# taz.de -- Ungarn verbietet Gender Studies: Aus Angst um den Mann | |
> Die ungarische Regierung verbietet die Gender Studies – angeblich, weil | |
> deren Absolventen nicht gebraucht würden. | |
Bild: Der Mann ist im ungarischen Parlament wahrlich eine marginalisierte Gruppe | |
BUDAPEST taz | Das hier ist seine Bühne. Es ist Ende Juli, Mitten in | |
Rumänien, und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán lässt sich | |
feiern. Er steht auf einem Podium der Freien Universität in Tusványos, 400 | |
Kilometer hinter der ungarischen Grenze. Tausende sind gekommen, die halbe | |
ungarische Elite ist aus Budapest angereist. Die Regierungspartei Fidesz | |
veranstaltet eine riesige politische Party für sich selbst. | |
Eine Stunde lang verkündet Orbán von hier oben seine Sicht auf die Welt. Er | |
zeichnet ein Bild von sich als globalem Akteur zwischen Trump und Putin. | |
Und am Ende kommt der Satz, der den Westen provozieren soll: „Wir könnten | |
bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im nächsten Mai nebst den | |
liberalen Demokraten auch die 68er Generation für immer verjagen.“ Orbán | |
lächelt wie ein Pubertierender nach einem gelungenen Streich. | |
Es dauert keine zwei Wochen, bis er Taten folgen lässt. Mitte August | |
beauftragt er zwei seiner Minister, das Studienfach Gender Studies an den | |
ungarischen Universitäten verbieten zu lassen. Warum, sagt er zunächst | |
nicht. | |
Die Nachricht platzt mitten in die Sommerferien: Viele Professoren befinden | |
sich im Urlaub, die meisten Studierenden sind entweder auf dem | |
Sziget-Musikfestival oder liegen am Plattensee am Strand. Trotzdem | |
verbreitet sich die Neuigkeit rasend schnell. | |
## Orbáns Feldzug | |
Zwei Universitäten in Ungarn bieten Geschlechterstudien an: Die | |
[1][Central-European University (CEU)] startete im Jahr 2006 als erste, es | |
wird auf Englisch unterrichtet, und am Ende bekommen die Studierenden ein | |
amerikanisches und ein ungarisches Diplom. 139 Studierende haben dort | |
bereits ihren Abschluss gemacht. Im schicken neuen Campus der Universität | |
kann man auch promovieren. | |
Kritik und Hetze ist man dort gewohnt: Gegründet wurde die Uni vom | |
[2][ungarnstämmigen Milliardär George Soros] und ist seit Jahrzehnten | |
Hassobjekt der ungarischen Rechten. Orbán versucht seit zwei Jahren, die | |
Uni [3][aus dem Budapester Regierungsviertel zu verjagen]. | |
Dennoch: Weil die CEU eine private Uni ist, wird sie Gender Studies wohl | |
trotz Verbot weiter lehren können. Allerdings wird sie das in der | |
Europäischen Union anerkannte ungarische Diplom nicht mehr vergeben können | |
und vom Erasmus-Programm ausgeschlossen werden. | |
Die [4][Eötvös Lóránd Tudományegyetem (ELTE)] trifft das Verbot härter. Es | |
ist die größte Universität des Landes, Orbán hat hier Jura studiert. Erst | |
vor zwei Jahren bekam sie die Akkreditierung für den ersten Studiengang | |
Gender Studies in ungarischer Sprache. | |
## „Keine Nachfrage“ | |
Zehn Studenten und Studentinnen haben vor einem Jahr ihr Studium | |
angefangen, dieses Jahr kommen zehn weitere hinzu. Aber danach wird wohl | |
Schluss sein. Das Kabinett darf die Akkreditierung des Faches entziehen und | |
die Gender Studies an dieser Uni verbieten. | |
Mittlerweile hat die Regierung ihre Entscheidung auch begründet. Der junge | |
Kanzleramtschef Gergely Gulyás sagte gerade mit dem Charme eines | |
Steuerbeamten, für Menschen mit einem solchen Abschluss gebe es keine | |
Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. | |
Viele Studierende halten das für eine Lüge. Die ersten Studenten der ELTE | |
bekommen ihr Diplom erst in einigen Jahren, Zahlen liegen also noch nicht | |
vor. Die Erfahrungen der privaten CEU zeigen aber: Die Nachfrage nach | |
Gender Studies in Ungarn ist groß. | |
Die Absolventen kamen aus aller Welt, viele von ihnen arbeiten mittlerweile | |
als Gleichstellungsbeauftrage in großen multinationalen Firmen oder sind | |
Wissenschaftler geworden. | |
## „Angriff auf akademische Unabhängigkeit“ | |
Für die ungarische Regierung sind diese Erfahrungen aber auch nicht | |
wirklich wichtig: Man müsse keine besondere Begründung hervorbringen, sagte | |
Kanzleramtschef Gergely Gulyás weiter. Es sei eine politische Entscheidung. | |
Die ungarische Regierungspartei sei überzeugt, Geschlechter seien | |
biologischer Natur und keine gesellschaftlichen Konstrukte, deswegen dürfe | |
man über sie nicht reden oder lehren. | |
Andrea Pető ist Professorin an der CEU und das bekannteste Gesicht der | |
ungarischen Geschlechterforschung. Die 54-Jährige versucht derzeit alles, | |
um dem Verbot zu trotzen. Der Angriff auf ihre Fakultät sei ein Versuch, | |
die akademischen Unabhängigkeit in ganz Europa zu vernichten, schreibt sie | |
auf taz-Nachfrage. | |
Gender Studies seien überall auf dem Kontinent ein Angriffsziel der | |
populistischen Parteien. Pető ist sich sicher: Dahinter steckt der Plan, | |
das Wissen im Land zu kontrollieren. | |
Für Petős Studentinnen hat die Kampagne von Orbán auch Auswirkungen im | |
Alltag. Sie sei schon bespuckt worden, als sie sagte, dass sie | |
Geschlechterforschung studiere, erzählt eine Frau, die aus Angst ihren | |
Namen nicht nennen möchte. Sie beginne bald, an der CEU zu promovieren, | |
traue sich aber derzeit nicht, mit ihren Kinder nach Budapest umzuziehen. | |
## Arme weiße Männer | |
Die meisten Ungarn, sagt die Frau, wüssten kaum etwas über | |
Geschlechterforschung. Die ungarische Regierung verbreite mit öffentlichen | |
Statements und Flugblättern bewusst Falschinformationen und bereite so den | |
Weg zu Frauenfeindlichkeit und Homophobie. | |
Das nimmt absurde Züge an. Das Schmutzportal www.888.hu, das von dem | |
ehemaligen Orbán-Berater Gábor G. Fodor geleitet wird, hat gerade ein neues | |
Ressort gestartet: „Der Weiße Mann“ beschäftigt sich mit der „kulturell… | |
Ausgrenzung und der bewussten Erniedrigung“ der weißen, heterosexuellen | |
Männer mit christlichem Glauben. So hat die Redaktion es verkündet. | |
Dabei sieht es in den mächtigen Positionen des Landes überhaupt nicht nach | |
Männer-Verdrängung aus. Eine einzige Frau sitzt in Orbáns neuem Kabinett. | |
In der vorherigen Legislaturperiode, 2014 bis 2018, gab es gar keine. Der | |
Anteil von Frauen im Parlament liegt bei unter 12 Prozent, in der | |
Regierungspartei, die immerhin zwei Drittel der Mandate stellt, liegt er | |
sogar nur bei 8 Prozent. | |
In der neuesten Studie zur Repräsentanz von Frauen in der Politik des | |
Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen liegt Ungarn damit auf dem | |
vorletzten Platz. Gefragt, warum es in Parlament und Regierung kaum Frauen | |
gebe, sagte Orbán einmal, die ungarische Politik sei von Charaktermorden | |
geprägt und Frauen könnten so eine Atmosphäre nicht verdauen. Übrigens | |
befasse er sich nicht mit „Frauensachen“. | |
## Unterdrückung erhalten | |
Deswegen glaubt die ungarische Frauenrechtlerin Rita Antoni, dass die | |
Regierung Angst hat, dass die Ungarn irgendwann anfangen, die Vorherrschaft | |
von Männern infrage zu stellen. Antoni ist eine der wenigen Frauen, die | |
sich traut, den Kampf gegen die ungarische Männerwelt aufzunehmen. | |
Die Gender Studies würden nun verboten, sagt sie, um den öffentlichen | |
Diskurs über Geschlechterrollen zu ersticken. Absurd sei: Die Wissenschaft | |
könnte helfen, die ersehnte demografische Wende in Ungarn zu erreichen. | |
Aber dieses Ziel opfere die Regierung, um die Unterdrückung der Frau | |
aufrechtzuerhalten. | |
Ungarn ist tatsächlich eines der kinderärmsten Länder Europas. Die | |
Regierung versucht schon länger, die Ungarn zu animieren, wieder mehr | |
Nachwuchs zu bekommen. Durch Frauenförderung tut sie sich damit allerdings | |
nicht hervor. Das Parlament weigert sich bislang, das [5][Übereinkommen des | |
Europarats zur Verhütung und zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und | |
häuslicher Gewalt] zu ratifizieren. | |
## Eine Stunde Feminismus | |
Immer wieder benutze sie solche Lügen, wie jetzt gegen Geschlechterstudien, | |
sagt Rita Antoni. Die Regierung behaupte zum Beispiel, es gebe den Plan von | |
liberalen Kräften, Kleinkinder in der Kita zu Homosexualität zu erziehen | |
und die traditionelle Familie zu zerstören. Diese Verschwörung gelte es | |
abzuwenden. Antoni fürchtet, dass die Orbán-Regierung als nächstes | |
versuchen könnte, Schwangerschaftsabbrüche zu erschweren. | |
Dass sich die ungarische Regierung mit ihrer Härte dennoch nicht endgültig | |
durchsetzen könnte, zeigt ein Aufruf von Csaba Tóth, der an der ELTE | |
Politikwissenschaften unterrichtet. Er schlug seinen Kollegen vor, vom | |
nächsten Semester an in jeder normalen Vorlesung eine Lehrstunde auch der | |
feministischen Perspektive zu widmen. | |
So würde darüber in allen Wissenschaftsbereichen geredet. Tóth schreibt, | |
dadurch könnte man viel mehr StudentInnen mit dem wichtigen Aspekt der | |
Gleichstellung bekanntmachen, als es den Ideologen der Regierung lieb sein | |
könne. | |
21 Aug 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.ceu.edu/ | |
[2] /Milliardaer-George-Soros/!5495835 | |
[3] /Soziologe-ueber-Hass-auf-Gender-Studies/!5515801 | |
[4] https://www.elte.hu/de | |
[5] https://rm.coe.int/1680462535 | |
## AUTOREN | |
Gergely Márton | |
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