# taz.de -- Haftstrafen für Schwarzfahren: Wer zu arm ist, kommt in den Knast | |
> Jährlich sitzen etwa 7.000 Schwarzfahrer im Gefängnis. Sie verbüßen eine | |
> Ersatzfreiheitsstrafe. | |
Bild: Der öffentlicher Nahverkehr ist eine Lebensader | |
Herr B. erscheint nicht. Zweimal hat ihn Richterin Pelz an diesem heißen | |
Augustmorgen aufgerufen. Er soll in Saal 134 im Gebäude B des Amtsgerichts | |
Berlin-Moabit erscheinen. Sie wartet. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Nichts | |
passiert. Dann vollstreckt sie das Urteil: Der Strafbefehl wird | |
rechtskräftig, Herr B. muss zahlen: ein Bußgeld für das Erschleichen von | |
Leistungen und die Verhandlungskosten. | |
Sein Verteidiger kann nichts für ihn tun: Ihm fehlt eine Vollmacht. Während | |
er seine Akten in die Tasche steckt, wirbt er – und es wirkt charmant – | |
doch noch einmal bei der Richterin um Verständnis: Wie einfach man zum | |
Erschleichen dieser Leistung komme, sagt er, habe er neulich in Hamburg | |
erlebt: „Da war mit einem Mal ein Teil meines Zuges privat, und mein Ticket | |
galt nicht.“ Die Richterin nickt. | |
Noch im nach abgestandenem Schweiß riechenden Gerichtssaal stehend, sagt | |
sie, dass niemand möchte, dass Verfahren wegen Beförderungserschleichung | |
mit Haft enden. Die Medien berichteten jedoch einseitig. Es gebe viele | |
Bemühungen, dass es nicht dazu kommt: Man kann das erhöhte | |
Beförderungsentgelt in Raten zahlen oder die Geldbuße durch soziale Arbeit | |
ableisten. „Nur, was soll die Justiz tun, wenn jemand auf nichts reagiert?“ | |
Schwarzfahren – das Wort soll vom Jiddischen shwarz = arm abgeleitet sein | |
und der sprachlichen Herkunft nach also „arm fahren“ bedeuten – ist eine | |
Straftat und wird nach Ermessen der Verkehrsunternehmen meist ab dem | |
dritten Mal angezeigt. Dann droht zusätzlich zum erhöhten | |
Beförderungsentgelt von 60 Euro auch eine Geldstrafe. Wer die nicht | |
begleicht, muss mit Haft rechnen. | |
Laut Verband Deutscher Verkehrsunternehmen verbüßten deutschlandweit | |
zuletzt etwa 7.000 von 230.000 angezeigten Schwarzfahrern eine | |
Ersatzfreiheitsstrafe. Allein in Berlin laufen pro Jahr etwa 40.000 | |
Ermittlungsverfahren wegen Beförderungserschleichung. In der | |
Justizvollzugsanstalt Plötzensee saß zeitweise ein Drittel der Insassen | |
Ersatzfreiheitsstrafen ab, meist wegen Schwarzfahrens. Ist diese Strafe | |
angemessen? Löst man so das Problem? | |
Das WDR-Politikmagazin „Monitor“ hat bei den Bundesländern nachgefragt, wie | |
viel die Verfahren den Staat jährlich kosten. Ergebnis: 200 Millionen Euro. | |
Selbst der Deutsche Richterbund spricht sich für die Abschaffung des | |
Straftatbestands aus. Durch die strafrechtliche Ahndung von | |
Schwarzfahrvergehen kämen die ohnehin schon überlasteten Gerichte an ihr | |
Limit. | |
An diesem Freitag verhandelt eine Kollegin von Richterin Pelz in einem | |
anderen Saal des Berliner Amtsgerichts über drei weitere Fälle von | |
Beförderungserschleichung: den einer Spanierin, die dreimal ohne Ticket | |
gefahren ist, den einer Frau mit Schizophrenie, deren Akte neben 11-maliger | |
Beförderungserschleichung auch Ladendiebstahl umfasst, und den eines | |
Mannes, der wegen Beförderungserschleichung in sieben Fällen angeklagt | |
wird. Niemand erscheint. | |
Die Spanierin wird noch einmal bestellt, die an Schizophrenie Leidende für | |
schuldfähig befunden und zu 80 Tagen verurteilt. „Schizophrenie ist keine | |
Entschuldigung“, sagt die Richterin. Der chronische Schwarzfahrer soll das | |
nächste Mal von der Polizei vorgeführt werden. | |
## 100 Tage Knast | |
Einer, der schon mal im Gefängnis war wegen viermaliger | |
Beförderungserschleichung, steht mit verwuschelten Haaren und schwarzem | |
T-Shirt auf dem vollen Bahnsteig des S-Bahnhofs Sonnenallee in Berlin | |
Neukölln. Paul soll er hier heißen. Paul Z. Im Jahr 2013 war er im Knast. | |
100 Tage lang. Obwohl er mittlerweile eine Monatskarte hat, schätzt er – | |
alte Schwarzfahrergewohnheit – die anderen Wartenden ab: Es könnte ja doch | |
ein Kontrolleur darunter sein. Er wurde hier schon mal erwischt. | |
Im Leben des 34-Jährigen lief einiges schief. Der Vater Alkoholiker. Einer, | |
der zuschlug. „Schon mit neun habe ich mich geritzt, gezündelt und | |
geklaut.“ Hilfeschreie seien das gewesen, Sachen, die ein Kind macht, um zu | |
zeigen, dass etwas nicht stimmt. Seine Mutter schickte ihn zum Psychiater. | |
Der verabreicht Psychopharmaka. | |
Er war zwölf, als er von den Medikamenten auf Alkohol und harte Drogen | |
umstieg. Mit 14 lief er von zu Hause weg, war fortan einer der Punks, die | |
am Berliner Zoo abhingen. Mit 26 bekam er eine drogeninduzierte Psychose: | |
Aus der Zeit stammen seine vier Anzeigen. Er dreht sich eine Zigarette, | |
leckt am Klebstreifen, sagt: „Schwarzfahren hat mir ’s Genick gebrochen.“ | |
Deswegen ist er verschuldet und vorbestraft. „Ich kriege keine Wohnung, | |
nicht mal ’n Handyvertrag.“ | |
Auf dem Bahnsteig versucht ein junger Mann, ein Straßenmagazin zu | |
verkaufen. Die meisten fächern sich Luft zu und warten auf die S-Bahn, ohne | |
zu reagieren. Paul Z. wirft ein paar Cent in seinen Pappbecher: „Mehr habe | |
ich selber nicht.“ | |
## Das „trifft nur die sozial Schwachen“ | |
Die Gefängnisstrafen fürs Schwarzfahren – im Juristendeutsch | |
„Ersatzfreiheitsstrafen“ genannt – sind eine Blaupause des Zustands der | |
Gesellschaft. Paul Z. bringt das mit einem einfachen Satz auf den Punkt: | |
„Mit der jetzigen Gesetzeslage wird Armut kriminalisiert.“ | |
Die Soziologin Nicole Bögelein findet das auch: „Die Ersatzfreiheitsstrafe | |
trifft nur die sozial Schwachen, da die Zahlungsunfähigkeit quasi | |
Voraussetzung zur Verhängung der Strafe ist“, sagt die Mitarbeiterin des | |
Instituts für Kriminologie der Universität Köln am Telefon. Sie hat ein | |
Buch über die Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen geschrieben. | |
Tatsächlich zeigt eine Studie aus Nordrhein-Westfalen von 2018: Das Delikt | |
ist ein Prekariatsproblem. 58 Prozent der Menschen, die eine | |
Ersatzfreiheitsstrafe in NRW verbüßen, sind langzeitarbeitslos, 21 Prozent | |
obdachlos, 13 Prozent alkoholabhängig, 32 Prozent drogenabhängig. Bei 17 | |
Prozent ist eine Suizidgefährdung dokumentiert. Wenn sich daraus kein | |
politischer Handlungsbedarf ableitet, woraus dann? | |
In Neugilching, einem Stadtteil von München, steigt Luna S. in die S-Bahn | |
und packt ein Schild aus. „Ich fahre ohne Ticket! Alles für alle und zwar | |
umsonst!“ steht darauf. Sie fährt bewusst ohne Fahrschein. Und zwar immer. | |
Dass Schwarzfahren arme Menschen ins Gefängnis bringen kann, sei einer der | |
Gründe, warum sie das tue. Die 21-Jährige versteht das Fahren ohne | |
Fahrkarte als Teil ihrer politischen Arbeit. | |
## Nulltarif für alle | |
Es ist heiß an diesem Nachmittag in München, Lunas Freund ist mitgekommen, | |
barfuß, die beiden sind schwarz gekleidet und tragen Antifa-T-Shirts. Der | |
Waggon ist recht leer, doch Luna S. fragt die wenigen Fahrgäste, ob sie | |
einen Flyer mit Argumenten für den Nulltarif wollen. Die meisten schütteln | |
den Kopf. | |
„Mobilität ist ein Menschenrecht“, sagt die Aktivistin, die auch im | |
Hambacher Forst gegen den Braunkohletagebau kämpft. Sie fordert die | |
Entkriminalisierung von Schwarzfahren und kostenfreie Verkehrsmittel: | |
Menschen, die sich kein Ticket leisten können, würden doch in ihrer | |
Bewegungsfreiheit und in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben | |
beschnitten. Zudem findet sie, dass es ökologisch untragbar sei, dass | |
öffentliche Verkehrsmittel so teuer sind. | |
Dass das eine relevante Argumentation ist, meinen auch einige Politiker. Im | |
Februar wurde im Bundestag über einen kostenlosen öffentlichen | |
Personennahverkehr debattiert. Grüne und Linke waren dafür. Kein Geld, | |
meinten die Sprecher beider Parteien, sei kein Argument. | |
Stefan Gelbhaar von den Grünen sagte: „Das Angebot von Bus und Bahn muss | |
gut sein, aber eben auch bezahlbar. Das ist für viele Menschen nicht mehr | |
gegeben. Deswegen gibt es so viele Schwarzfahrer.“ Und dann, an die | |
Regierungsparteien gerichtet: „Da, wo Sie heute den Diesel subventionieren, | |
müssen wir in Zukunft den ÖPNV sowie den Fuß- und Radverkehr unterstützen.�… | |
## Die Debatte wird kontrovers geführt | |
Die sozialen und ökologischen Probleme, die mit dem Nahverkehr | |
zusammenhängen, sind in der Politik bekannt. In einigen Städten wird seit | |
dem Dieselskandal mit 1-Euro-Tickets experimentiert. Auch über | |
Beförderungserschleichung wird seit Jahrzehnten kontrovers debattiert. | |
Im September 2017 sprach sich der nordrhein-westfälische Justizminister | |
Peter Biesenbach, CDU, für die Entkriminalisierung des Delikts aus: um die | |
Behörden zu entlasten. So setzte er eine neue Diskussion in Gang. | |
Im April legten die Linke und die Grünen Entwürfe für eine entsprechende | |
Gesetzesänderung vor. Die Linke fordert Straffreiheit, die Grünen wollen | |
den Straftatbestand zur Ordnungswidrigkeit herabstufen. Es ist ein Vorstoß, | |
die politische Mehrheit dafür ungewiss. Ende September soll es nun eine | |
öffentliche Aussprache im Bundestag dazu geben. | |
Luna S. wollte früher auch in die Politik. Schnell habe sie gemerkt, dass | |
das nicht das Richtige für sie ist. Jetzt bezeichnet sie sich als | |
Vollzeitaktivistin. Mit 15 habe sie die Schule abgebrochen, um sich darauf | |
zu konzentrieren, und es bisher nicht bereut. Denn für sie ist der | |
politische Aktivismus zur Lebensschule geworden. „Ich weiß jetzt, wie ich | |
mich selbst und andere verteidigen kann, auch vor Gericht.“ Zudem lernte | |
sie, wie man Pressemitteilungen schreibt, wie man sich an einen Kohlenzug | |
ankettet, wie man einen Workshop zu zivilem Ungehorsam veranstaltet und | |
vieles mehr. | |
2015 war sie nach einer Protestaktion im Hambacher Forst einen Monat in | |
Untersuchungshaft: wegen Landfriedensbruch und Sachbeschädigung. Das hat | |
sie nicht abgeschreckt. Auch jetzt, wo im Hambacher Forst wieder gerodet | |
werden soll, ist sie bei den Protesten dabei. | |
## Luna S. ist optimistisch | |
Im April wurde sie dreimal beim Schwarzfahren mit Schild kontrolliert: | |
Inzwischen hat sie einen Brief von der Polizei bekommen und wartet, dass | |
die Ermittlungen abgeschlossen werden und das Verfahren beginnt. Die | |
Wahrscheinlichkeit, dass sie ins Gefängnis muss, schätzt sie eher gering | |
ein: Sie rechnet aufgrund bisheriger Urteile mit einem Freispruch oder der | |
Einstellung des Verfahrens. | |
In der Tat gab es in Fällen mit „Ich fahre umsonst“-Schild schon | |
Freisprüche: Das Landgericht Gießen sprach den Schwarzfahraktivisten Jörg | |
Bergstedt 2016 vom Vorwurf der Beförderungserschleichung frei und folgte | |
damit seiner Argumentation, dass er, weil er ein Schild trug, auf dem | |
stand, dass er kein Ticket hat, sich die Fahrt nicht erschlich. Er habe | |
also niemanden getäuscht. Der bewusst umsonst fahrende Aktivist Dirk Jessen | |
wurde im Mai in München freigesprochen. | |
Unter Kriminalwissenschaftlern ist es umstritten, ob die kostenlose Nutzung | |
von Bus oder Bahn überhaupt den Tatbestand der Leistungserschleichung | |
erfüllt: Die Vorschrift stammt aus den 1930er Jahren. Für eine | |
„Erschleichung“ im juristischen Sinne, so die Zweifler, müssten die | |
Schwarzfahrenden die Fahrer oder Kontrolleure bewusst täuschen oder eine | |
Schranke überwinden – Drehkreuze aber gibt es in Deutschland nicht. | |
Die meisten wissen nicht einmal, dass das Fahren ohne Ticket als | |
Leistungserschleichung gilt. Und die, die deswegen angezeigt werden, | |
bekommen davon oft nicht einmal etwas mit. | |
So wie Paul Z. Die Zahlungsaufforderungen des Verkehrsunternehmens wie auch | |
die Schreiben von Inkassounternehmen und Staatsanwaltschaft kamen nie bei | |
ihm an. Weil er obdachlos war, gingen die Briefe an eine alte Adresse. Er | |
erfuhr erst bei einer weiteren Fahrscheinkontrolle, dass ein Haftbefehl | |
gegen ihn vorlag. An die genauen Vorgänge erinnert er sich nur | |
bruchstückhaft: „Ich war sturzbetrunken, hab wohl randaliert.“ Die | |
Kontrolleure riefen die Polizei: „Die haben mich gleich eingefahren.“ | |
Paul Z. hatte keine Chance mehr, eine Ratenzahlung für das erhöhte | |
Beförderungsentgelt zu vereinbaren und eine Umwandlung der Strafe in Arbeit | |
zu erreichen. | |
## Schwitzen statt sitzen | |
Seit 1975 gibt es in Deutschland die Möglichkeit, Geldstrafen bei | |
Zahlungsunfähigkeit abzuarbeiten: Ein Tagessatz der Geldstrafe wird dann | |
nicht in einen Tag Ersatzfreiheitsstrafe umgerechnet, sondern in vier bis | |
sechs Stunden gemeinnützige Arbeit. „Schwitzen statt sitzen“ ist das Motto. | |
„Schwitzen statt sitzen, ja, schön wär’s.“ Paul Z. schüttelt den Kopf: | |
Dafür braucht es eine Gewieftheit, die er damals nicht mehr hatte. „Dass | |
ich eine Psychose habe und selbst so was Alltägliches wie ein Ticketkauf | |
eine Herausforderung für mich war, hat nicht interessiert.“ | |
Auf seiner Station im Knast sei er kein Einzelfall gewesen: „Da saßen fast | |
nur Menschen, die absolut fertig waren.“ Die meisten hätten nie gelernt, | |
Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Im Gefängnis lernten sie es erst | |
recht nicht. | |
Einer, erzählt er, als er sich eine Zigarette anzündet, sei so neben der | |
Spur gewesen, dass er nicht wusste, wo er ist. „ ‚Das ist hier ja wie | |
Gefängnis‘, sagte der irgendwann.“ Wenn jemand auf Mahnungen und | |
Gerichtsbriefe nicht reagiere, sollte man Sozialarbeiter statt Polizisten | |
schicken. Das jetzige System sei absurd und am Ende blieben Schwarzfahrer | |
trotz Haft auf ihren Schulden sitzen. So wie er. | |
Er raucht zu Ende und schnipst seinen Zigarettenstummel auf das Gleis. Er | |
schuldet den Verkehrsunternehmen noch 2.000 Euro. Die Hauptsumme rührt von | |
den Mahngebühren der Inkassounternehmen her. Eine Privatinsolvenz – also | |
eine gerichtliche Schuldenregulierung – kommt für ihn nicht infrage. Zwar | |
würden ihm auf diesem Weg in spätestens sechs Jahren die Schulden erlassen, | |
zunächst aber müsste er Gerichtskosten von 1.000 bis 1.800 Euro tragen, die | |
er nicht hat. | |
## Straftat oder Ordnungswidrigkeit | |
Dass das Fahren ohne Ticket eine Straftat sein soll, Verkehrsdelikte wie | |
Falschparken aber nur eine Ordnungswidrigkeit, verstehen viele nicht. | |
Selbst der Deutsche Richterbund sieht in Sachen Schwarzfahren nicht den | |
Gesetzgeber, sondern die Verkehrsbetriebe in der Pflicht. Sie sollten mehr | |
tun, damit weniger schwarzgefahren wird. | |
Beim Verband Deutscher Verkehrsbetriebe wiederum zeigt man kein Verständnis | |
für die Überlegung, Schwarzfahren auf eine Ordnungswidrigkeit | |
herabzustufen: „Der zu erwartende finanzielle Schaden für die öffentliche | |
Hand ist aufseiten der betroffenen Verkehrsunternehmen ungleich größer als | |
die Entlastung im Justizapparat“, schreibt die Pressesprecherin. Der | |
öffentliche Nahverkehr werde zu 50 Prozent aus Ticketeinnahmen finanziert. | |
Derzeit entgingen den Verkehrsunternehmen durch Schwarzfahren Einnahmen in | |
Höhe von 250 Millionen Euro im Jahr. | |
Im Hamburger Hauptbahnhof steht Thorsten K. an einem Imbiss und trinkt den | |
letzten Schluck seines Latte macchiato. Der schwarz gekleidete, schüchtern | |
auftretende 35-Jährige sieht die Sache aus Kontrolleurssicht: „Wenn | |
Schwarzfahren eine Ordnungswidrigkeit wäre, würden die Leute bei Kontrollen | |
den Mittelfinger zeigen.“ Dann nämlich dürfe man sie nicht mehr von der | |
Flucht abhalten. | |
Die Kontrolleure berufen sich auf die sogenannten Jedermannsrechte: Wenn | |
man jemanden bei einer Straftat erwischt, kann man ihn festhalten, bis die | |
Polizei kommt. | |
Der ehemalige Kontrolleur saß vor zehn Jahren selbst wegen | |
Beförderungserschleichung im Gefängnis. Als er nach zwei Wochen Beugehaft | |
erneut vor Gericht stand, entschied er, den Rest der Geldstrafe durch | |
soziale Arbeit abzuleisten. Er fand eine Stelle im Gartenbau, die ihm sogar | |
Spaß machte. Ohne Ticket sei er danach nie mehr gefahren: „Es hat klick | |
gemacht, als der Richter meinte, dass ich das nächste Mal länger ins | |
Gefängnis muss.“ | |
## Bedenken hatte er keine | |
Thorsten K. möchte jetzt möglichst weit weg vom Hauptbahnhof: „Da sind | |
lauter Kollegen.“ Bis vor zwei Monaten hat er für eine Securityfirma als | |
Kontrolleur gearbeitet. Seine Firma hatte in der Objektbewachung keine | |
Aufträge. „Ich hatte die Wahl, für ein Subunternehmen der S-Bahn zu | |
kontrollieren oder arbeitslos zu werden.“ Da wurde er Kontrolleur. | |
Moralische Bedenken hatte er keine: „Die meisten fahren schwarz, weil sie | |
nicht einsehen, sich ein Ticket zu kaufen.“ So wie er früher. | |
Wenn Schwarzfahrer wegliefen, erzählt er, verfolgte er sie, „weil ich mir | |
verarscht vorkam.“ Dabei werden Kontrolleure in Schulungen dazu angehalten, | |
die Leute laufen zu lassen: „Da heißt es nur, die Dummen und Faulen | |
aufschreiben.“ So 15 Leute schrieb er am Tag auf, sagt er, etwa 10 ließ er | |
gehen: „Manchmal kamen mir fast die Tränen. Menschen ab 70 habe ich aus | |
Prinzip laufen lassen“, sagt der Zweimetermann. | |
Eine offizielle Quote, wie viele man erwischen müsse, gebe es nicht, aber | |
15 pro Tag sollen es schon sein. So etwas wie Kopfgeld bekämen nur | |
Festangestellte: 50 Cent pro Person. „Peanuts.“ | |
Mittlerweile arbeitet Thorsten K. wieder in der Objektüberwachung. Den | |
Kontrolleursjob hat er hingeschmissen: Zu viel Stress. Er krempelt seine | |
Jeans hoch und zeigt eine rosa Narbe am Unterschenkel. Ein Mann habe ihm | |
beim Versuch, zu fliehen, sein Fahrrad gegen das Bein gerammt. | |
Luna S. kennt die Gewalt von der anderen Seite. Einmal sei einer der | |
Kontrolleure brutal geworden. Meist aber blieben sie cool. „Ist das jetzt | |
ernst gemeint?“, fragen viele, wenn sie ihr Schild sehen, und verlangen | |
ihre Personalien. Sie mache keinen Stress und gebe ihren Ausweis. Einmal | |
sei sie von Kontrolleuren erwischt worden, die nicht wussten, was tun, | |
und ihren Chef anriefen. „Keine Beachtung schenken“, habe der gesagt. | |
## Das „Stadtteilticket Extra“ in Bremen | |
Thorsten K. findet Zwangssozialtickets für chronische Schwarzfahrer | |
richtig. Die Stadt Bremen hat sich dafür entschieden. Sie bezuschusst das | |
„Stadtticket Extra“ für eine Gruppe Menschen, die aus Not oder aus | |
Krankheitsgründen wiederholt schwarzgefahren sind und deswegen im Gefängnis | |
waren – Obdachlose etwa, Alkohol- und psychische Kranke oder | |
Alleinerziehende. Statt 38,90 Euro zahlen sie nur 10,50 Euro im Monat. | |
Wer dieses „Stadtticket extra“ hat, muss mit einer Betreuung durch soziale | |
Dienste einverstanden sein. Außerdem sind die InhaberInnen beim Bremer | |
Verkehrsunternehmen registriert für den Fall, dass die Fahrkarte mal | |
vergessen wird. | |
Vieles spricht dafür, Schwarzfahren nicht länger als Straftat zu bewerten. | |
Thorsten K., der Ex-Kontrolleuer, der einst selbst wegen Schwarzfahrens im | |
Gefängnis saß, fände Sozialstunden eine angemessene Vergeltung. | |
Geldstrafen hält er nicht für abschreckend. „Wer kann, zahlt einfach. Oder | |
man ist eben zahlungsunfähig. Deswegen Gefängnis macht für niemanden Sinn.“ | |
Ob die Anhörung im Bundestag, die Ende September stattfinden soll, etwas | |
bewirken wird, ist ungewiss. Obwohl der Vorstoß zur Abschaffung des | |
Straftatbestandes aus den eigenen Reihen kam, war die CDU bei einer | |
Bundesratsaussprache dagegen. Der CDU-Abgeordnete Ingmar Jung erklärte, | |
Schwarzfahren sei in höchstem Maße unsolidarisch. Sein CSU-Kollege | |
Alexander Jung betonte: „Das wird es mit uns nicht geben.“ Aus | |
Armutsgründen würden auch viele weitere Straftaten begangen. | |
Karl-Heinz Brunner, SPD, zeigte sich offen für die Vorschläge der | |
Opposition, warnte aber vor einem „Schnellschuss“: Das Strafrecht dürfe | |
nicht die Baustelle sein, an der Armut in Deutschland repariert werde. | |
Luna S. hofft, dass die Ersatzfreiheitsstrafe abgeschafft wird: | |
„Gefängnisstrafen stigmatisieren. Kommt einer dann raus, hat er immer noch | |
kein Geld fürs Ticket.“ | |
Und Paul Z.? Der ist seit vier Jahren clean und trocken. Vor einigen | |
Monaten hat er eine Stelle gefunden: als persönlicher Assistent eines | |
behinderten Menschen. Heilpädagogik wollte er immer machen. Dass es ihm | |
gelungen ist, kann er kaum glauben: „Im sozialen Bereich wird ja immer nach | |
Vorstrafen gefragt. Aber bei meinem Vorstellungsgespräch hieß es nur: ‚Ach, | |
na ja, Schwarzfahren.‘ “ | |
7 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Eva-Lena Lörzer | |
Luciana Ferrando | |
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Schwerpunkt Hambacher Forst | |
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