# taz.de -- Was ist ein Dorf, was ist die Welt?: Hier gibt es nicht mehr | |
> Ein Besuch in hessischen Übernthal beim Logopäden und Künstler Stefan | |
> Schneider, Ihm ist das Malen buchstäblich unter die Haut gegangen. | |
Bild: Stefan Schneider ist Logopäde und macht Kunst | |
ÜBERNTHAL taz | Eine „Liste überfahrener Tiere“ habe er angelegt, erzählt | |
Stefan Schneider. Zwanzig stehen da schon drauf, seit September. Jetzt, im | |
November, sitzen wir in seiner spartanischen Wohnküche. Esstisch, vier | |
Stühle, ein Musikpult mit Fensterblick über den Balkon nach draußen. Ein | |
schwarzes Loch, wurde mir selbst als kleinem Jungen erklärt, entsteht, wenn | |
man einen Elefanten in eine Streichholzschachtel quetscht. Damit hat | |
Schneiders Lebenszentrum, das oberhessische Dorf Siegbach-Übernthal, | |
zumindest dieses gemein: Die Zeit vergeht dort nicht so geordnet wie | |
gewohnt. Alle Zeitschichten sind gleichzeitig da. | |
Schwer zu sagen, wie eremitisch Schneider lebt, wenn wir nicht bei ihm | |
sind; aber gut vorstellbar, dass er wirklich immer so abgeschieden in einer | |
Ecke seines Elternhauses waltet und schaltet, klebt und sammelt; und, wenn | |
ihm mal langweilig wird, durchs 500 Einwohner zählende Übernthal flaniert | |
wie ein ländlicher Lumpensammler mit Internetverbindung. | |
Heute sei Übernthal, sagt Schneider, nur noch ein „Ausstellungsdorf“, | |
niemanden sehe er mehr auf der Straße. „Die Kinder hängen zu Hause rum und | |
haben gleichzeitig total viele Sprachfehler, das kann ja kein Zufall sein.“ | |
Tatsächlich begegnen wir etwa drei Menschen auf unserer Tour durchs Dorf. | |
Die Bahnverbindung wurde 2001 stillgelegt. Gäbe es hier keine Häuser, man | |
wäre wirklich ganz alleine auf der Welt. | |
Wenn ein Dorf schon kulissenhaft aussieht, liegt es nicht fern, damit Kunst | |
zu machen. Kindliche Allmacht und erwachsene Resignation, magische | |
Sehnsucht und globale Enttäuschung: [1][Es ist ein eigentümliches Gemisch | |
aus Sensationen, mit und aus denen heraus Schneider Fotomontagen seiner | |
Heimat anfertigt.] Das ist selbst noch gar nicht so lang so friedlich, wie | |
es sich gibt: Eisenerz wurde in der Gegend früher abgebaut, Schneiders | |
Vater hat als Schleifer sein schmales Geld verdient. Die Mutter war | |
Hausfrau, dann Altenpflegerin. Übernthal liegt, anders als der Name | |
nahelegt, ganz unten im Tal und hat seinen Namen von den Ebern bekommen, | |
die dort wühlten. Ebertal ist Übernthal. | |
## Brachiale Photoshop-Montage | |
„Überall ist Übernthal“ heißt hingegen seine Postkartenserie, die Schnei… | |
unter anderem schon im Dorfladen, bei RTL und der HR-„Hessenschau“, [2][in | |
der FR und lokalen Medien präsentiert hat.] Keine Bildidee bleibt | |
ungenutzt, so hat es den Anschein. Davon zeugt zumindest der immense | |
Ausstoß, den Schneider mit seinem Projekt, neben Postkarten, auch in | |
Buchform [3][und auf seinem YouTube-Kanal von sich gibt.]Und auch kein Reim | |
wird verschwendet: „fatal“, „international“, „global“ und so weiter… | |
Wortspiele sind gewissermaßen der erste Schritt der Selbstdistanzierung, | |
der Umarbeitung. Die oft recht brachiale Photoshop-Montage der zweite: | |
Einmal versinkt da Übernthal in Plastik, seine Eltern sitzen auf einer | |
Sitzbank im Müll; ein anderes Mal werden die Kartoffeln auf dem Mond | |
geerntet, und der Vietnamkrieg spielt mitten vor der Haustür. Über dem Dorf | |
glüht ein Atompilz. Das Rathaus versinkt im Meer, darauf ein Schlauchboot | |
mit Asylsuchenden. Der Transport nach Treblinka startet vom Übernthaler | |
Bahnhof. | |
„Meine Mutter kann sich noch erinnern, wie die Juden aus dem Nachbardorf | |
deportiert wurden. Das ist alles nicht so weit weg.“ Aber was hat alles | |
andere mit Übernthal zu tun? Ist das nicht eine Nummer zu flapsig? Man muss | |
das wiederum so flapsig sagen: Das ist eben Schneiders Art, mit der Welt | |
umzugehen, die ihm zu Leibe und bis an die Tür seiner Wohnküche rückt, | |
seine Art, sie zu schreddern und neu auferstehen zu lassen. Auch sich | |
selbst. | |
„Stottern, Bettnässen, kindliche Depressionen, LRS, | |
Konzentrationsprobleme“, schreibt er über seine Kindheit in seinem | |
Lebenslauf, den er in zig Varianten vorher und nachher mir zuschickt. Eine | |
betitelt er mit „Kurzbibliographie“: Sein Leben ist ein offenes Buch, heißt | |
das vielleicht. Man kann diesen ganzen Schneider’schen Konstellationen | |
tatsächlich nur schreibend gerecht werden, indem man sie erneut montiert. | |
## Van Gogh? Der auch noch? | |
Er also, der stotterte und noch stottert, arbeitet, erstes Paradox, heute | |
als Logopäde, so hält er sich über Wasser. Zeigt stolz ein von ihm während | |
der Ausbildung entwickeltes Kommunikationsbuch für Aphasiker, also | |
Sprachlose. Frühstück, Arztbesuche, über alles Wichtige können Betroffene | |
sich so mitteilen. | |
Dann gehen wir runter ins Untergeschoss zur Mutter. Die Luft ist | |
schlagartig zehn Grad wärmer als oben beim Sohn. Ihr Mann, Schneiders | |
Vater, ist vor zwei Monaten gestorben. Er war pflegebedürftig, hatte einen | |
Schlaganfall 2011, deswegen ist Schneider überhaupt erst wieder nach | |
Übernthal gezogen. Die Mutter weint, berichtet, gerade ein Buch über den | |
Tod zu lesen. Schneider sagt gar nichts. Später erzählt er, nach dem Tod | |
seines Vaters wieder mit van Gogh angefangen zu haben. | |
Van Gogh? Der auch noch? „Nur wegen van Gogh wollte ich überhaupt Künstler | |
werden.“ Vorher „guter Dorffußballer“, habe er mit 20 erstmals Bilder von | |
ihm gesehen und sofort den Entschluss gefasst, Maler zu werden. Schneider | |
zog nach Kassel, holte sein Abitur über den zweiten Bildungsweg nach, | |
studierte an der Kunsthochschule. In einem seiner Lebensläufe skizziert er | |
lebensgeschichtliche „Ähnlichkeiten zu van Gogh: Trotz der scheinbaren | |
ländlich-idyllischen Normalität und Beliebtheit schon immer anders | |
gewesen“. | |
Was hat Schneider sich abgeschnitten, wenn nicht das Ohr? Erstens: das | |
Dorf. Zweitens: die Haut. „Ich hatte starke Schuppenflechte als | |
Jugendlicher, musste manchmal in Salbe und Plastikfolie eingepackt | |
schlafen. Das ist von den Ölfarben natürlich nicht besser geworden.“ Er | |
führt uns in den Keller, zeigt ein Bild aus seiner Studienphase, von dem | |
seine Professorin begeistert gewesen sei: monochromes Orange, fast wie | |
Honig. „Durch diesen künstlerischen ‚Ritterschlag‘ ging erst mal gar nic… | |
mehr, mein ganzer Körper hat rebelliert und war voller Hautausschlag für | |
diesen Unikram.“ | |
## Überhaupt, der Dialekt | |
Haut und Dorf sind wieder dran. Was macht van Gogh? Sich in Übernthal | |
rumtreiben natürlich, auf dem Acker und in Schneiders Haus; dann in Kassel, | |
am Herkules, beim Arbeitsamt – zumindest auf Schneiders Bildern. Die hat er | |
im Treppenhaus und auf seiner Etage drappiert wie in einem Museum: „Museum | |
of Contemporary Art Overvalley City“. | |
Auch wegen seiner gesundheitlichen Beschwerden ist er auf Photoshop | |
umgestiegen. Daneben schickt Schneider Seltsamtexte in der Art von Cut-ups | |
an Untergrundzeitschriften und gewinnt immer mal wieder | |
Literaturwettbewerbe. Er beginnt eine Geschichte vorzulesen, einen Streit | |
seiner Eltern, den er im Dialekt mitgeschrieben hat, und liest das leicht | |
stotternd. Darüber steht groß der Name Jürgen Schneider. „Das ist ein | |
Pseudonym und der Name meines Bruders. Ich hatte als Kind und Jugendlicher | |
Angst vor meinem eigenen Namen, bin immer zusammengezuckt, wenn jemand | |
meinen Namen gesagt hat.“ | |
Überhaupt, der Dialekt. Nicht überall in Hessen spricht man so wie in | |
Frankfurt, Dibbemess und Ebbelwoi. Hier ist es Mittelhessisch, dessen | |
auffälligste Eigenheit, das rollende R, seltsamerweise wie bei Amerikanern | |
klingt. „Ich habe Hochdeutsch erst in der Schule gelernt“, sagt Schneider. | |
Er gehöre allerdings auch zur letzten Generation, die den Dialekt noch | |
einwandfrei sprechen könne. „Heutzutage gibt es Kurse dafür, aber das | |
klingt gekünstelt.“ | |
Auf der Tour durchs Dorf zeigt Schneider das Übernthaler Highlight: kleine | |
Gassen, die überall zwischen den Häusern hindurchführen. „Auf den Straßen | |
hatten früher die Hausfrauen ihre Augen, da war man nie ungestört.“ Wie | |
Fäden durchziehen sie das Dorf, sodass es in kleine Parzellen zerfällt. „So | |
ist hier auch das Erbrecht, historisch: Nicht der älteste Sohn hat das Land | |
bekommen, sondern es wurde zwischen allen aufgeteilt. Das Erbe ist also | |
immer weiter geschrumpft.“ | |
Schneider sitzt wieder in seiner Wohnküche. Er habe kaum mehr Kontakt zum | |
Dorf. „Ohne aus dem Fenster zu blicken, sehe ich die ganze Welt“, habe | |
Laotse gesagt. Würde er Städtern empfehlen, aufs Land zu ziehen? „Es ist | |
heutzutage total egal, wo man ist. Das Dorf ist keine Zwangsgemeinschaft | |
mehr, sondern im Prinzip genauso wie die Stadt.“ „Die Gebliebenen“ hieß | |
eines seiner Theaterstücke, das in den nuller Jahren in Marburg aufgeführt | |
wurde. Jetzt ist er selbst ein Gebliebener. „Wie man es auch dreht und | |
wendet“, endet seine neueste Geschichte, „langsam wird die Natur | |
erwachsen.“ | |
7 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.mittelhessen.de/lokales/dillenburg/siegbach/fotobande-uber-uber… | |
[2] https://www.fr.de/rhein-main/hessischer-rundfunk-org27168/globalen-dorf-110… | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=_xerJLvskMI | |
## AUTOREN | |
Adrian Schulz | |
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