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# taz.de -- Gentrifizierung in Marburg: Krumme Gassen, steile Geschäfte
> Mit dem Havanna Acht steht in der Universitätsstadt Marburg die letzte
> linke Kneipe vor dem Aus. Ein Lehrstück über Immobilienspekulation.
Bild: Solidarisierungsaktion in Marburg
Marburg taz | „Steh auf, du faule Sau, du musst Marburg in Versuchung
führen“, ließ der Radikalpoet Horst Tomayer vor 15 Jahren in einem
Buchbeitrag die Großmutter den Teufel mahnen. Der Teufel setzte sich
mürrisch in Bewegung und machte der „wie vor einem Maler hingebetteten“
Universitätsstadt in Mittelhessen allerhand unmoralische Angebote. Doch das
stolze Marburg jagte den Teufel antikapitalistisch zum Teufel. Der Dichter
schloss mit dem Stoßseufzer: „Ach, gäbe es doch mehr Marburgs.“
Das ist lange her – und war schon damals eine verklärende Sicht der Dinge.
„Das gesellschaftlich immer noch rot-grün-links geprägte Marburg hat, auch
wenn das merkwürdig und widersprüchlich ist, seine Hauptsteuerzahler schon
immer ausgerechnet in der Pharma- und jetzt auch in der Finanzdienstbranche
gehabt, mit den Behring-Werken und der Deutschen Vermögensberatung“,
konstatiert Marburgs Kulturamtsleiter Richard Laufner die Lage prosaisch
von seinem Büro aus mit Blick auf den in der Tat höchst malerischen
Marburger Marktplatz.
Im Vergleich zu Tomayers Zeiten und 50 Jahre nach 1968 wirkt das als „rote
Uni“ so gepriesene wie verteufelte Marburg bei einem sommerlichen Besuch
dann aber doch gründlich aufgeräumt. Eine neue Studierendengeneration joggt
viel, geht zur Thaimassage und ins Nagelstudio – wenn denn die zahlreichen
derartigen Etablissement mehr sind als Spekulationsruinen. Ein Tattooladen
findet sich sogar direkt gegenüber der neuen Universitätsbibliothek am Fuß
der Altstadt, die im Bergnest Marburg Oberstadt heißt.
Einen Monat nach deren Eröffnung, Ende Mai dieses Jahres, lief im
spektakulären 120-Millionen-Bau bei einem Unwetter gleich mal der
Archivkeller voll. Das Wasser sei hauptsächlich über Lichtschächte
eingedrungen, die bei Bränden für den Rauchabzug vorgesehen sind, hieß es –
der Brandschutz, ach, er macht eben nicht nur beim Hauptstadtflughafen BER
Probleme, sondern auch in der sogenannten Provinz.
## Ganz schön weit vorne
Sogenannt, denn Provinz stünde doch für einen eher friedlichen Fluss der
Dinge, für ein gewisses Abseitsstehen vom Drang des Investitionskapitals
und der rüden Methoden seiner Jünger. Doch in Marburg sind die verträumten
Zeiten vorbei, der Teufel ist gekommen, um zu bleiben: Die attraktivsten
Renditebedingungen, zitiert die Lokalzeitung Oberhessische Presse einen
Immobiliendienstleister, fänden Investoren inzwischen abseits der
Großstädte. Marburg liege da auf Rang 19 von 120 untersuchten Städten. Also
ganz schön weit vorne.
In Marburg, so die kommunal oppositionellen Grünen, würden sowohl Wohnungen
als auch Pachten für Ladenflächen seit Jahren teurer. Auch bei ihm, sagt
Michael Klawitter vom wunderhübsch am Eingang der Oberstadt gelegenen
Restaurant Kostbar, seien die eigentlich seriösen Vermieter mit völlig
unrealistischen Mieterhöhungsforderungen vorstellig geworden. Dabei seien
vor allem die touristenfreien Monate Januar bis März extrem schwierig für
die Gastronomie. Er hätte sein Lokal aufgegeben, wenn man sich nicht auf
einen vernünftigen Kompromiss geeinigt hätte.
Ein paar Höhenmeter weiter unten, im hübschen, leicht heruntergekommenen
Fachwerkhaus Lahntor 2, scheint ein solcher Kompromiss derzeit unmöglich.
Dem Havanna Acht, der letzten linken Kollektivkneipe im einst von der
politikwissenschaftlichen Schule um den Antifaschisten Wolfgang Abendroth
zur „roten Kaderschmiede“ geadelten Marburg, soll nach 33 Jahren am Ort der
Zapfhahn abgedreht werden.
An einem schwülen Nachmittag empfangen zwei der derzeit acht
Kollektivmitglieder im Havanna Acht zum Interview. Die Atmosphäre ist wie
zu eigenen Studienzeiten schmuddelig-gemütlich, ein Schild weist darauf
hin, was man alles nicht macht und dass, wer sich belästigt fühlt, am
Tresen auf Hilfe hoffen kann, wo eine kleine Israelfahne klarstellt, dass
wir uns auf der aufgeklärteren Seite der deutschen Linken befinden. Der
25-jährige „Paul“, der studiert, und der 22-jährige „Denis“, der nicht
weniger klassisch in Marburg jobbt und ausprobiert, was denn der richtige
Weg für ihn sein könnte, wollen nicht, dass ihre richtigen Namen öffentlich
werden: Sie sehen sich potenziell als Ziel rechter Pöbeleien – und von
Schlimmerem.
## Existenzielle Sorgen
Dass es sich dabei nicht ausschließlich um linke Romantik handelt, dafür
stehen immerhin drei problematische studentische Burschenschaften
(Germania, Rheinfranken, Normannia-Leipzig), die in herrschaftlichen Villen
in der Marburger Oberstadt residieren. Seit dem Einzug der AfD in den
Bundestag verfügen sie über ein höchstparlamentarisches Standbein.
Dass ein alljährliches Blut-und-Boden-Saufgelage namens Marktfrühschoppen
in Marburg seit zwei Jahren nicht mehr stattfindet, hat einerseits mit der
Abneigung auch des bürgerlichen Marburgs gegen die zunehmend offene
Rechtsradikalisierung der genannten Burschenschaften zu tun; andererseits –
und das sieht auch der linksextremer Umtriebe unverdächtige, parteilose
Kulturamtsleiter Richard Laufner so – mit dem kreativen Engagement von
Leuten, die im Havanna Acht verkehren.
Derzeit plagen das Kollektiv aber wie gesagt existenzielle Sorgen. Das
Fachwerkhaus mit der Kneipe im Erdgeschoss hat seit Mai 2017 dreimal den
Besitzer gewechselt, Verhandlungen mit dem vorletzten Besitzer Matteo
Sciolla und seiner Sciolla Investment GmbH sind gescheitert: Die Miete
sollte, nach durchaus konkreten Renovierungsangeboten Sciollas, auf 2.500
Euro erhöht werden, fast das Doppelte der bisherigen Miete, sagen die
Havannas, die selbst ehrenamtlich arbeiten.
Sie legten Widerspruch ein, der Vermieter kündigte ihnen daraufhin im
Dezember 2017 zum Ende der Vertragslaufzeit im April 2019. Die neuen
Besitzer, ein Ehepaar aus einem Dorf im benachbarten Schwalm-Eder-Kreis,
lehnen nach Angaben des Havanna Acht jeglichen Kontakt mit den Betroffenen
ab. Ohnehin ist aber der letzte Verkäufer Matteo Sciolla interessanter,
denn er ist Hausverwalter und Ansprechpartner des Havanna Acht geblieben.
## Zusammenraufen, um Ausverkauf zu verhindern?
Was dafür spricht, dass es sich bei Matteo Sciolla um einen seriösen
Unternehmer handelt, ist ein großes bayerisches Auto und gepflegter Rasen
vor seinem schicken Haus im idyllischen Marburger Vorort Cappel sowie, dass
er bei einem halben Dutzend Firmen als Gesellschafter fungiert. Was daran
Zweifel aufkommen lassen könnte, ist, dass keine dieser Firmen eine eigene
Website hat, dass Matteo Sciolla auf Presseanfragen weder der taz noch der
Oberhessischen Presse reagiert und dass er schließlich, folgt man der
Anzeige, die ein Marburger Mieter am 7. Juli dieses Jahres gegen ihn
gestellt hat – und die der taz vorliegt –, auch nicht vor Beleidigung,
Hausfriedensbruch und körperlicher Übergriffigkeit zurückschreckt, wenn die
Dinge nicht so laufen, wie er es sich vorstellt.
Die wichtigere Frage, die sich aus dieser kleinen Zusammenstellung ergibt,
ist, ob die Marburger Stadtgesellschaft vielleicht gerade auf einen solchen
umtriebigen Unternehmer gewartet hat, um den Ausverkauf dessen, was Marburg
dann doch immer noch ausmacht, zu verhindern. Die Frage ist, ob nicht wie
beim Marktfrühschoppen sich das im weitesten Sinne zukunftsorientierte und
geschichtsbewusste Marburg zusammenraufen könnte; vielleicht ja auch doch
noch, indem man eine Verhandlungsgrundlage mit den neuen Besitzern
beziehungsweise ihrem Verwalter findet.
Am Havanna Acht, sagen Paul und Denis, soll das jedenfalls nicht von
vornherein scheitern, versichern die beiden auf mehrmalige Nachfrage. Man
wolle aber auch grundsätzlich über Gentrifizierung in Marburg sprechen, in
einer Vortragsreihe, etwa mit einem Film über Besetzung und Abriss des
sogenannten Biegenecks, „was ja irgendwie in den 80ern oder 90ern oder so
war – oder 70ern?“.
## „Verdrängungseffekte“ nicht zu leugnen
Früher ist eben doch jedenfalls sehr lange her, also auch der Marburg in
den 1990er Jahren recht heftig durchschüttelnde Konflikt um den Abriss des
Biegenecks, eines nicht hübschen, aber charakteristischen Gebäudekomplexes
am Fuße der Altstadt. Heute kann man an dieser Stelle einkaufen, essen und
übernachten – so, wie man das in jeder Kleinstadt kann.
„Es wäre sehr bedauerlich, wenn das Havanna Acht als Institution ganz
wegfiele, sagt Kulturamtsleiter Richard Laufner mit vorsichtigem Duktus und
sieht die Kollektivkneipe als wichtigen Teil der Marburger Kultur und
Stadtgesellschaft, als einen Ort, „wo politisches Denken entwickelt wurde“.
Er kann sich vorstellen, dass sich jedenfalls „oberstadtnahe“
Räumlichkeiten finden ließen, für eine ähnliche Nachfolgenutzung, gerade
weil „Verdrängungseffekte“ in der Kernstadt wohl nicht zu leugnen seien.
Aus Berliner Sicht, aber von einem, der Marburg klassischerweise als
Passage durchlaufen hat, kann man jetzt nur einen Wunsch formulieren: Dass
Marburg im 50. Jahr nach 68 mit dem Teufel streitet, ist gut; zur
800-Jahr-Feier 2022 würden wir dann aber gern in ein Marburg kommen, das
ihm – ruhig ein bisschen romantisch-provinziell – die Tür gewiesen hat.
2 Aug 2018
## AUTOREN
Ambros Waibel
## TAGS
Gentrifizierung
Immobilienmarkt
Komödie
Immobilien
Marburg
Mietenpolitik
Gentrifizierung
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