| # taz.de -- Sexualaufklärung in der Schweiz: Kampf um die Klitoris | |
| > Eine christkonservative Stiftung bewirbt Aufklärungsmaterialien ohne | |
| > Klitoris. ExpertInnen kritisieren die Abwertung weiblicher Lust. | |
| Bild: Ganzheitliche Sexualaufklärung muss die Klitoris berücksichtigen. Sonst… | |
| Eine Grafik in einem Lehrmittel für Sexualaufklärung der [1][Stiftung | |
| Zukunft Schweiz] für Zehn- bis Dreizehnjärige zeigt einen Querschnitt der | |
| weiblichen Sexualorgane. Während die einzelnen Organe, die der | |
| Fortpflanzung dienen, beschriftet werden sollen, bleibt der Bereich | |
| zwischen Vagina und Schambein leer. Dort scheint nichts Relevantes zu sein. | |
| Hier gibt es nichts, was man wissen muss, suggeriert die Auswahl. | |
| Wie kommt es, dass Lehrmaterialien aus dem Jahr 2018, die von der Stiftung | |
| Zukunft Schweiz kürzlich zur Verwendung an Schweizer Schulen zur | |
| Sexualaufklärung beworben wurden, das Wort „Klitoris“ nicht einmal | |
| erwähnen? | |
| „Powergirls und starke Kerle“ lautet der Titel des gerade erschienenen | |
| Arbeitshefts. Es ist eine Ergänzung zu zwei Kinderbüchern, die schon 2017 | |
| im Fontis Verlag herausgegeben wurden. Mit Vokabeln aus dem rechten Diskurs | |
| wie „Kein Gender-Gaga“ bewirbt der Verlag die Bücher. | |
| Die Lehrmittel sind ein Projekt der gemeinnützigen Stiftung Zukunft | |
| Schweiz, die nach eigenen Angaben um die Zukunft der Schweiz besorgt ist. | |
| Die Gründung der Stiftung erfolgte 2006 als „Reaktion auf die zunehmende | |
| Islamisierung auch in unserem Land und in Europa“, heißt es auf der | |
| Website. | |
| ## Kritik von ExpertInnen | |
| Bildung in der Schweiz liegt in der Kompetenz der Kantone und | |
| Sexualaufklärung ist seit Jahren ein Teil dieses Bildungsauftrags. Der | |
| [2][Lehrplan 21], der mittlerweile von den meisten Kantonen eingeführt | |
| wurde, harmonisiert die unterschiedlichen Lehrpläne u.a. auch im Bereich | |
| der Sexualaufklärung. Darüber hinaus gibt es keine nationalen Richtlinien | |
| für die Sexualaufklärung. Je nach Kanton gibt es Lehrmittelvorgaben oder | |
| Lehrpersonen ist freigestellt, welche Lehrmaterialien sie verwenden wollen. | |
| Nach eigenen Angaben hat die Stiftung Zukunft Schweiz nun ihr | |
| Ergänzungsheft mit [3][4000 Briefen in der Deutsch-Schweiz] beworben und | |
| hat damit Kritik hervorgerufen. [4][Sexuelle Gesundheit Schweiz], | |
| Dachorganisation der Beratungsstellen für sexuelle Gesundheit in Beratung | |
| und Bildung, verfasste am 23. Oktober einen Brief an die Bildungsdirektorin | |
| des Kantons Zürich. | |
| Darin wird u.a. das bewusste Verschweigen der Klitoris und die | |
| ausschließlich negative Darstellung von Themen wie Selbstbefriedigung und | |
| Pornografie kritisiert. „Eine ganzheitliche Sexualaufklärung enthält den | |
| Lustaspekt, also Sexualität als etwas Schönes, als etwas Positives“, sagt | |
| Annelies Steiner, Sexualpädagogin bei Sexuelle Gesundheits Schweiz | |
| gegenüber der taz. „Was auch gar nicht thematisiert wird, ist sexuelle | |
| Vielfalt.“ Für Steiner erfüllt das Lehrmittel die [5][„Standards für die | |
| Sexualaufklärung in Europa“ der WHO Europa und der BZgA] nicht. | |
| Co-Autor von „Powergirls und starke Kerle“ ist der Sexualwissenschaftler | |
| Jakob Pastötter, Präsident der Deutschen Gesellschaft für | |
| Sozialwissenschaftliche Sexualforschung. Das klingt nach einer | |
| wissenschaftlich gut fundierten Grundlage. Auch das Design der | |
| Lehrmaterialien und die Texte auf der Website wirken auf den ersten Blick | |
| progressiv und zeitgemäß. Trotzdem sollte man sich die Argumentation der | |
| AutorInnen genauer anschauen. | |
| ## „Frühsexualisierung“ | |
| Die Stiftung Zukunft Schweiz [6][erklärt einen Anspruch ihres Kinderbuchs | |
| „Wir Powergirls“] folgendermaßen: „Bildliche Darstellungen, die wir für… | |
| Sexualaufklärung von Mädchen verwenden, dürfen nicht zu explizit sein. | |
| Dies, weil stark sexualisierte Bilder auf gesunde Mädchen in der Regel eine | |
| abschreckende Wirkung haben und Abwehr auslösen.“ Mit diesen Sätzen wird | |
| vor einem vermeintlichen Phänomen gewarnt, das [7][ExpertInnen argumentativ | |
| entkräften]: „Frühsexualisierung“. | |
| Hinter diesem Konzept stehen zwei falsche Annahmen. Erstens, dass Kinder zu | |
| einem bestimmten Zeitpunkt noch keine sexuellen Wesen wären. Und zweitens, | |
| dass Konkurrenzlehrmittel Kinder sexualisieren möchten. | |
| Die WHO Europa–Standards für Sexualaufklärung beruhen auf | |
| wissenschaftlichen Fakten und zeigen sehr detailliert, dass Menschen von | |
| Geburt an sexuelles Verhalten zeigen. Dieses variiert je nach Entwicklung | |
| und Individuum. So kommt es beispielsweise bei NUll- bis Vierjährigen zur | |
| Selbststimulation, einfach weil es Lust bereitet und schön ist. | |
| Eine weitere Frage ist, warum nur „gesunde Mädchen“ davon abgeschreckt | |
| werden sollten. Diese Annahme ist stark normierend und damit gefährlich, da | |
| sie alle Mädchen, die solche Bilder vielleicht lustvoll oder interessant | |
| finden, als „ungesund“ brandmarkt und damit pathologisiert. Darüber hinaus | |
| irritiert die Fokussierung auf Mädchen. Das Problem scheint bei Jungen | |
| nicht zu bestehen. | |
| Dahinter steckt ein naturalisierendes Konzept von Geschlechtern. Geschlecht | |
| ist ein komplexes Konstrukt und auch die WHO Europa-Standards führen das | |
| soziale Geschlecht an. Sexualität in diesem komplexen Sinne kann „in | |
| Abhängigkeit von einer Vielzahl von Einflussfaktoren stark variieren“. | |
| Forschungsprojekte, die sich das Verhalten von Kindern anschauen und dann | |
| Rückschlüsse auf deren „wahre Natur“ ziehen, begehen den klassischen | |
| „Sein-Sollen-Fehlschluss“ und verkennen den Einfluss der Gesellschaft. | |
| ## Lustfokussierung sei „männlich“ | |
| Daran schließt sich das zweite große Problem von „Powergirls und starke | |
| Kerle“ an. Das Nichterwähnen der Klitoris fügt sich in einen größeren | |
| ideologischen Rahmen des Hefts, der die Sexualität von Frauen auf | |
| Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung reduziert. | |
| Im Heft selbst wird argumentiert, dass die „gesellschaftlichen Umwälzungen | |
| der 60er-Jahre“ zu einer Fokussierung auf „Lust, die Sexualität bereiten | |
| kann“, geführt hätten. Das sei „eine einseitig-männliche Messlatte“. | |
| Mögliche resultierende Gefahren seien die „fehlende Achtung vor dem | |
| anderen“ und eine Überforderung der SchülerInnen. | |
| Die Grundannahmen sind auch hier fraglich und höchst problematisch: Allen | |
| Frauen werden gleiche Interessen am Thema Sexualität unterstellt. Den | |
| SchülerInnen wird ihr berechtigtes Interesse an und möglicherweise auch ihr | |
| Fokus auf Lust abgesprochen. Die Standards der WHO Europa zeigen eindeutig, | |
| dass Mädchen in diesem Alter masturbieren und daher offensichtlich sehr | |
| viel Interesse an sexueller Lust und damit auch an dem Lustorgan | |
| schlechthin – der Klitoris – haben. Eine entwicklungssensible und | |
| altersgerechte Aufklärung muss unbedingt über dieses Organ aufklären und | |
| auch betonen, dass die Klitoris vollkommen unabhängig von Fortpflanzung | |
| eine Berechtigung hat. Sie ist für viele Frauen ein relevanter, für manche | |
| vielleicht sogar der relevanteste Teil ihrer Sexualorgane. | |
| Außerdem wird auch an dieser Stelle ein einseitiges Frauenbild | |
| reproduziert. Die Frau als Mutter. Es muss jedem Menschen freigestellt | |
| sein, selbst zu entscheiden, ob er oder sie sich fortpflanzen möchte. Daher | |
| sollte die Sexualaufklärung vermitteln, dass es genauso normal ist, wenn | |
| sich Mädchen nicht für Schwangerschaft, Geburt, und Kindererziehung | |
| interessieren. Aber vielleicht für Sex und Selbstbefriedigung. | |
| 14 Nov 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.zukunft-ch.ch/ueber-uns/stiftung/ | |
| [2] https://www.lehrplan.ch/ | |
| [3] https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/Rakete-startklar-fuer-Buben-Wir… | |
| [4] https://www.sante-sexuelle.ch/ | |
| [5] https://publikationen.sexualaufklaerung.de/index.php?docid=2288 | |
| [6] https://www.zukunft-ch.ch/wir-powergirls-weil-maedchen-eine-sorgfaeltige-au… | |
| [7] http://www.schulnetz21.ch/sites/default/files/docs/de/themen/schulische_sex… | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Hummer | |
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