahren mit Schild kontrolliert:
Inzwischen hat sie einen Brief von der Polizei bekommen und wartet, dass
die Ermittlungen abgeschlossen werden und das Verfahren beginnt. Die
Wahrscheinlichkeit, dass sie ins Gefängnis muss, schätzt sie eher gering
ein: Sie rechnet aufgrund bisheriger Urteile mit einem Freispruch oder der
Einstellung des Verfahrens.
In der Tat gab es in Fällen mit „Ich fahre umsonst“-Schild schon
Freisprüche: Das Landgericht Gießen sprach den Schwarzfahraktivisten Jörg
Bergstedt 2016 vom Vorwurf der Beförderungserschleichung frei und folgte
damit seiner Argumentation, dass er, weil er ein Schild trug, auf dem
stand, dass er kein Ticket hat, sich die Fahrt nicht erschlich. Er habe
also niemanden getäuscht. Der bewusst umsonst fahrende Aktivist Dirk Jessen
wurde im Mai in München freigesprochen.
Unter Kriminalwissenschaftlern ist es umstritten, ob die kostenlose Nutzung
von Bus oder Bahn überhaupt den Tatbestand der Leistungserschleichung
erfüllt: Die Vorschrift stammt aus den 1930er Jahren. Für eine
„Erschleichung“ im juristischen Sinne, so die Zweifler, müssten die
Schwarzfahrenden die Fahrer oder Kontrolleure bewusst täuschen oder eine
Schranke überwinden – Drehkreuze aber gibt es in Deutschland nicht.
Die meisten wissen nicht einmal, dass das Fahren ohne Ticket als
Leistungserschleichung gilt. Und die, die deswegen angezeigt werden,
bekommen davon oft nicht einmal etwas mit.
So wie Paul Z. Die Zahlungsaufforderungen des Verkehrsunternehmens wie auch
die Schreiben von Inkassounternehmen und Staatsanwaltschaft kamen nie bei
ihm an. Weil er obdachlos war, gingen die Briefe an eine alte Adresse. Er
erfuhr erst bei einer weiteren Fahrscheinkontrolle, dass ein Haftbefehl
gegen ihn vorlag. An die genauen Vorgänge erinnert er sich nur
bruchstückhaft: „Ich war sturzbetrunken, hab wohl randaliert.“ Die
Kontrolleure riefen die Polizei: „Die haben mich gleich eingefahren.“
Paul Z. hatte keine Chance mehr, eine Ratenzahlung für das erhöhte
Beförderungsentgelt zu vereinbaren und eine Umwandlung der Strafe in Arbeit
zu erreichen.
## Schwitzen statt sitzen
Seit 1975 gibt es in Deutschland die Möglichkeit, Geldstrafen bei
Zahlungsunfähigkeit abzuarbeiten: Ein Tagessatz der Geldstrafe wird dann
nicht in einen Tag Ersatzfreiheitsstrafe umgerechnet, sondern in vier bis
sechs Stunden gemeinnützige Arbeit. „Schwitzen statt sitzen“ ist das Motto.
„Schwitzen statt sitzen, ja, schön wär’s.“ Paul Z. schüttelt den Kopf:
Dafür braucht es eine Gewieftheit, die er damals nicht mehr hatte. „Dass
ich eine Psychose habe und selbst so was Alltägliches wie ein Ticketkauf
eine Herausforderung für mich war, hat nicht interessiert.“
Auf seiner Station im Knast sei er kein Einzelfall gewesen: „Da saßen fast
nur Menschen, die absolut fertig waren.“ Die meisten hätten nie gelernt,
Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Im Gefängnis lernten sie es erst
recht nicht.
Einer, erzählt er, als er sich eine Zigarette anzündet, sei so neben der
Spur gewesen, dass er nicht wusste, wo er ist. „ ‚Das ist hier ja wie
Gefängnis‘, sagte der irgendwann.“ Wenn jemand auf Mahnungen und
Gerichtsbriefe nicht reagiere, sollte man Sozialarbeiter statt Polizisten
schicken. Das jetzige System sei absurd und am Ende blieben Schwarzfahrer
trotz Haft auf ihren Schulden sitzen. So wie er.
Er raucht zu Ende und schnipst seinen Zigarettenstummel auf das Gleis. Er
schuldet den Verkehrsunternehmen noch 2.000 Euro. Die Hauptsumme rührt von
den Mahngebühren der Inkassounternehmen her. Eine Privatinsolvenz – also
eine gerichtliche Schuldenregulierung – kommt für ihn nicht infrage. Zwar
würden ihm auf diesem Weg in spätestens sechs Jahren die Schulden erlassen,
zunächst aber müsste er Gerichtskosten von 1.000 bis 1.800 Euro tragen, die
er nicht hat.
## Straftat oder Ordnungswidrigkeit
Dass das Fahren ohne Ticket eine Straftat sein soll, Verkehrsdelikte wie
Falschparken aber nur eine Ordnungswidrigkeit, verstehen viele nicht.
Selbst der Deutsche Richterbund sieht in Sachen Schwarzfahren nicht den
Gesetzgeber, sondern die Verkehrsbetriebe in der Pflicht. Sie sollten mehr
tun, damit weniger schwarzgefahren wird.
Beim Verband Deutscher Verkehrsbetriebe wiederum zeigt man kein Verständnis
für die Überlegung, Schwarzfahren auf eine Ordnungswidrigkeit
herabzustufen: „Der zu erwartende finanzielle Schaden für die öffentliche
Hand ist aufseiten der betroffenen Verkehrsunternehmen ungleich größer als
die Entlastung im Justizapparat“, schreibt die Pressesprecherin. Der
öffentliche Nahverkehr werde zu 50 Prozent aus Ticketeinnahmen finanziert.
Derzeit entgingen den Verkehrsunternehmen durch Schwarzfahren Einnahmen in
Höhe von 250 Millionen Euro im Jahr.
Im Hamburger Hauptbahnhof steht Thorsten K. an einem Imbiss und trinkt den
letzten Schluck seines Latte macchiato. Der schwarz gekleidete, schüchtern
auftretende 35-Jährige sieht die Sache aus Kontrolleurssicht: „Wenn
Schwarzfahren eine Ordnungswidrigkeit wäre, würden die Leute bei Kontrollen
den Mittelfinger zeigen.“ Dann nämlich dürfe man sie nicht mehr von der
Flucht abhalten.
Die Kontrolleure berufen sich auf die sogenannten Jedermannsrechte: Wenn
man jemanden bei einer Straftat erwischt, kann man ihn festhalten, bis die
Polizei kommt.
Der ehemalige Kontrolleur saß vor zehn Jahren selbst wegen
Beförderungserschleichung im Gefängnis. Als er nach zwei Wochen Beugehaft
erneut vor Gericht stand, entschied er, den Rest der Geldstrafe durch
soziale Arbeit abzuleisten. Er fand eine Stelle im Gartenbau, die ihm sogar
Spaß machte. Ohne Ticket sei er danach nie mehr gefahren: „Es hat klick
gemacht, als der Richter meinte, dass ich das nächste Mal länger ins
Gefängnis muss.“
## Bedenken hatte er keine
Thorsten K. möchte jetzt möglichst weit weg vom Hauptbahnhof: „Da sind
lauter Kollegen.“ Bis vor zwei Monaten hat er für eine Securityfirma als
Kontrolleur gearbeitet. Seine Firma hatte in der Objektbewachung keine
Aufträge. „Ich hatte die Wahl, für ein Subunternehmen der S-Bahn zu
kontrollieren oder arbeitslos zu werden.“ Da wurde er Kontrolleur.
Moralische Bedenken hatte er keine: „Die meisten fahren schwarz, weil sie
nicht einsehen, sich ein Ticket zu kaufen.“ So wie er früher.
Wenn Schwarzfahrer wegliefen, erzählt er, verfolgte er sie, „weil ich mir
verarscht vorkam.“ Dabei werden Kontrolleure in Schulungen dazu angehalten,
die Leute laufen zu lassen: „Da heißt es nur, die Dummen und Faulen
aufschreiben.“ So 15 Leute schrieb er am Tag auf, sagt er, etwa 10 ließ er
gehen: „Manchmal kamen mir fast die Tränen. Menschen ab 70 habe ich aus
Prinzip laufen lassen“, sagt der Zweimetermann.
Eine offizielle Quote, wie viele man erwischen müsse, gebe es nicht, aber
15 pro Tag sollen es schon sein. So etwas wie Kopfgeld bekämen nur
Festangestellte: 50 Cent pro Person. „Peanuts.“
Mittlerweile arbeitet Thorsten K. wieder in der Objektüberwachung. Den
Kontrolleursjob hat er hingeschmissen: Zu viel Stress. Er krempelt seine
Jeans hoch und zeigt eine rosa Narbe am Unterschenkel. Ein Mann habe ihm
beim Versuch, zu fliehen, sein Fahrrad gegen das Bein gerammt.
Luna S. kennt die Gewalt von der anderen Seite. Einmal sei einer der
Kontrolleure brutal geworden. Meist aber blieben sie cool. „Ist das jetzt
ernst gemeint?“, fragen viele, wenn sie ihr Schild sehen, und verlangen
ihre Personalien. Sie mache keinen Stress und gebe ihren Ausweis. Einmal
sei sie von Kontrolleuren erwischt worden, die nicht wussten, was tun,
und ihren Chef anriefen. „Keine Beachtung schenken“, habe der gesagt.
## Das „Stadtteilticket Extra“ in Bremen
Thorsten K. findet Zwangssozialtickets für chronische Schwarzfahrer
richtig. Die Stadt Bremen hat sich dafür entschieden. Sie bezuschusst das
„Stadtticket Extra“ für eine Gruppe Menschen, die aus Not oder aus
Krankheitsgründen wiederholt schwarzgefahren sind und deswegen im Gefängnis
waren – Obdachlose etwa, Alkohol- und psychische Kranke oder
Alleinerziehende. Statt 38,90 Euro zahlen sie nur 10,50 Euro im Monat.
Wer dieses „Stadtticket extra“ hat, muss mit einer Betreuung durch soziale
Dienste einverstanden sein. Außerdem sind die InhaberInnen beim Bremer
Verkehrsunternehmen registriert für den Fall, dass die Fahrkarte mal
vergessen wird.
Vieles spricht dafür, Schwarzfahren nicht länger als Straftat zu bewerten.
Thorsten K., der Ex-Kontrolleuer, der einst selbst wegen Schwarzfahrens im
Gefängnis saß, fände Sozialstunden eine angemessene Vergeltung.
Geldstrafen hält er nicht für abschreckend. „Wer kann, zahlt einfach. Oder
man ist eben zahlungsunfähig. Deswegen Gefängnis macht für niemanden Sinn.“
Ob die Anhörung im Bundestag, die Ende September stattfinden soll, etwas
bewirken wird, ist ungewiss. Obwohl der Vorstoß zur Abschaffung des
Straftatbestandes aus den eigenen Reihen kam, war die CDU bei einer
Bundesratsaussprache dagegen. Der CDU-Abgeordnete Ingmar Jung erklärte,
Schwarzfahren sei in höchstem Maße unsolidarisch. Sein CSU-Kollege
Alexander Jung betonte: „Das wird es mit uns nicht geben.“ Aus
Armutsgründen würden auch viele weitere Straftaten begangen.
Karl-Heinz Brunner, SPD, zeigte sich offen für die Vorschläge der
Opposition, warnte aber vor einem „Schnellschuss“: Das Strafrecht dürfe
nicht die Baustelle sein, an der Armut in Deutschland repariert werde.
Luna S. hofft, dass die Ersatzfreiheitsstrafe abgeschafft wird:
„Gefängnisstrafen stigmatisieren. Kommt einer dann raus, hat er immer noch
kein Geld fürs Ticket.“
Und Paul Z.? Der ist seit vier Jahren clean und trocken. Vor einigen
Monaten hat er eine Stelle gefunden: als persönlicher Assistent eines
behinderten Menschen. Heilpädagogik wollte er immer machen. Dass es ihm
gelungen ist, kann er kaum glauben: „Im sozialen Bereich wird ja immer nach
Vorstrafen gefragt. Aber bei meinem Vorstellungsgespräch hieß es nur: ‚Ach,
na ja, Schwarzfahren.‘ “
7 Sep 2018
## AUTOREN
Eva-Lena Lörzer
Luciana Ferrando
## TAGS
Fahren ohne Fahrschein
Schwerpunkt Hambacher Forst
Lesestück Recherche und Reportage
Dirk Behrendt
Hamburg
Lesestück Recherche und Reportage
JVA Plötzensee
Fahren ohne Fahrschein
Schwerpunkt Armut
Verkehr
Öffentlicher Nahverkehr
ÖPNV
Straftat
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