# taz.de -- Prozess wegen Immobiliengeschäften: Flipping im Marburger Idyll | |
> In der einst linken Unistadt Marburg konnten sich Betrüger auf dem | |
> überhitzten Wohnungsmarkt austoben. Nun stehen drei der Zocker vor | |
> Gericht. | |
Bild: Das ehemalige Kneipenkollektiv Havanna8, das den Betrügereien von Matteo… | |
MARBURG taz | Seit vergangenem Mittwoch wird vor der Wirtschaftsstrafkammer | |
des Marburger Landgerichts ein Skandal verhandelt, der die beschauliche | |
mittelhessische Universitätsstadt erschüttert hat. Gegen mindestens 16 | |
Personen wird ermittelt. [1][Den Beschuldigten wird vorgeworfen, Immobilien | |
in großem Stil hin und her verkauft zu haben.] Millionen Euro sind dabei | |
geflossen. Hunderte MieterInnen und ein halbes Dutzend Kreditinstitute sind | |
betroffen. | |
Am Nachmittag des ersten Prozesstages berichtet ein Kriminalkommissar, wie | |
so ein „Flipping“ genanntes Geschäft läuft. Nummer eins, der Angeklagte | |
Joachim L., kauft die Immobilie X für 660.000 Euro. 17 Monate später kauft | |
sie ihm der Angeklagte Nummer zwei, Matteo S., für 1,7 Millionen Euro ab. | |
Nur sechs Monate später kauft sie der ursprüngliche Eigentümer wieder | |
zurück, für 3 Millionen Euro. | |
Eine Wertsteigerung von mehr als 400 Prozent innerhalb von zwei Jahren, | |
trotz Gebühren und Grunderwerbsteuern? Ein Immobilienhändler kauft sein | |
ursprüngliches Eigentum für das Vierfache zurück und will dabei noch Gewinn | |
machen? Wurde der Wert der Immobilien künstlich aufgeblasen, Vorwand, um | |
Mieten zu erhöhen und Mieter aus ihren Wohnungen zu vertreiben und Kredite | |
zu erschwindeln? | |
Ermittelt wird in Marburg gegen 16 Personen, Immobilienkaufleute, Banker, | |
Juristen. Ein Notar und zwei Bankkaufleute sitzen nun auf der Anklagebank. | |
Der Hauptangeklagte Matteo S. gibt sich zum Auftakt zerknirscht. „Er bereut | |
zutiefst“, sagt sein Verteidiger; sein Mandant entschuldige sich bei allen, | |
denen er geschadet habe. Leider sei der „zu aufgeregt“, um selbst Rede und | |
Antwort zu stehen, schließlich stehe er vor den Trümmern seines Lebens, | |
„persönlich und wirtschaftlich ruiniert“, trägt der Anwalt vor und verlie… | |
dessen Erklärung. S., 35 Jahre alt, Kochlehre und Fachhochschulstudium | |
abgebrochen, wird in Handschellen vorgeführt. Seit dem 8. Mai ist er in | |
U-Haft. | |
## Erst der Anfang | |
Es fällt schwer, sich diesen Mann als Immobilienjongleur vorzustellen, der | |
in kurzer Zeit ein millionenschweres Unternehmen aufgebaut hat. Es umfasste | |
zuletzt 17 Gebäude mit mehr als 300 Mietern. S. hat Geschäfte mit | |
mindestens sieben Kreditinstituten eingefädelt, über den Marktführer für | |
Crowdlending, das Portal Exporo, hat er Hunderte Privatanleger gewinnen | |
können. Vor vier Wochen ist das Kartenhaus endgültig zusammengebrochen. Der | |
Vorstand, der inzwischen seine Unternehmensgruppe führt, hat Insolvenz | |
angemeldet. | |
Und dieser Prozess ist erst der Anfang. Auch gegen S. laufen weitere | |
Ermittlungen. Staatsanwalt Oliver Rust hat sich zunächst auf die Vorwürfe | |
konzentriert, deren Nachweis ihm weniger kompliziert erschien. Dass beim | |
„Immobilienflipping“ die Buchwerte mehrfach künstlich in die Höhe getrieb… | |
wurden, sei nicht so leicht nachzuweisen, sagt er. | |
Doch schon die Liste der in diesem Prozess verhandelten Vorwürfe gegen S. | |
ist lang: Gewerbsmäßig begangene Untreue, Fahren ohne Führerschein, | |
Steuerverkürzung, Kreditbetrug. Mit seinem Geständnis räumt der | |
Hauptangeklagte immerhin ein, die Kautionen seiner MieterInnen, rund | |
200.000 Euro, nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben und vertraglich | |
vereinbart, auf insolvenzfeste Konten eingezahlt, sondern in den flüchtigen | |
Geldkreislauf seines Unternehmens geleitet zu haben. | |
Zudem hat er Zehntausende Euro Steuern und Sozialabgaben hinterzogen, indem | |
er seine Angestellten zum Teil schwarz bezahlte. Als er über Exporo neue | |
Millionenkredite einwarb, hat er Eigenkapital vorgetäuscht, das es nicht | |
gab. Ziemlich dreist nutzte er sogar das geliehene Geld aus der ersten | |
Emission, um es als angebliche Eigenmittel zur Absicherung der zweiten | |
nachzuweisen. | |
## Maserati und Audi | |
„Wo ist das Geld geblieben?“, dieser Frage will die Vorsitzende Richterin, | |
Beate Mendel, im laufenden Prozess nachgehen, denn die Geschäftskonten | |
waren häufig im Soll. Es könnte mit dem zu tun haben, was sie als | |
„Lebenswandel“ des Angeklagten bezeichnet. | |
Matteo S. fuhr dicke Luxusschlitten der Marken Maserati und Audi, in den | |
Akten ist von hohen Kreditkartenabrechnungen und sechsstelligen „Entnahmen | |
von Bargeld“ für die private Lebenshaltung die Rede. Dass er immer wieder | |
ohne Fahrerlaubnis am Steuer saß und bei einer Polizeikontrolle einen | |
gefälschten bulgarischen Führerschein vorzeigte, gilt da als Petitesse. | |
Etwas besser ergeht es seinem ehemaligen Geschäftspartner, dem 34-jährigen | |
Joachim L. Im Businessdreiteiler, mit Seidenkrawatte und in edlen Schuhen | |
tritt er auf, wie man das von einem erfolgreichen Immobilienkaufmann | |
erwartet. Doch auch er lässt lieber seinen Anwalt sprechen. | |
In einer Verhandlungspause am Mittag hat der mit Staatsanwaltschaft und | |
Gericht nichtöffentlich einen Deal ausgehandelt. Danach räumt auch L. die | |
gegen ihn erhobenen Vorwürfe ein. Die Kammer stellt dafür eine | |
Bewährungsstrafe von höchstens zwei Jahren in Aussicht. Der Angeklagte L. | |
räumt im Gegenzug ein, dass er dem mitangeklagten Notar Sven S. in der | |
Regel nur 90 Prozent der Gebührenrechnung überwiesen habe. L. habe | |
gewusste, dass der Notar keinen Rabatt gewähren durfte, und habe deshalb | |
nachträglich alle Fehlbeträge bezahlt, so sein Anwalt. | |
## Kneipenkollektiv unter den Opfern | |
Dieses Eingeständnis bringt seinen früheren Geschäftspartner, den Notar und | |
Rechtsanwalt Sven S., zusätzlich in Bedrängnis. Die Staatsanwaltschaft | |
wirft dem 47-Jährigen vor, von der Rotation des Immobilieneigentums | |
profitiert zu haben. Indem er seinen Geschäftspartnern ungesetzliche | |
Rabatte gewährt habe, seien mindestens 600.000 Euro illegal in seine Kassen | |
geflossen. Für Sven S. geht es um die Existenz. Wortreich kämpft er in | |
eigener Sache: Niemals habe er seinen Stammkunden Rabatte gewährt, | |
allenfalls die Stundung von Teilbeträgen. Im Mai hatte der Notar bei einer | |
Vernehmung allerdings eingeräumt, sich auf Rabatte „eingelassen“ zu haben, | |
weil L. „ihn regelrecht bequatscht“ habe. | |
„Ich hätte alles getan, um die Verhaftung zu vermeiden. Ich war in einer | |
Ohnmachtssituation“, sagt der Volljurist jetzt. Der Staatsanwalt fasst | |
nach. Verantwortliche der Stadt Marburg und der Sparkasse hätten damals | |
wegen der Verkäufe mit exorbitanten Wertsteigerungen die Staatsanwaltschaft | |
eingeschaltet. „Hätten Sie das nicht auch tun müssen?“, fragt er den | |
angeklagten Notar. „Ja“, antwortet der und klingt dabei ziemlich kleinlaut. | |
Für ihn sieht es nicht gut aus. | |
Neben Banken und Anlegern sind vor allem die MieterInnen die Leidtragenden. | |
Viele haben ihre Wohnungen verloren, weil die jeweils neuen Eigentümer | |
höhere Mieten durchsetzen konnten. Wohnungen wurden in Appartements | |
aufgeteilt, weil das höhere Renditen versprach. | |
[2][Das linke Kneipenkollektiv Havanna8 ist ein prominentes Beispiel.] Auch | |
das Gebäude, in dem der Szenetreff jahrelang zu Hause war, wechselte | |
mehrfach den Eigentümer. Matteo S. hatte damals versucht, nahezu eine | |
Verdopplung der Miete durchzusetzen. Am Ende kündigte er den Mietvertrag, | |
das Havanna8 wurde abgewickelt. Unter den Zuhörern im Gerichtssaal sind | |
Paul H. und Emma F., ehemalige Mitglieder des Kollektivs. Dass ihr früherer | |
Vermieter im Gefängnis einsitze, sei zwar „schade für ihn“. Dessen Auftri… | |
vor Gericht nehme er ihm allerdings nicht ab, sagt Paul. Damals sei er ein | |
„komplett anderer“ gewesen, sei arrogant aufgetreten, habe sie bedroht und | |
Unterlassungsverfügungen angekündigt. | |
## Exporo antwortet nicht | |
Die von S. gegründete und inzwischen insolvente Immobiliengruppe Deutsche | |
Mikroappartement (DEMA) hat rund 360 MieterInnnen. Vor ein paar Wochen | |
erreichte die eine neue Schockwelle. DEMA hatte mitgeteilt, sie müssten | |
sich ab sofort selbst um die Anmeldung von Strom, Gas und Wasser kümmern, | |
andernfalls werde die Versorgung eingestellt. Der Mieterschutzverein schlug | |
Alarm, denn in vielen der Häuser sind Zimmer einzeln vermietet, es gibt nur | |
Gemeinschaftszähler. Die Zumutung ist inzwischen offenbar vom Tisch. | |
Gegenüber der taz erklärte der vorläufige Insolvenzverwalter, Zahlung und | |
Abrechnung der Versorgung seien wieder sichergestellt. MieterInnen, die auf | |
die Forderung eingegangen seien und neue Verträge abgeschlossen hätten, | |
könnten die rückabwickeln. Bleibt allerdings die Ungewissheit. Im Rahmen | |
der Insolvenz komme ein Verkauf der Immobilien „in toto“ in Frage, aber | |
auch der Verkauf einzelner Objekte, so der Insolvenzverwalter zur taz. Die | |
Mietverträge würden weiter gelten. | |
Ob die bis zu 700 Anleger, die 3,1 Millionen Euro in dieses Unternehmen | |
investiert haben, ihr Geld wiedersehen, bleibt offen. Bei der Emission | |
waren ihnen Zinssätze von 5 bis 5,5 Prozent und die Rückzahlung bis Ende | |
2020 zugesichert worden. [3][Eine Anfrage der taz ließ das Portal exporo | |
unbeantwortet.] Auf die Frage, wie seinerzeit die Bonität von Matteo S. | |
geprüft wurde, gab es ebenfalls keine Antwort. Das Unternehmen, laut | |
Eigenwerbung „Fundament renditestarker Zinsen“, reagierte offenbar nur in | |
einem Punkt. | |
Die taz hatte gefragt, warum trotz Insolvenz die DEMA-Portfolien Marburg I | |
und II auf der Firmen-Homepage als „erfolgreich finanziert“ aufgeführt | |
waren. Inzwischen sind sie von der Liste verschwunden. | |
Nächster Gerichtstermin am 11.12. | |
10 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Havanna-Acht-in-Marburg/!5604396 | |
[2] /Gentrifizierung-in-Marburg/!5520343 | |
[3] https://exporo.de/ | |
## AUTOREN | |
Christoph Schmidt-Lunau | |
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