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# taz.de -- Drei Jahre nach dem Flüchtlingssommer: „Es war richtig, den Weg …
> Unser Autor kam im August 2015 nach fünfmonatiger Flucht aus Afghanistan
> in Berlin an. Er landete in der berüchtigten Schlange am Lageso.
Bild: Das ist Deutschland: Warten, abgewiesen werden, wieder kommen, wieder ste…
Am 20. August 2015, also vor fast genau drei Jahren, bin ich in Berlin
angekommen. Hinter mir lagen fünf Monate Flucht. Was vor mir lag, ahnte ich
nicht.
Doch dass ich nach Berlin wollte, stand für mich nicht erst bei meinem
Aufbruch aus meiner Heimatstadt Kandahar fest. Schon nach meinem Abitur in
Afghanistan hatte ich den Wunsch, am Otto-Suhr-Institut der Freien
Universität Berlin Politikwissenschaft zu studieren, über das ich im
Internet so viel Gutes gelesen hatte. Berlin stellte ich mir als große
Stadt mit vielen schönen Parks vor. Von der deutschen Bürokratie wusste ich
nichts.
Doch ohne Visum von Afghanistan bis nach Deutschland zu kommen, ist nicht
einfach. Es ist, etwa an den Grenzübergängen zwischen Afghanistan und
Pakistan, Pakistan und Iran oder Iran und Türkei, lebensgefährlich. An der
Grenze zwischen Iran und der Türkei wurde auf uns geschossen, nur 12 der 15
Mitglieder unserer Gruppe kamen in der Türkei an.
Die Fahrt von der Türkei nach Griechenland über das Mittelmeer musste ich
ohne Schwimmweste machen, die ich einem Kind an Bord gegeben hatte.
Schwimmen kann ich nicht. Dann wurde ich aus Griechenland abgeschoben und
musste die Überfahrt erneut wagen. Auch an der nächsten Grenze schossen
bulgarische Polizisten auf uns und raubten uns Handys und Geld, bevor sie
uns nach Griechenland zurückschickten. Ich habe während der ganzen Flucht
daran gedacht: Ob ich wohl überleben werde?
An der deutschen Grenze wurde nicht geschossen. Stattdessen gabelte mich
nach dem Grenzübertritt eine freundliche alte Dame am Rand einer Autobahn
auf und brachte mich zu einer S-Bahn-Station. Von dort fuhr ich nach
München und mit dem Bus nach Berlin.
Die erste Nacht verbrachte ich in der Busstation. Am nächsten Tag schickten
mich Passanten zur Turmstraße – Lageso hieß der Ort, zu dem ich gehen
müsse. Als ich dort ankam, sah ich Hunderte Menschen in langen Schlangen
warten. Doch ich hatte Glück: Draußen vor der Tür bekam ich eine
Wartenummer, gleich am ersten Tag wurden – wenn auch sehr schnell und
deshalb zum Teil falsch – meine Daten erfasst, und ich bekam eine
Unterkunft in Spandau, wo ich ungefähr zwei Monate blieb.
Das war eine gute Zeit. Die Betreuer waren nett, meine Zimmergenossen waren
Afghanen, so dass wir uns unterhalten konnten, und wegen meiner guten
Englischkenntnisse konnte ich in der Unterkunft als Übersetzer aushelfen.
Mein zweiter Lageso-Termin lief dann nicht so gut. Im Oktober sollte ich
erneut zu dem Amt gehen, weil ich in meiner ersten Unterkunft nur einige
Wochen bleiben durfte. Immer noch warteten Hunderte vor der Tür. Es war
nicht mehr warm wie im Sommer. Obwohl ich einen Termin hatte, gelang es mir
nicht, in das Amt hineinzukommen. Trotz Termin brauchte man eine
Wartenummer.
Meine erste Unterkunft setzte mich trotzdem vor die Tür. Drei Wochen lang
schlief ich nachts in einem Zelt, das vor dem Amt aufgebaut war, oder in
einer Notunterkunft ebenfalls in einem Zelt in Wittenau, zu der ein Bus
abends Wartende vom Lageso brachte. Ich kam morgens früh zum Lageso, um
eine Wartenummer zu bekommen.
## Meine Geschichte erzählt
Jede Nacht verteilten dort Frauen und Männer Getränke für die Wartenden,
manche brachten auch Kleidung. An einem sehr kalten Abend fragte mich eine
Frau, ob ich friere. Ich hatte keine warme Jacke. Dann hat sie gesagt: „Ich
habe eine große Jacke von meinem Sohn, möchtest du sie haben?“ „Ja, will
ich! Bitte.“ Sie hat mir Kaffee gekauft und wollte wissen, warum ich
gekommen bin und wie lange ich unterwegs war. Ich habe meine Geschichte
erzählt, sie weinte und sagte, bitte erzähl weiter. In dieser Nacht haben
wir bis fünf Uhr morgens gesprochen, dann ist sie nach Hause gegangen.
Ich habe bis zum Abend in der Schlange gewartet, aber es nicht geschafft,
eine Wartenummer zu bekommen. So bin ich drei Wochen lang ständig zum
Lageso gegangen.
Manchmal konnte ich nicht glauben, dass ich in Deutschland bin, weil ich
etwas anderes gedacht habe über Deutschland. Ich meinte, man muss nur in
meinem Land warten und warten. Es war unglaublich für mich, dass auch hier
Leute in der Schlange warten müssen.
In der dritten Woche habe ich zum Glück eine Wartenummer bekommen und
konnte in das Amtsgebäude hinein. Dort musste ich nun warten, dass meine
Nummer aufgerufen würde. Aber drinnen warteten ebenso viele Menschen wie
draußen. Um 10 Uhr am Morgen hatte ich das Gebäude betreten – doch bis 19
Uhr war meine Nummer nicht aufgerufen worden. Dann war Feierabend. Das
hieß: alles auf Anfang.
Ich musste am nächsten Tag wieder draußen auf eine Wartenummer warten. Da
war ich so traurig und hoffnungslos, dass ich für zwei oder drei Tagen gar
nicht mehr zum Lageso gegangen, sondern zu Hause geblieben bin.
Als ich nach einigen Tagen wieder in der immer noch gleich langen Schlange
wartete, verteilte eine Frau von einer Hilfsorganisation Kaffee und redete
mit den Wartenden. Ich bat sie um Hilfe und erzählte, dass ich seit einem
Monat vor dem Lageso warte, obwohl ich einen Termin hatte – und dass ich
keine Unterkunft hätte.
Ich ging damals schon als Gaststudent zu englischsprachigen Vorlesungen an
die Humboldt-Uni, Deutsch lernte ich bei YouTube. Wenn ich Tag und Nacht an
der Behörde wartete, ging das beides nicht. Die Helferin nahm meine
Dokumente an sich, gab mir ihre Telefonnummer und sagte, ich solle sie in
zwei Tagen anrufen.
## Streit und Schlägereien
Zwei Tage später wartete sie vor dem Lageso auf mich. An der Schlange
vorbei konnten wir hinein. Es hat dann nicht mehr als zehn Minuten
gedauert, bis alle meine Dokumente fertig waren – ich bekam 100 Euro und
eine neue Unterkunft am Wittenbergplatz. Ich habe mich sehr bedankt und die
Frau sagte, wenn ich andere Probleme hätte, sollte ich sie wieder anrufen.
Was ich bei meinem nächsten Lageso-Termin auch getan habe. Der war Anfang
2016, es war ein eiskalter Winter – und immer noch warteten nachts vor dem
Lageso Hunderte. Es gab Streit und Schlägereien unter den in der Kälte
Wartenden, auch mit den Securities.
Das ist drei Jahre her. Unterdessen habe ich in Deutschland Asyl bekommen
und werde hoffentlich bald am Otto-Suhr-Institut Politik studieren. Ich bin
der Verwirklichung meines Traumes nahe.
Der Weg dorthin war schrecklich. Aber es war richtig, ihn zu gehen.
17 Aug 2018
## AUTOREN
Ahmad Temori
## TAGS
Lageso
Geflüchtete
Mario Czaja
Verwaltung
Schwerpunkt Flucht
Karneval der Kulturen
Schiiten
Integration
Offene Gesellschaft
Serbien
Flüchtlinge
Flüchtlingspolitik
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