| # taz.de -- Haftstrafen für Schwarzfahren: Wer zu arm ist, kommt in den Knast | |
| > Jährlich sitzen etwa 7.000 Schwarzfahrer im Gefängnis. Sie verbüßen eine | |
| > Ersatzfreiheitsstrafe. | |
| Bild: Der öffentlicher Nahverkehr ist eine Lebensader | |
| Herr B. erscheint nicht. Zweimal hat ihn Richterin Pelz an diesem heißen | |
| Augustmorgen aufgerufen. Er soll in Saal 134 im Gebäude B des Amtsgerichts | |
| Berlin-Moabit erscheinen. Sie wartet. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Nichts | |
| passiert. Dann vollstreckt sie das Urteil: Der Strafbefehl wird | |
| rechtskräftig, Herr B. muss zahlen: ein Bußgeld für das Erschleichen von | |
| Leistungen und die Verhandlungskosten. | |
| Sein Verteidiger kann nichts für ihn tun: Ihm fehlt eine Vollmacht. Während | |
| er seine Akten in die Tasche steckt, wirbt er – und es wirkt charmant – | |
| doch noch einmal bei der Richterin um Verständnis: Wie einfach man zum | |
| Erschleichen dieser Leistung komme, sagt er, habe er neulich in Hamburg | |
| erlebt: „Da war mit einem Mal ein Teil meines Zuges privat, und mein Ticket | |
| galt nicht.“ Die Richterin nickt. | |
| Noch im nach abgestandenem Schweiß riechenden Gerichtssaal stehend, sagt | |
| sie, dass niemand möchte, dass Verfahren wegen Beförderungserschleichung | |
| mit Haft enden. Die Medien berichteten jedoch einseitig. Es gebe viele | |
| Bemühungen, dass es nicht dazu kommt: Man kann das erhöhte | |
| Beförderungsentgelt in Raten zahlen oder die Geldbuße durch soziale Arbeit | |
| ableisten. „Nur, was soll die Justiz tun, wenn jemand auf nichts reagiert?“ | |
| Schwarzfahren – das Wort soll vom Jiddischen shwarz = arm abgeleitet sein | |
| und der sprachlichen Herkunft nach also „arm fahren“ bedeuten – ist eine | |
| Straftat und wird nach Ermessen der Verkehrsunternehmen meist ab dem | |
| dritten Mal angezeigt. Dann droht zusätzlich zum erhöhten | |
| Beförderungsentgelt von 60 Euro auch eine Geldstrafe. Wer die nicht | |
| begleicht, muss mit Haft rechnen. | |
| Laut Verband Deutscher Verkehrsunternehmen verbüßten deutschlandweit | |
| zuletzt etwa 7.000 von 230.000 angezeigten Schwarzfahrern eine | |
| Ersatzfreiheitsstrafe. Allein in Berlin laufen pro Jahr etwa 40.000 | |
| Ermittlungsverfahren wegen Beförderungserschleichung. In der | |
| Justizvollzugsanstalt Plötzensee saß zeitweise ein Drittel der Insassen | |
| Ersatzfreiheitsstrafen ab, meist wegen Schwarzfahrens. Ist diese Strafe | |
| angemessen? Löst man so das Problem? | |
| Das WDR-Politikmagazin „Monitor“ hat bei den Bundesländern nachgefragt, wie | |
| viel die Verfahren den Staat jährlich kosten. Ergebnis: 200 Millionen Euro. | |
| Selbst der Deutsche Richterbund spricht sich für die Abschaffung des | |
| Straftatbestands aus. Durch die strafrechtliche Ahndung von | |
| Schwarzfahrvergehen kämen die ohnehin schon überlasteten Gerichte an ihr | |
| Limit. | |
| An diesem Freitag verhandelt eine Kollegin von Richterin Pelz in einem | |
| anderen Saal des Berliner Amtsgerichts über drei weitere Fälle von | |
| Beförderungserschleichung: den einer Spanierin, die dreimal ohne Ticket | |
| gefahren ist, den einer Frau mit Schizophrenie, deren Akte neben 11-maliger | |
| Beförderungserschleichung auch Ladendiebstahl umfasst, und den eines | |
| Mannes, der wegen Beförderungserschleichung in sieben Fällen angeklagt | |
| wird. Niemand erscheint. | |
| Die Spanierin wird noch einmal bestellt, die an Schizophrenie Leidende für | |
| schuldfähig befunden und zu 80 Tagen verurteilt. „Schizophrenie ist keine | |
| Entschuldigung“, sagt die Richterin. Der chronische Schwarzfahrer soll das | |
| nächste Mal von der Polizei vorgeführt werden. | |
| ## 100 Tage Knast | |
| Einer, der schon mal im Gefängnis war wegen viermaliger | |
| Beförderungserschleichung, steht mit verwuschelten Haaren und schwarzem | |
| T-Shirt auf dem vollen Bahnsteig des S-Bahnhofs Sonnenallee in Berlin | |
| Neukölln. Paul soll er hier heißen. Paul Z. Im Jahr 2013 war er im Knast. | |
| 100 Tage lang. Obwohl er mittlerweile eine Monatskarte hat, schätzt er – | |
| alte Schwarzfahrergewohnheit – die anderen Wartenden ab: Es könnte ja doch | |
| ein Kontrolleur darunter sein. Er wurde hier schon mal erwischt. | |
| Im Leben des 34-Jährigen lief einiges schief. Der Vater Alkoholiker. Einer, | |
| der zuschlug. „Schon mit neun habe ich mich geritzt, gezündelt und | |
| geklaut.“ Hilfeschreie seien das gewesen, Sachen, die ein Kind macht, um zu | |
| zeigen, dass etwas nicht stimmt. Seine Mutter schickte ihn zum Psychiater. | |
| Der verabreicht Psychopharmaka. | |
| Er war zwölf, als er von den Medikamenten auf Alkohol und harte Drogen | |
| umstieg. Mit 14 lief er von zu Hause weg, war fortan einer der Punks, die | |
| am Berliner Zoo abhingen. Mit 26 bekam er eine drogeninduzierte Psychose: | |
| Aus der Zeit stammen seine vier Anzeigen. Er dreht sich eine Zigarette, | |
| leckt am Klebstreifen, sagt: „Schwarzfahren hat mir ’s Genick gebrochen.“ | |
| Deswegen ist er verschuldet und vorbestraft. „Ich kriege keine Wohnung, | |
| nicht mal ’n Handyvertrag.“ | |
| Auf dem Bahnsteig versucht ein junger Mann, ein Straßenmagazin zu | |
| verkaufen. Die meisten fächern sich Luft zu und warten auf die S-Bahn, ohne | |
| zu reagieren. Paul Z. wirft ein paar Cent in seinen Pappbecher: „Mehr habe | |
| ich selber nicht.“ | |
| ## Das „trifft nur die sozial Schwachen“ | |
| Die Gefängnisstrafen fürs Schwarzfahren – im Juristendeutsch | |
| „Ersatzfreiheitsstrafen“ genannt – sind eine Blaupause des Zustands der | |
| Gesellschaft. Paul Z. bringt das mit einem einfachen Satz auf den Punkt: | |
| „Mit der jetzigen Gesetzeslage wird Armut kriminalisiert.“ | |
| Die Soziologin Nicole Bögelein findet das auch: „Die Ersatzfreiheitsstrafe | |
| trifft nur die sozial Schwachen, da die Zahlungsunfähigkeit quasi | |
| Voraussetzung zur Verhängung der Strafe ist“, sagt die Mitarbeiterin des | |
| Instituts für Kriminologie der Universität Köln am Telefon. Sie hat ein | |
| Buch über die Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen geschrieben. | |
| Tatsächlich zeigt eine Studie aus Nordrhein-Westfalen von 2018: Das Delikt | |
| ist ein Prekariatsproblem. 58 Prozent der Menschen, die eine | |
| Ersatzfreiheitsstrafe in NRW verbüßen, sind langzeitarbeitslos, 21 Prozent | |
| obdachlos, 13 Prozent alkoholabhängig, 32 Prozent drogenabhängig. Bei 17 | |
| Prozent ist eine Suizidgefährdung dokumentiert. Wenn sich daraus kein | |
| politischer Handlungsbedarf ableitet, woraus dann? | |
| In Neugilching, einem Stadtteil von München, steigt Luna S. in die S-Bahn | |
| und packt ein Schild aus. „Ich fahre ohne Ticket! Alles für alle und zwar | |
| umsonst!“ steht darauf. Sie fährt bewusst ohne Fahrschein. Und zwar immer. | |
| Dass Schwarzfahren arme Menschen ins Gefängnis bringen kann, sei einer der | |
| Gründe, warum sie das tue. Die 21-Jährige versteht das Fahren ohne | |
| Fahrkarte als Teil ihrer politischen Arbeit. | |
| ## Nulltarif für alle | |
| Es ist heiß an diesem Nachmittag in München, Lunas Freund ist mitgekommen, | |
| barfuß, die beiden sind schwarz gekleidet und tragen Antifa-T-Shirts. Der | |
| Waggon ist recht leer, doch Luna S. fragt die wenigen Fahrgäste, ob sie | |
| einen Flyer mit Argumenten für den Nulltarif wollen. Die meisten schütteln | |
| den Kopf. | |
| „Mobilität ist ein Menschenrecht“, sagt die Aktivistin, die auch im | |
| Hambacher Forst gegen den Braunkohletagebau kämpft. Sie fordert die | |
| Entkriminalisierung von Schwarzfahren und kostenfreie Verkehrsmittel: | |
| Menschen, die sich kein Ticket leisten können, würden doch in ihrer | |
| Bewegungsfreiheit und in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben | |
| beschnitten. Zudem findet sie, dass es ökologisch untragbar sei, dass | |
| öffentliche Verkehrsmittel so teuer sind. | |
| Dass das eine relevante Argumentation ist, meinen auch einige Politiker. Im | |
| Februar wurde im Bundestag über einen kostenlosen öffentlichen | |
| Personennahverkehr debattiert. Grüne und Linke waren dafür. Kein Geld, | |
| meinten die Sprecher beider Parteien, sei kein Argument. | |
| Stefan Gelbhaar von den Grünen sagte: „Das Angebot von Bus und Bahn muss | |
| gut sein, aber eben auch bezahlbar. Das ist für viele Menschen nicht mehr | |
| gegeben. Deswegen gibt es so viele Schwarzfahrer.“ Und dann, an die | |
| Regierungsparteien gerichtet: „Da, wo Sie heute den Diesel subventionieren, | |
| müssen wir in Zukunft den ÖPNV sowie den Fuß- und Radverkehr unterstützen.�… | |
| ## Die Debatte wird kontrovers geführt | |
| Die sozialen und ökologischen Probleme, die mit dem Nahverkehr | |
| zusammenhängen, sind in der Politik bekannt. In einigen Städten wird seit | |
| dem Dieselskandal mit 1-Euro-Tickets experimentiert. Auch über | |
| Beförderungserschleichung wird seit Jahrzehnten kontrovers debattiert. | |
| Im September 2017 sprach sich der nordrhein-westfälische Justizminister | |
| Peter Biesenbach, CDU, für die Entkriminalisierung des Delikts aus: um die | |
| Behörden zu entlasten. So setzte er eine neue Diskussion in Gang. | |
| Im April legten die Linke und die Grünen Entwürfe für eine entsprechende | |
| Gesetzesänderung vor. Die Linke fordert Straffreiheit, die Grünen wollen | |
| den Straftatbestand zur Ordnungswidrigkeit herabstufen. Es ist ein Vorstoß, | |
| die politische Mehrheit dafür ungewiss. Ende September soll es nun eine | |
| öffentliche Aussprache im Bundestag dazu geben. | |
| Luna S. wollte früher auch in die Politik. Schnell habe sie gemerkt, dass | |
| das nicht das Richtige für sie ist. Jetzt bezeichnet sie sich als | |
| Vollzeitaktivistin. Mit 15 habe sie die Schule abgebrochen, um sich darauf | |
| zu konzentrieren, und es bisher nicht bereut. Denn für sie ist der | |
| politische Aktivismus zur Lebensschule geworden. „Ich weiß jetzt, wie ich | |
| mich selbst und andere verteidigen kann, auch vor Gericht.“ Zudem lernte | |
| sie, wie man Pressemitteilungen schreibt, wie man sich an einen Kohlenzug | |
| ankettet, wie man einen Workshop zu zivilem Ungehorsam veranstaltet und | |
| vieles mehr. | |
| 2015 war sie nach einer Protestaktion im Hambacher Forst einen Monat in | |
| Untersuchungshaft: wegen Landfriedensbruch und Sachbeschädigung. Das hat | |
| sie nicht abgeschreckt. Auch jetzt, wo im Hambacher Forst wieder gerodet | |
| werden soll, ist sie bei den Protesten dabei. | |
| ## Luna S. ist optimistisch | |
| Im April wurde sie dreimal beim Schwarzfahren mit Schild kontrolliert: | |
| Inzwischen hat sie einen Brief von der Polizei bekommen und wartet, dass | |
| die Ermittlungen abgeschlossen werden und das Verfahren beginnt. Die | |
| Wahrscheinlichkeit, dass sie ins Gefängnis muss, schätzt sie eher gering | |
| ein: Sie rechnet aufgrund bisheriger Urteile mit einem Freispruch oder der | |
| Einstellung des Verfahrens. | |
| In der Tat gab es in Fällen mit „Ich fahre umsonst“-Schild schon | |
| Freisprüche: Das Landgericht Gießen sprach den Schwarzfahraktivisten Jörg | |
| Bergstedt 2016 vom Vorwurf der Beförderungserschleichung frei und folgte | |
| damit seiner Argumentation, dass er, weil er ein Schild trug, auf dem | |
| stand, dass er kein Ticket hat, sich die Fahrt nicht erschlich. Er habe | |
| also niemanden getäuscht. Der bewusst umsonst fahrende Aktivist Dirk Jessen | |
| wurde im Mai in München freigesprochen. | |
| Unter Kriminalwissenschaftlern ist es umstritten, ob die kostenlose Nutzung | |
| von Bus oder Bahn überhaupt den Tatbestand der Leistungserschleichung | |
| erfüllt: Die Vorschrift stammt aus den 1930er Jahren. Für eine | |
| „Erschleichung“ im juristischen Sinne, so die Zweifler, müssten die | |
| Schwarzfahrenden die Fahrer oder Kontrolleure bewusst täuschen oder eine | |
| Schranke überwinden – Drehkreuze aber gibt es in Deutschland nicht. | |
| Die meisten wissen nicht einmal, dass das Fahren ohne Ticket als | |
| Leistungserschleichung gilt. Und die, die deswegen angezeigt werden, | |
| bekommen davon oft nicht einmal etwas mit. | |
| So wie Paul Z. Die Zahlungsaufforderungen des Verkehrsunternehmens wie auch | |
| die Schreiben von Inkassounternehmen und Staatsanwaltschaft kamen nie bei | |
| ihm an. Weil er obdachlos war, gingen die Briefe an eine alte Adresse. Er | |
| erfuhr erst bei einer weiteren Fahrscheinkontrolle, dass ein Haftbefehl | |
| gegen ihn vorlag. An die genauen Vorgänge erinnert er sich nur | |
| bruchstückhaft: „Ich war sturzbetrunken, hab wohl randaliert.“ Die | |
| Kontrolleure riefen die Polizei: „Die haben mich gleich eingefahren.“ | |
| Paul Z. hatte keine Chance mehr, eine Ratenzahlung für das erhöhte | |
| Beförderungsentgelt zu vereinbaren und eine Umwandlung der Strafe in Arbeit | |
| zu erreichen. | |
| ## Schwitzen statt sitzen | |
| Seit 1975 gibt es in Deutschland die Möglichkeit, Geldstrafen bei | |
| Zahlungsunfähigkeit abzuarbeiten: Ein Tagessatz der Geldstrafe wird dann | |
| nicht in einen Tag Ersatzfreiheitsstrafe umgerechnet, sondern in vier bis | |
| sechs Stunden gemeinnützige Arbeit. „Schwitzen statt sitzen“ ist das Motto. | |
| „Schwitzen statt sitzen, ja, schön wär’s.“ Paul Z. schüttelt den Kopf: | |
| Dafür braucht es eine Gewieftheit, die er damals nicht mehr hatte. „Dass | |
| ich eine Psychose habe und selbst so was Alltägliches wie ein Ticketkauf | |
| eine Herausforderung für mich war, hat nicht interessiert.“ | |
| Auf seiner Station im Knast sei er kein Einzelfall gewesen: „Da saßen fast | |
| nur Menschen, die absolut fertig waren.“ Die meisten hätten nie gelernt, | |
| Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Im Gefängnis lernten sie es erst | |
| recht nicht. | |
| Einer, erzählt er, als er sich eine Zigarette anzündet, sei so neben der | |
| Spur gewesen, dass er nicht wusste, wo er ist. „ ‚Das ist hier ja wie | |
| Gefängnis‘, sagte der irgendwann.“ Wenn jemand auf Mahnungen und | |
| Gerichtsbriefe nicht reagiere, sollte man Sozialarbeiter statt Polizisten | |
| schicken. Das jetzige System sei absurd und am Ende blieben Schwarzfahrer | |
| trotz Haft auf ihren Schulden sitzen. So wie er. | |
| Er raucht zu Ende und schnipst seinen Zigarettenstummel auf das Gleis. Er | |
| schuldet den Verkehrsunternehmen noch 2.000 Euro. Die Hauptsumme rührt von | |
| den Mahngebühren der Inkassounternehmen her. Eine Privatinsolvenz – also | |
| eine gerichtliche Schuldenregulierung – kommt für ihn nicht infrage. Zwar | |
| würden ihm auf diesem Weg in spätestens sechs Jahren die Schulden erlassen, | |
| zunächst aber müsste er Gerichtskosten von 1.000 bis 1.800 Euro tragen, die | |
| er nicht hat. | |
| ## Straftat oder Ordnungswidrigkeit | |
| Dass das Fahren ohne Ticket eine Straftat sein soll, Verkehrsdelikte wie | |
| Falschparken aber nur eine Ordnungswidrigkeit, verstehen viele nicht. | |
| Selbst der Deutsche Richterbund sieht in Sachen Schwarzfahren nicht den | |
| Gesetzgeber, sondern die Verkehrsbetriebe in der Pflicht. Sie sollten mehr | |
| tun, damit weniger schwarzgefahren wird. | |
| Beim Verband Deutscher Verkehrsbetriebe wiederum zeigt man kein Verständnis | |
| für die Überlegung, Schwarzfahren auf eine Ordnungswidrigkeit | |
| herabzustufen: „Der zu erwartende finanzielle Schaden für die öffentliche | |
| Hand ist aufseiten der betroffenen Verkehrsunternehmen ungleich größer als | |
| die Entlastung im Justizapparat“, schreibt die Pressesprecherin. Der | |
| öffentliche Nahverkehr werde zu 50 Prozent aus Ticketeinnahmen finanziert. | |
| Derzeit entgingen den Verkehrsunternehmen durch Schwarzfahren Einnahmen in | |
| Höhe von 250 Millionen Euro im Jahr. | |
| Im Hamburger Hauptbahnhof steht Thorsten K. an einem Imbiss und trinkt den | |
| letzten Schluck seines Latte macchiato. Der schwarz gekleidete, schüchtern | |
| auftretende 35-Jährige sieht die Sache aus Kontrolleurssicht: „Wenn | |
| Schwarzfahren eine Ordnungswidrigkeit wäre, würden die Leute bei Kontrollen | |
| den Mittelfinger zeigen.“ Dann nämlich dürfe man sie nicht mehr von der | |
| Flucht abhalten. | |
| Die Kontrolleure berufen sich auf die sogenannten Jedermannsrechte: Wenn | |
| man jemanden bei einer Straftat erwischt, kann man ihn festhalten, bis die | |
| Polizei kommt. | |
| Der ehemalige Kontrolleur saß vor zehn Jahren selbst wegen | |
| Beförderungserschleichung im Gefängnis. Als er nach zwei Wochen Beugehaft | |
| erneut vor Gericht stand, entschied er, den Rest der Geldstrafe durch | |
| soziale Arbeit abzuleisten. Er fand eine Stelle im Gartenbau, die ihm sogar | |
| Spaß machte. Ohne Ticket sei er danach nie mehr gefahren: „Es hat klick | |
| gemacht, als der Richter meinte, dass ich das nächste Mal länger ins | |
| Gefängnis muss.“ | |
| ## Bedenken hatte er keine | |
| Thorsten K. möchte jetzt möglichst weit weg vom Hauptbahnhof: „Da sind | |
| lauter Kollegen.“ Bis vor zwei Monaten hat er für eine Securityfirma als | |
| Kontrolleur gearbeitet. Seine Firma hatte in der Objektbewachung keine | |
| Aufträge. „Ich hatte die Wahl, für ein Subunternehmen der S-Bahn zu | |
| kontrollieren oder arbeitslos zu werden.“ Da wurde er Kontrolleur. | |
| Moralische Bedenken hatte er keine: „Die meisten fahren schwarz, weil sie | |
| nicht einsehen, sich ein Ticket zu kaufen.“ So wie er früher. | |
| Wenn Schwarzfahrer wegliefen, erzählt er, verfolgte er sie, „weil ich mir | |
| verarscht vorkam.“ Dabei werden Kontrolleure in Schulungen dazu angehalten, | |
| die Leute laufen zu lassen: „Da heißt es nur, die Dummen und Faulen | |
| aufschreiben.“ So 15 Leute schrieb er am Tag auf, sagt er, etwa 10 ließ er | |
| gehen: „Manchmal kamen mir fast die Tränen. Menschen ab 70 habe ich aus | |
| Prinzip laufen lassen“, sagt der Zweimetermann. | |
| Eine offizielle Quote, wie viele man erwischen müsse, gebe es nicht, aber | |
| 15 pro Tag sollen es schon sein. So etwas wie Kopfgeld bekämen nur | |
| Festangestellte: 50 Cent pro Person. „Peanuts.“ | |
| Mittlerweile arbeitet Thorsten K. wieder in der Objektüberwachung. Den | |
| Kontrolleursjob hat er hingeschmissen: Zu viel Stress. Er krempelt seine | |
| Jeans hoch und zeigt eine rosa Narbe am Unterschenkel. Ein Mann habe ihm | |
| beim Versuch, zu fliehen, sein Fahrrad gegen das Bein gerammt. | |
| Luna S. kennt die Gewalt von der anderen Seite. Einmal sei einer der | |
| Kontrolleure brutal geworden. Meist aber blieben sie cool. „Ist das jetzt | |
| ernst gemeint?“, fragen viele, wenn sie ihr Schild sehen, und verlangen | |
| ihre Personalien. Sie mache keinen Stress und gebe ihren Ausweis. Einmal | |
| sei sie von Kontrolleuren erwischt worden, die nicht wussten, was tun, | |
| und ihren Chef anriefen. „Keine Beachtung schenken“, habe der gesagt. | |
| ## Das „Stadtteilticket Extra“ in Bremen | |
| Thorsten K. findet Zwangssozialtickets für chronische Schwarzfahrer | |
| richtig. Die Stadt Bremen hat sich dafür entschieden. Sie bezuschusst das | |
| „Stadtticket Extra“ für eine Gruppe Menschen, die aus Not oder aus | |
| Krankheitsgründen wiederholt schwarzgefahren sind und deswegen im Gefängnis | |
| waren – Obdachlose etwa, Alkohol- und psychische Kranke oder | |
| Alleinerziehende. Statt 38,90 Euro zahlen sie nur 10,50 Euro im Monat. | |
| Wer dieses „Stadtticket extra“ hat, muss mit einer Betreuung durch soziale | |
| Dienste einverstanden sein. Außerdem sind die InhaberInnen beim Bremer | |
| Verkehrsunternehmen registriert für den Fall, dass die Fahrkarte mal | |
| vergessen wird. | |
| Vieles spricht dafür, Schwarzfahren nicht länger als Straftat zu bewerten. | |
| Thorsten K., der Ex-Kontrolleuer, der einst selbst wegen Schwarzfahrens im | |
| Gefängnis saß, fände Sozialstunden eine angemessene Vergeltung. | |
| Geldstrafen hält er nicht für abschreckend. „Wer kann, zahlt einfach. Oder | |
| man ist eben zahlungsunfähig. Deswegen Gefängnis macht für niemanden Sinn.“ | |
| Ob die Anhörung im Bundestag, die Ende September stattfinden soll, etwas | |
| bewirken wird, ist ungewiss. Obwohl der Vorstoß zur Abschaffung des | |
| Straftatbestandes aus den eigenen Reihen kam, war die CDU bei einer | |
| Bundesratsaussprache dagegen. Der CDU-Abgeordnete Ingmar Jung erklärte, | |
| Schwarzfahren sei in höchstem Maße unsolidarisch. Sein CSU-Kollege | |
| Alexander Jung betonte: „Das wird es mit uns nicht geben.“ Aus | |
| Armutsgründen würden auch viele weitere Straftaten begangen. | |
| Karl-Heinz Brunner, SPD, zeigte sich offen für die Vorschläge der | |
| Opposition, warnte aber vor einem „Schnellschuss“: Das Strafrecht dürfe | |
| nicht die Baustelle sein, an der Armut in Deutschland repariert werde. | |
| Luna S. hofft, dass die Ersatzfreiheitsstrafe abgeschafft wird: | |
| „Gefängnisstrafen stigmatisieren. Kommt einer dann raus, hat er immer noch | |
| kein Geld fürs Ticket.“ | |
| Und Paul Z.? Der ist seit vier Jahren clean und trocken. Vor einigen | |
| Monaten hat er eine Stelle gefunden: als persönlicher Assistent eines | |
| behinderten Menschen. Heilpädagogik wollte er immer machen. Dass es ihm | |
| gelungen ist, kann er kaum glauben: „Im sozialen Bereich wird ja immer nach | |
| Vorstrafen gefragt. Aber bei meinem Vorstellungsgespräch hieß es nur: ‚Ach, | |
| na ja, Schwarzfahren.‘ “ | |
| 7 Sep 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva-Lena Lörzer | |
| Luciana Ferrando | |
| ## TAGS | |
| Fahren ohne Fahrschein | |
| Schwerpunkt Hambacher Forst | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Dirk Behrendt | |
| Hamburg | |
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