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# taz.de -- Radio Bremen will wieder cool werden: Neues aus alten Zeiten
> Radio Bremen hat preisgekrönte Formate produziert. Was in der
> Unterhaltungssparte gelingt, soll nun auch journalistisch zünden.
Bild: Ungewöhnliche Vorlieben: „Rabiat“ beschäftigt sich auch Fetischen
Wer jung, in der Szene unterwegs ist und vielleicht mal tanzen geht, der
wird vom Auftakt der neuen ARD-Dokuserie „Rabiat“ nicht viel Neues lernen.
Aufregend ist die Drogenreportage trotzdem – oder vielleicht gerade
deshalb. Reporterin Anne Thiele ist nah dran an Dealern, an Menschen die
Koks nehmen, MDMA oder Ketamin.
Selbstbewusst und weitgehend unkommentiert erzählen die, wie schön das
alles sein kann mit den Drogen. Und dann steht da Niklas Hennigs, Oberarzt
einer Bremer Klinik, und sagt: „Ich kenne niemanden, der vom einmaligen
Konsum von irgendwas abhängig geworden ist.“ Und das hört man im Fernsehen
nun wirklich nicht alle Tage.
Das neue Reportageformat ist gründlich, unaufgeregt und vor allem
persönlich. In der ersten Folge der Radio-Bremen-Produktion versucht Thiele
mit ehrlichem Interesse, die Drogenszene zu verstehen. Strukturiert geht
sie ran, zeigt sich zwischendurch genervt, weil ihr die Protagonist*innen
nach tagelangen Vorgesprächen wieder abspringen. Sie sitzt immer dabei,
trinkt Bier mit den Partygängern und lacht. Ganz anders ihr Kollege Manuel
Möglich in der Woche darauf: Sein Versuch, die Lust auf und hinter diversen
Sexfetischen zu verstehen, ist gehemmter. Typfragen und individuelle
Handschriften stehen bei „Rabiat“ im Mittelpunkt.
Diese jungen Reporter*innen, das Y-Kollektiv, sind nur eins der Teams, mit
denen die kleinste Sendeanstalt der ARD von sich reden macht: Noch ganz
frisch ist der Grimme-Preis für Maren Kroymanns selbstbewusste, weibliche,
altlinke, lesbische Sketch-Comedy. Vergangenes Jahr hat die Mysteryserie
„Wishlist“ abgeräumt, die nicht nur beeindruckend professionell ausschaut,
sondern auch authentisch mit dem Erfahrungsschatz Jugendlicher spielt, ohne
dabei peinlich zu sein.
Was in der Unterhaltung also schon klappt, soll nun auch journalistisch
zünden. „Radio Bremen hat eine lange Tradition bei innovativen und
gesellschaftlich relevanten Reportagen und Dokumentationen“, sagt
Programmdirektor Jan Weyrauch. Da wolle man jetzt anknüpfen. Gemeint sind
Formate wie „Unter deutschen Dächern“ oder „buten un binnen“. Und die …
zumindest früher tatsächlich mal ziemlich aufregend. Mit Moderatoren wie
Michael Geyer und Christian Berg, die schon ein bisschen nach Bombenleger
aussahen und mit wirklich unkonventionellem Journalismus mindestens die
Landespolitik in den Wahnsinn getrieben haben.
Da ging viel, was woanders undenkbar war – vielleicht auch, weil der
kleinste Sender immer ein bisschen unter dem Radar mitflog. Oder weil die
Bremer Enge die Kreativität besonders angeheizt hat? Mit seiner politischen
Berichterstattung war Radio Bremen früher jedenfalls ähnlich progressiv wie
mit seinem „Beat-Club“, Loriot, Hape Kerkeling – allesamt Marken, die auch
bundesweit viel größer waren als ihr kleiner Sender mit seinem
verschwindend geringen Anteil am ARD-Programm.
Dass man zum Start nun an die große Vergangenheit erinnert, ist nicht
verwunderlich. Aber „Rabiat“ ist schon auch noch etwas anderes. Es sind ja
gar keine jungen Wilden, die sich da austoben, sondern ernsthafte
Journalist*innen, die ein Stück gesellschaftlicher Normalität zurück ins
Fernsehen holen. Und das wird auch Zeit, denn ganz im Ernst: Wer guckt
heute schon noch Fernsehen, um da etwas wirklich Neues zu erfahren? Es
herrschen starre Strukturen in den Sendern, institutionalisierte Langeweile
– vor allem aber eine übermächtige doppelte Konkurrenz: So schnieke wie
Netflix kann man nicht, so nah am Menschen wie echte YouTuber aber auch
nicht.
## Die eigene Lebensrealität abzugleichen
Wer heute überhaupt noch fernsieht, der tut das, um die eigene
Lebensrealität hin und wieder mit der allgemeingültigen abzugleichen. Sonst
nichts. Vielleicht ist die persönliche Form von „Rabiat“ tatsächlich ein
Gegengift. Weil es nun Anne, Manuel, Steffen und Gülseren sind, die da in
den ersten Folgen aus dem Leben erzählen. Und mit denen kann man sich
auseinandersetzen – anders als mit einem öffentlich-rechtlichen Anonymus.
Dass Radio Bremen mit dem Y-Kollektiv junge Internet-Profis ranlässt, ist
eine gute Idee. Gerade wurden diese auch in der Kategorie Information für
den Grimme Online Award nominiert.
Es ist eine Weile her, dass Radio Bremen solche modernen und neugierigen
Formate an den Start brachte. Tatsächlich bedeuteten gerade die Jahre unter
Intendant Heinz Glässgen (1999-2009) den reinsten Überlebenskampf.
Natürlich auch wegen des Geldes: Das ist bei der Bremischen
Landesrundfunkanstalt noch knapper als ohnehin schon. Weil Bremen so klein
ist und weil die potenziellen Beitragszahler*innen dazu noch so arm sind,
dass sie reihenweise vom Rundfunkbeitrag befreit werden. Weil unterm Strich
nicht viel bleibt, gibt es den Finanzausgleich innerhalb der ARD, von dem
neben Bremen noch das Saarland profitiert.
Dass sich Intendant Jan Metzger vergangene Woche aus Sorge um das Programm
gegen die aktuellen Sparpläne der Rundfunkkommission aussprach, ist
automatisierte Abwehr. Bremen hat da Erfahrung: Als die Ministerpräsidenten
im November 1999 den Finanzausgleich halbierten, bedeutete das für Radio
Bremen jährliche Mindereinnahmen von rund einem Drittel des Etats. Personal
wurde abgebaut oder ausgelagert, Radio Bremen 2 mit seinen bedeutenden
Musikformaten eingespart, der Sendesaal verkauft, die Hörspielstudios
geschlossen.
Gereicht hat das alles nicht. Erst als der Bremische Landesrechnungshof
schließlich die drohende Pleite diagnostiziert, lenken die
Ministerpräsidenten ein. Das Programm unter Intendant Metzger, der den
Laden inmitten der Krise übernommen hat und als inhaltlicher Modernisierer
antrat, war gut – und offenbar wert, gerettet zu werden. Seit dem
vergangenen Jahr ist der Finanzausgleich zwar immer noch deutlich unter dem
alten Niveau, aber immerhin von einem auf 1,6 Prozent der einkassierten
Gebühren erhöht worden. Das sind rund 100 Millionen Euro für Bremen und das
Saarland – die offensichtlich die nötige Luft zum Atmen bedeuteten, um
spektakulär neue Formate zu realisieren.
30 Apr 2018
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
Radio Bremen
ARD
Reportage
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Schwerpunkt Rassismus
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