| # taz.de -- Neuer Verein für Selbsthilfe: Superarm und super drauf | |
| > KundInnen der Berliner Tafel in Neukölln haben den Verein „Die | |
| > Superarmen“ gegründet und helfen denen, die noch weniger haben. Jetzt | |
| > suchen sie einen Raum. | |
| Bild: Vier der „Superarmen“: Eva-Maria Koppien, stellvertretende Schatzmeis… | |
| Berlin taz | Zehn Hackenporsche parken im Hof hinter dem Gemeindezentrum | |
| der Neuköllner Magdalenenkirche. Die EigentümerInnen sitzen ringsum auf | |
| weißen Plastikstühlen, einige auch auf dem Sitz ihres Rollators. Manche | |
| rauchen und quatschen, einer strickt, andere starren Löcher in die Luft. | |
| Eine Frau im roten Kittel verteilt Apfelschorle in Plastikflaschen. „Du | |
| bist die Beste!“, bedankt sich Christa Vieten. | |
| Die 70-Jährige residiert mit einem kleinen Trupp am Rande des Hofs unter | |
| einem Gartenpavillon. Jemand hat Geburtstag und hat Käsekuchen mitgebracht, | |
| die Sonne scheint, es wird gescherzt. Das sind sie, die „Superarmen“ – und | |
| wie jeden Donnerstag treffen sie sich bei der Essensausgabe von „Laib & | |
| Seele“ der Berliner Tafel. | |
| 2015 fing alles an, erzählt Vieten, die Vereinsvorsitzende. „Da haben wir | |
| als kleines Dankeschön für die Tafelmitarbeiter Osterkörbchen gebastelt. | |
| Die haben sich gefreut!“ Die Rentnerin schüttelt so begeistert den Kopf, | |
| dass die Silber-Ohrringe fliegen. Ermutigt von diesem Erfolg stellten ein | |
| paar Tafel-KundInnen ein Sommerfest auf die Beine. 2017 wollten sie dann | |
| das Katzenhaus in Lichtenrade unterstützen, in dem eine Kundin ehrenamtlich | |
| tätig ist, und organisierten einen Stand beim Straßenfest am Richardplatz | |
| mit Grill, Tombola, Trödel und Live-Musik. | |
| „1.000 Euro haben wir eingenommen, aber wir hatten über 900 Euro Kosten.“ | |
| Wieder fliegen die Ohrringe, diesmal aus Empörung. „Ob wir denn kein Verein | |
| wären, haben sie beim Ordnungsamt gefragt, dann wäre die Standmiete viel | |
| niedriger.“ Die Idee war geboren und im Januar gründeten sieben | |
| Tafel-KundInnen die „Superarmen“. | |
| ## Resoluter Einsatz für noch Ärmere | |
| Inzwischen sind sie zu zehnt, 20 dürften es ruhig werden, so Vieten – gern | |
| gesehen wären auch Jüngere und Menschen mit anderen Sprachkenntnissen. Ziel | |
| des Vereins: gegenseitige Hilfe, etwa beim Ausfüllen von Anträgen für | |
| Rente, Grundsicherung oder Wohngeld. „Unser Herbert hat auch eine Dame | |
| versorgt, eingekauft und sie zum Arzt begleitet. Aber sie ist grade | |
| verstorben.“ | |
| Vieten selbst kümmert sich um eine Frau, die von ihrem Pflegedienst | |
| schlecht betreut werde und einen Rechtspfleger habe, der ihr die Katzen | |
| verboten habe. „Wir gehen jetzt mit ihr zum Amtsgericht, wollen ihre Pflege | |
| übernehmen.“ Das traut man der energischen Frau durchaus zu, obwohl sie | |
| selbst auf einen Rollator angewiesen ist für längere Strecken. | |
| Die hat sie in letzter Zeit öfter zurückgelegt, vor allem für den größten | |
| Traum der „Superarmen“: ein eigener Raum als Treffpunkt zum „Quatschen und | |
| Spielen“, mit Beratungsstunden für Hilfesuchende. „Es soll auch ein Platz | |
| sein, wo Leute für kleines Geld ihren Geburtstag feiern können“, erklärt | |
| Vieten. Mit der Raummiete, so hofft sie, könnten sie dann vielleicht sogar | |
| die Miete tragen. | |
| ## „Wir sind arm, aber super dran, weil wir Freunde haben“ | |
| Um Startkapital zu sammeln, machen die „Superarmen“ jetzt jeden Sonntag | |
| einen Flohmarktstand beim Hansamarkt in Weißensee. Die Verkaufsobjekte | |
| sammeln sie bei Wohnungsentrümpelungen, allein dafür ist Vieten viel | |
| unterwegs. Das Traumhäuschen hat sie auch schon gefunden, ein verwunschenes | |
| Gartengrundstück mitten im Kiez. Selbstredend hat sie schnell | |
| herausgefunden, wem es gehört, und einen „lieben Brief“ an den Besitzer | |
| geschrieben. Leider habe er noch nicht geantwortet. | |
| Dennoch: Allein das Aktivsein wirkt. „Ich bin so happy, dass ich gebraucht | |
| werde“, sagt Vieten. „Das hält jung und fit.“ So erklärt sie auch den N… | |
| des Vereins: „Wir sind zwar arm, aber super dran, weil wir Freunde haben.“ | |
| Vereinskollege Wolfgang Retzlaff stimmt zu. Der Grafiker, der 20 Jahre lang | |
| eine Country-Zeitschrift herausbrachte und damit nicht schlecht verdiente, | |
| wie er sagt, gestaltet das Vereinsheft Neukölln Cool mit Berichten über den | |
| Verein, den Kiez und Anzeigen der lokalen Geschäfte. Und das, obwohl er | |
| beinahe blind ist. „Wenn ich das nicht mehr machen kann, möchte ich nicht | |
| mehr leben“, sagt der 66-Jährige. 250 Euro Rente plus Grundsicherung | |
| bekomme er. „Wenn ich das hier nicht hätte“, er zeigt auf die Ausgabestelle | |
| der Tafel, „dazu die Suppenküche jeden Tag, wäre das Leben echt beschissen. | |
| Hätte nie gedacht, dass es so weit kommt. Ich habe immer geschuftet!“ | |
| ## 50 Jahre Arbeit und dann? | |
| Vieten nickt. 50 Jahre hat sie gearbeitet, „viel in Teilzeit wegen der | |
| Kinder“; mit 14 eine Lehre als Hauswirtschafterin, dann lange Köchin in | |
| einer Kita, zuletzt Pförtnerin in der Senatsverwaltung für Bildung. Nicht | |
| mal 1.000 Euro Rente habe sie nun, die Hälfte gehe für die Miete drauf. Arm | |
| fühlt sie sich trotzdem nicht, „ich kann gut mit Geld umgehen“. Und sparsam | |
| kochen, auch dank der Zutaten von der Tafel. „Das reicht fast für die ganze | |
| Woche.“ | |
| Nur selten, so Vieten, gebe es hier zu wenig Essen, meistens sei genug da | |
| für die rund 80 KundInnen. „Das war früher manchmal anders“, erinnert sie | |
| sich – seit 6 Jahren kommt sie her. Stundenlang hätten die Leute in der | |
| Schlange gestanden, noch dazu auf der Karl-Marx-Straße in aller | |
| Öffentlichkeit. Heute gibt es die Stühle im Hinterhof, von den Superarmen | |
| besorgt. Jeder zahlt 1 Euro und kriegt eine Nummer, die aufgerufen wird. | |
| „Darum müsste eigentlich auch keiner mehr so zeitig kommen.“ Vieten zeigt | |
| auf die Uhr, es ist 12, die Essensausgabe beginnt nicht vor 2. | |
| Warum es trotzdem schon so belebt im Hof ist? „Viele Arme sind doch eher | |
| einsam. Und wir sind ja eine gute Gemeinschaft.“ | |
| 5 Oct 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
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