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# taz.de -- Kommentar Wohnungspolitik: Wie früher bei Sabine Christiansen
> In der wohnungspolitischen Debatte argumentieren Liberale mit
> marktradikalen Ideen. Geht es ihnen um eine andere Gesellschaft?
Bild: Wird Berlin das neue London? Vermieter sähen das gern
Am Donnerstagvormittag war es im Bundeswirtschaftsministerium, als hätte
jemand die Zeitmaschine eingeschaltet. Vorne saßen die Professoren
Friedrich Breyer und Hans Gersbach, ein Sprecher des Ministeriums
moderierte. Aber niemand wäre überrascht gewesen, wenn im nächsten Moment
Sabine Christiansen hereingeschneit wäre und mit den
Wirtschaftswissenschaftlern einen jener „Deutschland braucht
Reformen“-Talks aus den Schröder-Jahren begonnen hätte.
Breyer und Gersbach, zwei neoklassische Ideologen, schlugen für den
Wissenschaftlichen Beirat des Ministeriums radikale Antworten auf die
Wohnungskrise in Deutschland vor: Mietpreisbremse weg, sozialen Wohnungsbau
einstellen, keinen öffentlichen Wohnungsbau. [1][Der Markt soll es
richten.]
Krisenzeiten bieten stets Chancen, die Gesellschaft zu verändern. Die hohe
Arbeitslosenquote und das Loch in den Rentenkassen wurden in den nuller
Jahren genutzt, um das vergleichsweise egalitäre deutsche Sozialmodell zu
zerstören. Nun steht der noch immer relativ egalitäre Wohnungsmarkt zur
Disposition.
Auch wenn Wohnraumknappheit und Verdrängung Realität sind: Bisher fanden
auch Niedrigverdiener in den meisten Städten Wohnungen. Damit könnte es
bald endgültig vorbei sein. Die Frage, ob London nicht ein abschreckendes
Beispiel für einen ungeregelten Wohnungsmarkt sei, konterte Breyer
ungerührt: Die hohen Preise seien eben Ausdruck der Attraktivität der
Stadt.
Die politischen Verhältnisse sind jedoch andere als zu rot-grünen Zeiten.
Grüne und Linkspartei haben heute eine Reihe von kreativen
mieterfreundlichen Bundes- und Kommunalpolitikern, die SPD lässt sich
immerhin zum Jagen Richtung Engagement für Mieter tragen. Selbst die Union
sieht sich zu verbalen Bekenntnissen zum Mieterschutz genötigt, auch wenn
sie in der Praxis alle wichtigen Regelungen blockiert.
An der Basis engagieren sich inzwischen in vielen Städten Mieter für
bezahlbaren Wohnraum. Daher wies denn, neben Politikern von SPD, Linken und
Grünen, auch CDU-Wirtschaftsminister Altmaier das Gutachten seines Beirats
zurück. Nur die FDP jubelte.
## Mieter? „Armselig“
Dennoch ist offen, ob München, Frankfurt und Berlin wie London werden.
Anders als zu Agenda-Zeiten muss die Bundesregierung keine neuen Gesetze
beschließen, um die Spaltung der Gesellschaft voranzutreiben. Es genügt,
dass sie nichts tut – oder Scheinmaßnahmen wie eine Mietpreisbremse
beschließt, deren Unwirksamkeit sich erst später zeigt. Bis dahin haben die
Investoren die Mietschraube weiter angezogen.
Je mehr das Wohnungsthema in den Fokus gerät, desto deutlicher wird, dass
es auch um einen ideologischen Kampf geht: Liberalen gilt der Mieter als
der neue Hartz-IV-Empfänger – als einer, der es nicht geschafft hat, sich
eine Eigentumswohnung zuzulegen. Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt schrieb
diese Woche, in den Szenekiezen Berlins liege der Mieteranteil jenseits der
95 Prozent. „Armselig“ nannte Poschardt das.
Dabei könnten gerade Liberale Mietverhältnisse als Ausdruck von Freiheit
verstehen – als Möglichkeit, sich relativ schnell nach eigenen Wünschen zu
verändern. Das Berlin, das Poschardt so liebt, wäre ohne einen großen
Anteil an günstigen Mietwohnungen nicht denkbar. Auch bundesweit hat die
Wirtschaft von günstigen Mieten profitiert. Der Umzug für einen neuen Job
fiel dadurch wesentlich leichter.
Deshalb bleibt die Frage, ob es den Anhängern eines freien Wohnungsmarkts
nicht auch um ein anderes Gesellschaftsmodell geht: Die rot-grünen Reformen
haben die Gesellschaft so in Gewinner und Verlierer gespalten, dass es
keine linke Mehrheit mehr gibt. Nur im Ärger über Mietsteigerungen sind
sich Mittelschicht und das untere Drittel der Gesellschaft noch einig. Wenn
es aber gelingt, die Mittelschicht über Mietsteigerungen und
Diskreditierungen zu Eigentümern zu machen, ist es auch damit vorbei.
26 Aug 2018
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## AUTOREN
Martin Reeh
## TAGS
Mietenpolitik
Wohneigentum
Mieterschutz
Sozialer Wohnungsbau
Bremen
Mietpreisbremse
Wohnungsmarkt
Gentrifizierung
Markus Söder
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