| # taz.de -- Fachkräfte dringend gesucht: Sei lieber nett zu mir, Chef! | |
| > Den Betrieben gehen die Fachkräfte aus: Friseure werben mit | |
| > Rhetorik-Kursen, Schreiner mit Work-Life-Balance. Doch die Ansprüche sind | |
| > hoch. | |
| Bild: Gern gesehen: Ein Arbeiter auf einer Baustelle in Bingen | |
| Berlin taz | Die Sache mit dem Frontspoiler war dann doch zu viel. Werner | |
| Sundermann regt sich noch heute auf, wenn er davon erzählt. Ein | |
| Bauhandwerker hatte sich in seinem Ausbau- und Sanierungsbetrieb beworben, | |
| Sundermann hätte ihn auch genommen. | |
| „Da fragt er mich, ob er mit seinem eigenen Auto zu meinen Baustellen | |
| anfahren muss“, schildert Sundermann, „das wäre ihm nämlich gar nicht so | |
| recht, auf diesen holprigen Anfahrtswegen, weil dann ja der Frontspoiler an | |
| seinem Auto beschädigt werden könne.“ Aus dem Beschäftigungsverhältnis | |
| wurde nichts, „bei so was krieg ich zu viel“, seufzt der Firmenchef. | |
| Sundermann sucht für seinen Fünf-Mann-Betrieb händeringend Bauhandwerker, | |
| „aussichtslos, da melden sich keine Leute mehr, die geeignet sind“, sagt | |
| der Berliner Firmenchef, der seinen richtigen Namen lieber nicht in der | |
| Zeitung lesen will. Große Aufträge von Neukunden lehnt er inzwischen ab: | |
| keine Kapazitäten. | |
| So wie Sundermann geht es vielen mittelständischen Handwerkern: starke | |
| Nachfrage, zu wenig Personal. In den Bau- und Ausbaugewerken müssten Kunden | |
| momentan bis zu zwölf Wochen warten, bis ein Handwerker kommt, [1][sagte | |
| kürzlich Hans Peter Wollseifer], Präsident des Zentralverbands des | |
| Deutschen Handwerks (ZDH). | |
| ## Viel zu wenige Azubis | |
| 20.000 Lehrstellen im Handwerk bleiben voraussichtlich unbesetzt. | |
| „Anspannungen und Engpässe“ zeigten sich in „einigen technischen | |
| Berufsfeldern, bei Bauberufen sowie in Gesundheits- und Pflegeberufen“, | |
| heißt es auch im jüngsten [2][Monatsbericht der Bundesagentur für Arbeit | |
| vom Juli]. | |
| Das Ungleichgewicht in den Branchen hat mehrere Ursachen: Beim Bau sind es | |
| die boomende Konjunktur und die niedrigen Zinsen, die für eine steigende | |
| Nachfrage und damit für einen Mangel an Fachkräften sorgen. In der Pflege | |
| schafft die Alterung in der Gesellschaft den steigenden Bedarf. | |
| Dass es generell an Auszubildenden mangelt, erklärt sich zudem durch die | |
| demografisch bedingten sinkenden Schulabgängerzahlen. Hinzu kommt die | |
| Neigung junger Leute, lieber zu studieren als eine Lehre anzufangen. | |
| Wer eine Ausbildung in der Pflege oder im Handwerk gemacht hat, tendiert | |
| dann später auch noch dazu, den Beruf zu wechseln. Allein zwei Drittel der | |
| im Handwerk Ausgebildeten verlassen im Laufe ihres Berufslebens das | |
| Handwerk. | |
| ## „Abwanderungswünsche“ erkennen | |
| „Es hat sich einiges verändert“, sagt Christa Muschert, „wir haben heute | |
| einen Arbeitnehmermarkt. In einem Vorstellungsgespräch stellen heute die | |
| künftigen Mitarbeiter die Fragen, weniger die Arbeitgeber.“ Muschert ist | |
| Koordinatorin in der „Personaloffensive 2025“ der Handwerkskammern in | |
| Baden-Württemberg. Ihre KollegInnen beraten kleine und mittlere Betriebe in | |
| der Frage, wie man Personal gewinnen und halten kann. Die Resonanz ist | |
| groß. | |
| Auf einer [3][Plattform der Stuttgarter im Internet] finden die Unternehmen | |
| Checklisten und Leitfäden, wie sie ihre Personalressourcen pflegen können. | |
| In einem Leitfaden der Handwerkskammer Münster geht es um die | |
| „Früherkennnung“ von „Abwanderungswünschen“ der Mitarbeiter. Als | |
| Gegenmittel werden unter anderem finanzielle Anreize genannt, wie etwa | |
| „Gehaltsanpassungsklauseln“, die auch Lebenshaltungskosten berücksichtigen. | |
| Beschäftigte in GmbHs könnten zudem mit kleinen stillen Beteiligungen ans | |
| Unternehmen gebunden werden. „Damit fühlt sich der Mitarbeiter als | |
| Miteigentümer, wobei seine Möglichkeiten, tatsächlich Einfluss auf die | |
| Unternehmenspolitik zu nehmen, gleichzeitig sehr begrenzt sind“, wirbt der | |
| Leitfaden. | |
| Prämien, Zuschüsse zur Altersvorsorge, die Erstattung von Fahrtkosten und | |
| fachliche Weiterbildungen gehören zum Standardprogramm der Personalbindung. | |
| Ein Friseursalon steigert mit Kursen in „Rhetorik“ und | |
| „Persönlichkeitsfortbildung“ die Motivation der Angestellten und wird im | |
| Leitfaden als Beispiel angeführt. | |
| ## Werbe-Prämie für Azubis | |
| „Führungskräfte müssen sich heute auch um die Work-Life-Balance ihrer | |
| Mitarbeiter kümmern“, sagt Muschert. Ein Handwerksbetrieb beispielsweise | |
| gestattete einem neuen Kollegen, erst um acht Uhr, statt schon um sieben | |
| Uhr mit der Arbeit anzufangen. Solche Zugeständnisse wären früher im | |
| Handwerk undenkbar gewesen. | |
| Zur Hochform in Sachen Eigenwerbung müssen Unternehmen auflaufen, wenn sie | |
| um Auszubildende werben. „Dabei werden ganz neue Werbeschienen aufgemacht“, | |
| erzählt Muschert. Wer als Auszubildender beispielsweise in seinem | |
| Bekanntenkreis einen weiteren Azubi für denselben Betrieb wirbt, erhält | |
| eine Prämie. Das könne eine Geldsumme sein im dreistelligen Bereich oder | |
| auch ein Skiwochenende, berichtet Muschert. | |
| Originalität ist stark gefragt. Zu gewissem Facebook-Ruhm gelangte die | |
| Glaserei Sterz aus Langen bei Cuxhaven [4][mithilfe eines Videos]. Darin | |
| zertrümmerte der Inhaber eine Glastür und verkündete dann, auf den Scherben | |
| stehend, im norddeutschen Sound des Komikers Otto sein Lockangebot für | |
| künftige Azubis: 100 Euro mehr im Monat als Ausbildungsvergütung, einen | |
| Zuschuss zum Führerschein, 500 Euro für die bestandene Gesellenprüfung mit | |
| der Note „drei“. Er erntete vier Millionen Aufrufe im Netz und drei neue | |
| Lehrlinge. | |
| „Wir sprechen die jungen Leute in ihrer Sprache an“, sagt auch Dieter | |
| Mießen, Ausbildungsleiter bei dem Kanalbauunternehmen Frisch & Faust in | |
| Berlin. Helm auf dem Kopf, Lärmschutz auf den Ohren, Bagger fahren, | |
| schippen und immer an der frischen Luft, „die Arbeit macht einfach Spaß“, | |
| versichert ein Azubi in dem YouTube-Video, und plötzlich wirkt es wie eine | |
| aufregende Mischung aus Outdoorsport, Burgenbauen und Hightech, bei Frisch | |
| & Faust Gräben auszuheben und Abwasserrohre zusammenzuschrauben. | |
| ## Chancen für Geflüchtete? | |
| Wenn Unternehmen so bemüht um neue Mitarbeiter buhlen, haben dann auch | |
| Bewerber mit schlechteren Voraussetzungen, zum Beispiel Flüchtlinge, mehr | |
| Chancen? Dazu hat Andreas Töpfer, Ausbildungsleiter bei der STR | |
| Tank-Container-Reinigungs GmbH, im brandenburgischen Schwarzheide | |
| Erfahrungen gesammelt. | |
| Das Unternehmen sucht zwei Auszubildende zum Kraftfahrzeugmechatroniker. | |
| Eine Lehrstelle ist frei geblieben. Dabei steht im Angebot des Unternehmens | |
| extra: „Dieses Angebot richtet sich auch an Bewerber mit Basiskenntnissen | |
| der deutschen Sprache, zum Beispiel an Flüchtlinge.“ | |
| „Die Berufsschule ist eine Herausforderung“, sagt Töpfer. Wenn die | |
| Auszubildenden im Berufsschulunterricht wegen mangelhafter | |
| Deutschkenntnisse nicht nachkommen, die Fachbücher nicht lesen können, | |
| bestehen sie die Prüfungen nicht. Dann hat auch der Beginn einer Lehre | |
| wenig Sinn. | |
| Kürzlich hatte das Unternehmen ein paar Praktikanten mit Fluchthintergrund, | |
| zu einem Ausbildungsvertrag kam es nicht. „Geflüchtete müssen länger auf | |
| ihre Jobs vorbereitet werden“, sagt auch Gerd Kistenfeger, Sprecher der | |
| Handwerkskammer Stuttgart, „das geht so schnell nicht, dass die | |
| Geflüchteten jetzt die Lücken bei den Fachkräften schließen können“. | |
| ## Bessere Gehälter? | |
| Obendrein sind die Anforderungen im Handwerk gestiegen. Wer heute einen | |
| Bauberuf erlernt, muss sich mit neuen Materialien, mit Umweltschutz | |
| beschäftigen. Wer sich mit Heiztechnik befasst, muss sich auch für | |
| Solarsysteme interessieren. Selbst Reinigungskräfte müssen heute Bescheid | |
| wissen über die Chemie der Putzmittel und darüber, wie man in Büros putzt, | |
| in denen teure Computer herumstehen. | |
| Wenn Fachkräfte und Auszubildende Mangelware sind, führt das nicht dazu, | |
| dass sich Machtpositionen verändern, Arbeitsbedingungen und Gehälter | |
| verbessern? Nicht unbedingt. | |
| Eine Friseurin verdient im ersten Ausbildungsjahr laut Tarif 406 Euro | |
| brutto, ein Maler- und Lackierer 600 Euro. Das unterschreitet die | |
| Hartz-IV-Sätze, und selbst wenn man bedenkt, dass Auszubildende neben der | |
| Berufsschule ja nur in Teilzeit im Betrieb sind, drücken die niedrigen | |
| Vergütungen auf die Motivation. | |
| Firmen zahlen zwar oft etwas mehr als der Tarif vorsieht, aber auch dann | |
| bleibt es immer noch wenig. Im Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung | |
| eine „Mindestausbildungsvergütung“ versprochen, der Deutsche | |
| Gewerkschaftsbund empfiehlt 635 Euro brutto als Mindestvergütung im ersten | |
| Lehrjahr. Doch auch mit dieser Summe wird das Azubi-Problem nicht gelöst | |
| werden. | |
| ## Wo besser verdient wird | |
| Am Ende könnte der Fachkräftemangel vor allem die regionalen Ungleichheiten | |
| verstärken. Examinierte AltenpflegerInnen verdienen beispielsweise in | |
| Baden-Württemberg im Vollzeitjob rund 3.000 Euro brutto, in Sachsen aber | |
| nur 2.203 Euro, so der [5][Entgeltatlas der Bundesagentur für Arbeit]. | |
| Anlagenmechaniker im Sanitär- und Heizungsbau, hoch begehrte Fachleute, | |
| bekommen in Baden-Württemberg 3.280 Euro, in Thüringen aber nur 2.190 Euro. | |
| Wirtschaftsschwache Regionen dürften es zunehmend schwerer haben, im Kampf | |
| um die Fachkräfte mitzuhalten. | |
| Kunden müssen sich in den Regionen mit unterbesetzten Berufen gedulden. | |
| „Heute sanieren und renovieren die Leute ihre Häuser dann, wenn der | |
| Handwerker Zeit hat“, sagt Daniel Jander, Sprecher der Berliner | |
| Handwerkskammer. Früher war es umgekehrt. | |
| 21 Aug 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.zdh.de/presse/interviews/beitrag-zur-arbeitslosenversicherung-s… | |
| [2] https://statistik.arbeitsagentur.de/Statistikdaten/Detail/201807/arbeitsmar… | |
| [3] https://www.personal.handwerk2025.de/ | |
| [4] https://www.facebook.com/glaserei.sterz/videos/ich-muss-verr%C3%BCckt-sein-… | |
| [5] https://entgeltatlas.arbeitsagentur.de/entgeltatlas/faces/index.jspx;jsessi… | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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