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# taz.de -- Havanna Acht in Marburg: Kreditbetrug und Hausbesetzung
> Das Havanna Acht war für die linke Szene in Marburg eine Institution. Im
> März musste es weichen, diese Woche wurde es kurz besetzt.
Bild: Kneipenschild am Eingang zur Marburger Altstadt
Marburg taz | Marburg in Mittelhessen am Montagabend: Schulter an Schulter
sitzen in lauwarmer Sommerluft zwischen 40 und 60 Menschen auf dem
Kopfsteinpflaster vor einem Fachwerkhaus. Im Erdgeschoss des Hauses
befindet sich die linke Szenekneipe Havanna Acht, vor zweieinhalb Monaten
[1][eigentlich geschlossen] – an diesem Abend aber besetzt und wieder
geöffnet.
Zur Feier des Tages gibt es auf dem Gehsteig Nudelsalat und vegane
Leberwurst. Drinnen werden Getränke und Snacks gegen Spende angeboten.
Später spielen in dem rauchverhängten Raum Kontrabass und Gitarre. Ein
Sofa, Plastikstühle und eine Matratze im Kerzenschein erwecken den
ansonsten leer geräumten Raum zum Leben. Erst gegen Mitternacht ist
plötzlich Schluss: Die Polizei rückt an und räumt die friedliche
Versammlung. Die Besucher*innen gehen.
Eine Erklärung veröffentlichen die Besetzer*innen, die anonym bleiben
möchten, [2][auf ihrem Internetblog]. Mit der Aktion wollten sie demnach
„einen Ort schaffen, der Treffen, Austausch und Organisation gegen die sich
zuspitzenden menschenverachtenden Verhältnisse ermöglicht“. Einen Ort, den
es eigentlich schon gab. Und der ihnen vor zehn Wochen genommen wurde.
Seit dem 31. März ist die Tür der Erdgeschosskneipe Havanna Acht
geschlossen. Auch bekannt als „Lieblingskneipe für die linke Szene“, war
das Haus in der Marburger Oberstadt zuvor jahrzehntelang Rückzugsort für
viele Menschen.
Seit 34 Jahren haben hier insgesamt zwischen 80 und 100 Kollektivist*innen
gearbeitet und organisiert. „Kollektiv bedeutet, dass es bei uns keine
Chefin gibt und alle Kollektivist*innen das gleiche Entscheidungsrecht
haben“ – so lautet das Selbstverständnis des Havanna-Kollektivs.
## 2.500 Euro Miete
Solidarisch und kostengünstig sollte im schummrigen Licht gesoffen werden.
Aber nicht nur: Antifaschistische Organisationen, Fachschaften und
Gewerkschaftsgruppen trafen sich für regelmäßiges Plenieren. Hier wurde
besprochen, wie man eine Gegendemo organisiert, wer Schlafplätze für
Referentinnen zur Verfügung stellen kann, und welche Deko man am besten für
die nächste Party verwendet. Damit war das Havanna nicht nur ein Bollwerk
der linken Szene, sondern auch beliebtes Angriffsziel rechter Gruppierungen
in Marburg, insbesondere rechtsextremer Burschenschaften.
In die Krise geriet das Havanna Acht aber nicht durch solche Angriffe. Drei
Mal wurde die Räumlichkeit innerhalb der letzten zwei Jahre verkauft. Die
Miete stieg auf 2.500 Euro – fast doppelt so viel wie bisher. Für das nicht
auf Profit ausgelegte Kollektiv war das nicht mehr zu stemmen.
Im Frühjahr letzten Jahres legte es Widerspruch ein, woraufhin der
Vermieter, eine Firma des Marburger Immobilienunternehmers Matteo S., dem
Kollektiv zum Ende der Vertragslaufzeit am 30. April 2019 kündigte. Wenig
später verkaufte er das Gebäude an eine Familie im 45 Kilometer entfernten
Schrecksbach. Seine Firma fungiert seitdem als Hausverwaltung.
Genau genommen gehört dem Geschäftsmann ein ganzes Firmengeflecht: Im
Handelsregister finden sich neun Unternehmen, die seinen Namen tragen und
im Großraum Marburg gemeldet sind. An weiteren Firmen mit anderen Namen ist
er beteiligt. Das Geflecht ist schwer zu durchschauen – und das ist
möglicherweise auch so gewollt.
## Zwei Geschäftsleute verhaftet
Am 8. Mai verhafteten Polizeibeamte in Marburg zwei Geschäftsleute. Gegen
sie bestehe der Verdacht des „banden- und gewerbsmäßigen Betruges zum
Nachteil diverser Kreditinstitute“, schreiben Polizei und
Staatsanwaltschaft in einer gemeinsamen Pressemitteilung.
Die beiden 29- und 35-jährigen Verhafteten, einer davon aus dem Marburger
Stadtteil Cappel, seien „Firmenverantwortliche mehrerer
Immobiliengesellschaften mit Sitz in Marburg“. Sie sollen innerhalb weniger
Monate mehrere Immobilien untereinander hin und her verkauft haben – jedes
Mal mit einer kräftigen, künstlichen Preissteigerung. Mit Fantasiepreisen,
die weit über den Marktwerten lagen, sollen sie bei Banken immer höhere
Kredite bekommen haben. Den Kreditinstituten sei ein Schaden in
Millionenhöhe entstanden.
Was das mit dem Havanna Acht zu tun hat? Die Lokalzeitung Oberhessische
Presse berichtete Mitte Mai, dem älteren Verdächtigen habe einst das
Gebäude gehört, in dem sich die Kneipe befand. Einen Namen nennt die
Zeitung nicht, aber einiges spricht dafür, dass es sich um Matteo S.
handelt. Auch er ist 35, auch einige seiner Unternehmen haben ihren Sitz im
Stadtteil Cappel. Und ein aktueller Mieter des Unternehmers erzählt, dass
am Tag der Festnahme Polizist*innen in dessen Häusern ermittelt hätten. Ihn
selbst hätten sie zum Mietverhältnis und zu Problemen mit dem Vermieter
gefragt. Auf eine Anfrage der taz antwortete Matteo S. nicht. Auch Polizei
und Staatsanwaltschaft äußern sich auf Nachfrage nicht.
## „h8 lebt“
Während die Behörden ermitteln, versucht das Kneipenkollektiv, irgendwie
weiterzumachen. Schon vor der Besetzung vom Montag liefen Aktionen. Unter
dem Titel „Havanna Acht im Exil“ versuchen Freundinnen und Freunde der
alten Kneipe, das Havanna-Gefühl am Leben zu erhalten. Bier und
Pfefferminzlikör schenken sie auf externen Events gegen eine Spende aus.
Anonyme Unterstützer*innen bringen an Marburger Wänden Graffiti zu Ehren
des Havanna Acht an. Häuserwände und Fensterscheiben werden mit Laken
geschmückt. „Besetzen, Verteidigen, Enteignen“ und „h8 lebt“ steht zum
Beispiel darauf.
Auch die Marburger Stadtverordnetenversammlung diskutierte bereits über das
Havanna Acht. Linke und Grüne machen die Gentrifizierung für das Dilemma
verantwortlich. Die SPD beteuert, über Ausweichmöglichkeiten für das
Kneipenkollektiv nachzudenken.
Der sozialdemokratische Oberbürgermeister Thomas Spies bezeichnet den
Verlust des H8 gar als „schweren und schmerzlichen Vorgang“. Die Kneipe sei
„ein wichtiger Freiraum in der Stadt Marburg“ gewesen. „Es war ein
Ankerpunkt und ein Rückzugsort, der fehlen wird. Ich hoffe, dass wir eine
Lösung finden werden, der den weiteren Betrieb an anderer Stelle möglich
macht“, sagt er. Wie genau die Hilfe aussehen könnte, bleibt aber offen.
Spies verweist im Gespräch mit der taz auf das EU-Beihilferecht, welches
die Begünstigung eines Unternehmens durch den Staat verbiete.
## Mehr Gehör für die Gentrifizierungsproblematik
Die Betreiber*innen sind vom Bürgermeister enttäuscht. „Das
Havanna-Acht-Kollektiv ist kein Unternehmen, sondern ein eingetragener
Verein“, sagt ein Kollektivist mit dem Pseudonym Alex Radau, der seinen
echten Namen aus Angst vor Repressionen nicht nennen will. „Thomas Spies
hat uns viel Solidarität zugesprochen, aber noch nie tatsächliches Handeln
gezeigt und dem Kollektiv aktiv geholfen.“
Den Kneipen-Betreiber*innen und ihren Mitstreiter*innen geht es jedoch gar
nicht nur um eine neue Räumlichkeit für das Havanna Acht. Sie sorgen sich
ganz allgemein darum, welche Folgen steigende Mieten für die Stadt haben.
Alex Radau sagt, er hoffe, dass es durch den Fall der Szenekneipe mehr
Gehör für die Gentrifizierungsproblematik in Marburg gebe. Ein Blick ins
Archiv der Oberhessischen Presse offenbart tatsächlich: Seit der
Havanna-Debatte gelangt zumindest der Begriff „Gentrifizierung“ in die
Schlagzeilen.
Die Besetzung vom Montag gibt den Aktivist*innen weiteren Rückenwind. „Es
gab endlich wieder eine Aufbruchstimmung“, sagt Mitbetreiber Alex Radau am
nächsten Tag. „Die letzten Wochen waren viele Leute nicht nur persönlich,
sondern auch politisch traurig geworden. Gestern hatte sich die Lethargie
in Hoffnung gewandelt.“
In der pittoresken Marburger Oberstadt herrscht da aber schon wieder Ruhe.
Die Polizei, die die ganze Nacht vor der geschlossenen Kneipe wachte, ist
verschwunden. Das leerstehende Erdgeschoss ist mit frischen Brettern
verbarrikadiert.
20 Jun 2019
## LINKS
[1] /Gentrifizierung-in-Marburg/!5520343
[2] https://utopie.noblogs.org/
## AUTOREN
Hannah Bernstein
## TAGS
Marburg
Havanna Acht
Recht auf Stadt
Stammkneipe
Immobilien
Spekulation
Gentrifizierung
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