# taz.de -- Soziologe über Hass auf Gender Studies: „Attacken haben eine neu… | |
> Attacken in den Medien, physische Bedrohung und der Entzug finanzieller | |
> Förderung: Die Gender Studies geraten weltweit immer stärker unter Druck. | |
Bild: Die Gender Studies brauchen brauchen mehr Schutz | |
taz: Herr Paternotte, Sie sehen die persönliche Sicherheit von | |
GenderwissenschaftlerInnen in Europa in Gefahr. Warum? | |
David Paternotte: Dass Gender Studies als wissenschaftliche Disziplin | |
attackiert werden, ist so, seit es das Fach gibt. Wir mussten uns schon | |
immer gegen Vorwürfe wehren, keine Forschung zu betreiben, sondern | |
Aktivismus. Für uns war das business as usual und gewissermaßen Teil der | |
akademischen Debatte. Aber jetzt haben die Attacken eine neue Qualität. | |
Inwiefern? | |
Wir beobachten momentan in vielen Ländern sowohl persönliche Angriffe gegen | |
WissenschaftlerInnen der Gender Studies als auch Angriffe gegen das gesamte | |
wissenschaftliche Feld. | |
Können Sie konkreter werden? | |
Es gibt vier Arten von Bedrohung: Attacken im Netz, physische Bedrohungen, | |
mediale Attacken und den Entzug finanzieller Förderung. In Verona etwa | |
wollten KollegInnen der dortigen Universität einen Workshop zu | |
LGBTI-Asylsuchenden geben. Rechte unter anderem von der Lega Nord haben sie | |
auf sehr aggressive Art und Weise online bedroht. Anstatt die | |
WissenschaftlerInnen zu schützen und sicherzustellen, dass der Workshop | |
stattfinden kann, hat die Uni-Leitung Angst bekommen und den Workshop | |
abgesagt. | |
Noch ein Beispiel? | |
Ein schwedischer Kollege hier an der Freien Universität Brüssel, der zu | |
Gender und Populismus arbeitet, war kürzlich zu einem Vortrag in Finnland. | |
Im Netz ging es danach auf einem sehr persönlichen Level rund: Nicht nur, | |
dass er Unsinn geredet habe – auch, dass er mit einem Mann zusammenlebt und | |
selbst rumänische Wurzeln hat, wurde gegen ihn angeführt. Die | |
AngreiferInnen waren gut informiert, das hat uns ziemlich schockiert und | |
auch dazu geführt, dass wir gesagt haben: Jetzt müssen wir etwas tun. | |
Sie haben den ersten europaweiten Workshop „Bedrohtes Wissen: Gender- und | |
SexualwissenschaftlerInnen in Europa in Gefahr“ in Brüssel ins Leben | |
gerufen. | |
In Sachen Gender ist Brüssel im europaweiten Vergleich noch einigermaßen | |
sicher. Wir haben deshalb KollegInnen aus ganz Europa eingeladen, aus | |
Großbritannien, den Niederlanden, Spanien oder Polen. Auch aus den USA ist | |
jemand gekommen. Zum Teil WissenschaftlerInnen, zum Teil Personen aus der | |
Leitungsebene von Universitäten. Zudem waren PolitikerInnen aus dem | |
Europäischen Parlament und der Kommission sowie VertreterInnen von | |
Organisationen wie der Europäischen Gesellschaft für Genderwissenschaft da, | |
insgesamt etwa 70 Leute. | |
Was war das Ziel? | |
Viele Betroffene waren erst mal glücklich darüber, dass wir was auf die | |
Beine stellen. Aber gleichzeitig waren auch viele sehr, sehr besorgt. | |
KollegInnen aus Ungarn oder der Türkei, die zum Teil nicht mehr an ihre | |
Heimat-Unis zurückkehren können, sind einfach verzweifelt. Wir wollten uns | |
deshalb vor allem austauschen und verstehen, welche Arten von Angriffen wir | |
erleben. Außerdem wollten wir auch bei Leuten, die nicht direkt selbst | |
betroffen sind, ein Bewusstsein dafür schaffen. Für manche, die wir | |
eingeladen hatten, war das ein ganz neues Thema. | |
Der Backlash gegen Frauen- oder LGBTI-Rechte ist doch überall in Europa zu | |
spüren. | |
Das schon. Es gibt auch schon viele, die darüber nachdenken, wie man diesem | |
rechten Backlash entgegentreten kann. Aber es gibt noch kaum jemanden, der | |
das für die Gender Studies macht. Die Leute an den Unis haben bisher wenig | |
Ideen, wie sie ihre WissenschaftlerInnen schützen können. | |
Wissen Sie denn jetzt mehr über die Attacken? | |
Die Struktur der Angriffe ist konkreter geworden. Manche passieren sehr | |
diskret, zum Beispiel in der Region Paris, Ile-de-France, wo den Gender | |
Studies das Geld entzogen wurde. | |
Was ist dort passiert? | |
Vor zwei Jahren wurde dort die Finanzierung aller Gender-Studies-Programme | |
gestoppt. Es gab ein sehr wichtiges Institut für Gender Studies, | |
Émilie-du-Châtelet. Das Institut gibt es zwar noch, aber es hat sein | |
gesamtes Geld verloren. Ähnliches passiert gerade in verschiedenen | |
französischen Regionen, in denen die Rechte an der Macht ist, und in | |
Ländern wie Ungarn oder Polen ebenso. | |
Es sind vor allem Rechte, von denen die Angriffe ausgehen? | |
Auch, aber nicht nur. Auch religiöse Gruppen spielen eine Rolle. Im | |
französischen Fall sind es vor allem Leute, die Teil der | |
Manif-pour-tous-Bewegung gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und für die | |
traditionelle Familie sind. In Italien ist es ähnlich, dort gibt es viele | |
Schnittstellen zu Rechten wie der Lega Nord in der Regierung oder noch | |
extremeren Gruppen. In Finnland sind es extreme Rechte und rechte | |
Populisten. Und sobald die Rechten an die Macht kommen, kommen die Attacken | |
nicht mehr aus der Zivilgesellschaft, sondern von der Regierung. Dann haben | |
diese Leute Zugang zum Bildungsministerium und können es umgestalten. Das | |
macht einen enormen Unterschied. | |
Ist es deren Ziel, die Gender Studies abzuschaffen? | |
Ja. Erstens geht es darum, Intellektuelle oder engagierte AkademikerInnen | |
mundtot zu machen. Und zweitens geht es darum sicherzustellen, dass dieser | |
Bereich der Forschung nicht weiter existiert. | |
Die AfD beispielsweise kommuniziert das ganz offen. | |
Bei den Europawahlen werden wir sehen, was passiert. Wenn solche Leute nach | |
Brüssel kommen, vor allem in die Europäische Kommission, werden sie großen | |
Einfluss auf die Forschungspolitik der EU haben. Die EU ist im | |
Wissenschaftsbereich einer der Hauptgeldgeber. Ich finde es übrigens nicht | |
überraschend, dass PopulistInnen Forschung attackieren. | |
Warum nicht? | |
Eine der rhetorischen Hauptfiguren, die die AngreiferInnen verwenden, ist | |
die der Eliten und Dekadenz. Die ausgemachten Eliten, auch die | |
akademischen, sind angeblich von realen Problemen und echten Menschen | |
abgekoppelt, sie leben in einer Blase. Zweitens wird behauptet: Wir wissen, | |
wie die Dinge laufen, wir wissen, wer und wie Frau und Mann sind. Wir | |
kennen die Natur, und es gibt keinen Grund, die Dinge komplizierter zu | |
machen, als sie sind. | |
Was wird noch ins Feld geführt? | |
Mancherorts heißt es, Gender Studies seien eine Bedrohung für Kinder, eine | |
Indoktrination. Ein Kollege in Kroatien wurde attackiert, weil er zu | |
Sexualaufklärung arbeitet. Er würde Pädophilie fördern, hieß es. In | |
Osteuropa kommt außerdem noch dazu, dass Genderforschung häufig aus dem | |
europäischen Ausland oder den USA kommt und sich angeblich nicht mit | |
Problemen vor Ort beschäftigt. Forschung ist nicht „national“ genug. Das | |
ist zum Beispiel in Ungarn der Fall. | |
Was ist dort passiert? | |
Viktor Orbán fährt seit Jahren Attacken gegen die Central European | |
University in Budapest – auch deshalb, weil das der Ort ist, an dem in | |
Ungarn hauptsächlich Gender Studies gelehrt werden. Orbán will die Uni | |
schließen, weil sie keine originär ungarische Uni ist, sondern ursprünglich | |
eine US-Universität mit Sitz in Ungarn. Die Angreifer nutzen dieses | |
„Fremdsein“ als Argument. | |
Haben Sie besprochen, was Sie tun können? | |
Ein Schritt wird sein, die Diskussion in andere Länder zu bringen, mehr | |
Leute einzubinden. Bisher gab es keinen Raum, in dem unsere Probleme | |
diskutiert werden können, jetzt öffnen wir einen. Außerdem ist parallel ein | |
Projekt gestartet, in das auch Judith Butler involviert ist. Die Idee ist, | |
ein internationales Netzwerk von GenderwissenschaftflerInnen zu knüpfen, | |
das sich gegenseitig über Attacken wie diese informiert und zusammen | |
reagieren kann. | |
Wie denn? | |
Zum Beispiel mit internationaler Solidarität. Wir müssen | |
WissenschaftlerInnen in Ländern unterstützen, in denen sie angegriffen | |
werden. Mehrere Unis haben schon Stipendienprogramme ins Leben gerufen, die | |
für diese gefährdeten KollegInnen da sind, auch meine Uni hier in Brüssel. | |
Eine Gastwissenschaftlerin ist momentan eine Genderforscherin aus der | |
Türkei. Wichtig ist zudem politisches Engagement. KollegInnen meiner Uni, | |
allerdings aus dem Bereich Politikwissenschaft, waren zum Beispiel bei | |
Verhandlungen gegen WissenschaftlerInnen in der Türkei, um Zeuge zu sein, | |
um vor Ort Unterstützung zu zeigen. | |
Das ändert nichts an der Gesamtsituation. | |
Nein, aber es führt dazu, dass Menschen in anderen Teilen der Welt etwas | |
davon mitbekommen, was zum Beispiel in der Türkei passiert. Auch die | |
Central European University in Budapest bekommt viel Unterstützung aus der | |
EU und anderen Ländern, was einer der Gründe ist, warum es die Uni dort im | |
Moment überhaupt noch gibt. Und auch der Workshop in Verona kann nun unter | |
erhöhten Sicherheitsvorkehrungen stattfinden, nachdem WissenschaftlerInnen | |
Unterstützung organisiert haben. Solidarität hilft vor Ort. | |
5 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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