| # taz.de -- Debatte Autoritärer Nationalismus: Führertypen in der Trutzburg | |
| > Orbán, Erdoğan & Co: Der globale Erfolg des autoritären Nationalismus ist | |
| > vor allem eine Reaktion auf einen aggressiven Kapitalismus. | |
| Bild: Die Ansage der autoritären Nationalisten ist nicht, die kapitalistische … | |
| Seit geraumer Zeit raufen sich Gelehrte die Haare, um eine Erklärung für | |
| den vermeintlich weltweiten Siegeszug autoritärer Herrschaften zu finden. | |
| Sie beschränken sich dabei häufig auf den Rechtspopulismus als Erklärung. | |
| Damit können sie die Vielfalt und die Zeitgleichheit rigoros bevormundender | |
| Systeme jedoch kaum begreiflich machen. Putins Russland, Xis China, Trumps | |
| USA, Orbáns Ungarn, Modris Indien und Erdoğans Türkei – um nur einige zu | |
| nennen – sind mit dem Deutungsmuster „globalisierter Rechtspopulismus“ | |
| jedenfalls nicht hinreichend zu verstehen. | |
| Eine umfassendere Interpretation beschäftigt sich mit dem Zusammenhang | |
| zwischen radikalökonomischer Globalisierung und autoritärem Nationalismus. | |
| Demnach schafft die spezifische Form, in der sich in den einzelnen Staaten | |
| die Globalisierung vollzogen hat, einen idealen Nährboden für den Erfolg | |
| „charismatischer“ Führertypen. Diese inszenieren eine Wehrhaftigkeit | |
| gegenüber „anstürmenden Gefahren“ und stimmen mit ihren Anhängern darin | |
| überein, dass nur ein starker Mann die Trutzburg schützen kann. | |
| Um eine solche Entwicklung besser verstehen zu können, muss man die (nach | |
| wie vor dominante) Idee der nationalen Souveränität näher betrachten: Der | |
| Nationalstaat lebt von der Vorstellung, politische Angelegenheiten – auch | |
| im wirtschaftlichen Bereich – selbstbestimmt zu gestalten. Seit Langem | |
| wird diese Idee jedoch ausgehöhlt. Klimawandel und Migration sind keine | |
| rein nationalstaatlich lösbaren Angelegenheiten, und technische | |
| Globalisierung schert sich nicht um nationale Souveränität. Smartphones | |
| plus Social Media haben noch alle nationalen Grenzen überschritten, und die | |
| autonom fahrenden Autos werden folgen. Genauso wird die Digitalisierung | |
| zügig alle Volkswirtschaften durchdringen, ganz egal, ob in Chile oder in | |
| Südafrika, in Portugal oder in Vietnam. | |
| Der Nationalstaat mit seinem Souveränitätsanspruch bemüht sich zwar darum, | |
| auch hierfür Regeln zu generieren, doch häufig sind diese von bescheidener | |
| Wirkung und können die von dem Ökonomen Joseph Schumpeter treffend als | |
| Grundprinzip des Kapitalismus beschriebene „schöpferische Zerstörung“ nic… | |
| aufhalten. Betroffene Menschen fühlen sich, bei allen auch positiven | |
| Änderungen, der kalten Zugluft dieser ökonomischen Globalisierung oft | |
| schutzlos ausgeliefert. Die extreme Beschleunigung der technologischen | |
| Entwicklung, etwa im Bereich der künstlichen Intelligenz und der | |
| Digitalisierung, versetzt viele in Schrecken und führt zu Verlustängsten | |
| und einer existenziellen Verunsicherung. Wo werde ich morgen stehen, wo | |
| meine Kinder, wo die Gesellschaft? Die Unplanbarkeit der Zukunft hat sich | |
| in ihren Augen ins Extreme gesteigert und wird als ungebremste Fahrt in | |
| einen dunklen Tunnel wahrgenommen. | |
| ## Arbeitsplatz- und Standortabbau | |
| Doch nicht nur die Geschwindigkeit der Veränderung verängstigt die | |
| Menschen, sondern auch die aggressive Form wirtschaftlicher Globalisierung. | |
| Globale Konzerne bekämpfen sich zusehends bis aufs Messer, um einem | |
| Konkurrenten Paroli zu bieten. Sie scheuen nicht davor zurück, die | |
| Produktion dorthin zu verlagern, wo sie die kostengünstigsten Strukturen | |
| vorfinden, und ziehen wie moderne Nomaden heute von Bangladesch nach | |
| Äthiopien und morgen nach Kuba. Die Globalisierung hat seit den 1980er | |
| Jahren ein alles beherrschendes und vielfach beschriebenes „Hemd“ an: das | |
| des ungezügelten Kapitalismus. Diese kapitalistische Landnahme hat | |
| unterschiedliche Formen, im Westen etwa ist es der Neoliberalismus, in | |
| China hat sich die paradoxe Form des kommunistischen, besser gesagt: des | |
| von einer Partei gelenkten Staatskapitalismus durchgesetzt. Gerade durch | |
| diesen Wettstreit verschiedener kapitalistischer Varianten ist die Welt | |
| jedoch zu einem Ort geworden, in dem immer rücksichtsloser um Marktanteile | |
| gerungen wird. | |
| Eine große Anzahl von Menschen erlebt diese Auseinandersetzungen in den | |
| wirtschaftlichen Kampfzonen am eigenen Leib. Wenn ein internationaler | |
| Konzern Arbeitsplätze an einem Standort abbaut, um an anderer Stelle zu für | |
| ihn günstigeren Konditionen neue Produktionsstätten hochzuziehen, ist die | |
| viel beschworene „soziale Verantwortung“ oft nur Teil von Sonntagsreden. | |
| Und man unterschätze nicht, welche disziplinierende Wirkung die Schließung | |
| eines größeren Werks auf Hunderttausende von Arbeitnehmern hat – nicht nur | |
| auf die Blue Collar, sondern auch auf die White Collar worker, also auf den | |
| Großteil der Mittelschichten. Denn diese wissen damit: Der Nächste kann ich | |
| sein. Das Beispiel Siemens in Görlitz findet sich sozusagen in allen | |
| Ländern. | |
| Der jeweilige Nationalstaat ist diesem „globalen Spiel“ nahezu machtlos | |
| ausgeliefert. Es ist für jedermann erkennbar, welchen „allgemeinen Verlust | |
| der ökonomischen Souveränität“ Nationalstaaten zu erdulden haben, so der | |
| indische Ethnologe und Globalisierungsforscher Arjun Appadurai. Die | |
| Übernahme eines 10-prozentigen Anteils an Daimler durch einen chinesischen | |
| Milliardär illustriert diese Entwicklung als Pars pro Toto. | |
| ## Der alte Chauvinismus | |
| Und genau in diesen Zeiten, in denen eine weltumspannende, als kriegerisch | |
| zu betrachtende Rivalität ausgetragen wird und alle Gesellschaften deswegen | |
| unter Druck stehen – nicht zuletzt deshalb, weil sich Ungleichheiten | |
| erheblich verschärfen –, in diesen Zeiten treten zunehmend „Anführer“ a… | |
| die politische Bühne. Sie behaupten, dass auch ökonomische nationale | |
| Souveränität wieder gestärkt werden kann. Ihre Ansage ist nicht, die | |
| kapitalistische Globalisierung zu stoppen, ihre Beteuerung ist vielmehr, | |
| die daraus resultierende Dynamik auf nationaler Ebene steuern und | |
| Globalisierungsgewinne nicht mehr teilen zu wollen. Das Wasser der | |
| Globalisierung soll sozusagen über die Mühlen des Protektionismus ins | |
| eigene Gefolgschaftslager fließen. Trump liefert dafür gerade die besten | |
| Beispiele. | |
| Was dabei in modernen Gewändern daherkommt, ist jedoch der alte | |
| nationalistische Chauvinismus. Angeführt in aller Regel von einer | |
| narzisstischen Persönlichkeit, deutbar als Verkörperung einer In-Group, | |
| wird eine autoritäre Politik verfolgt, bei der „Demokratie“ zum | |
| Lippenbekenntnis verkommt und instrumentalisiert wird. Das Versprechen | |
| lautet, dass von nun an die Privilegien und der (relative) Wohlstand der | |
| sich als etabliert Wahrnehmenden – der „Ureinwohner“, der „wirklichen | |
| Gläubigen“ oder des „wahren Volks“ – wiedergewonnen beziehungsweise | |
| geschützt werden. Der französische Publizist Alexis de Tocqueville würde | |
| hier von der klassischen Tyrannei der Mehrheit sprechen. | |
| Doch darf man sich diese Gefolgschaft nicht als passives Objekt, geblendet | |
| und verführt von einem Rattenfänger, vorstellen. Was wir in aller Regel | |
| sehen, ist eine Übereinstimmung zwischen Angeführten und Anführer. Er ist | |
| es, der die als berechtigt wahrgenommene Bevorzugung der Anhänger | |
| aufrechterhält oder wiederherstellt. Getreu der Devise „Halte mir die Welt | |
| vom Leibe!“ haben sie kein Problem mit einer radikalökonomischen | |
| Globalisierung, solange sie ihnen von Nutzen ist und negative Konsequenzen | |
| in andere Länder ausgelagert werden. Leidtragende eines | |
| „Raubtierkapitalismus“ sind also simultan durchaus oft auch | |
| Leidverursachende, die ihre Sonderrechte konservieren wollen. Die Zuweisung | |
| von Opfer- und Täterrollen entbehrt daher häufig der Eindeutigkeit. | |
| Ein weiteres Versprechen ist die „Rückgabe des gerechtfertigten Stolzes“ | |
| und die Betonung der Großartigkeit der jeweiligen Nation. Niemand solle es | |
| mehr wagen, einen Russen, Chinesen, Türken, Polen etc. auch nur scheel | |
| anzuschauen. So atavistisch und archaisch dieses aggressive Stammesdenken – | |
| inklusive ausgeprägten Führerkults – erscheinen mag, so modern und | |
| wirkmächtig ist diese Strategie nach wie vor. | |
| ## Äußere und innere Feinde | |
| Des Weiteren werden zwei Arten von Feinden bestimmt: Zu inneren Feinden | |
| werden in aller Regel die erklärt, die sich nicht einfügen in die | |
| Gleichschaltungspolitiken, wie wir sie in all diesen nationalistischen | |
| Harte-Hand-Regimen gegenwärtig beobachten können. Dazu genügt es bereits, | |
| die Politik des „Gebieters“ zu kritisieren. Entsprechend ausgebaut sind | |
| dort die oft sehr modernen Überwachungs- und Kontrollsysteme. Das gilt in | |
| unterschiedlichen Graden für China und Russland ebenso wie für Ungarn oder | |
| die Türkei, durchaus aber auch für die USA. Ein äußerer Feind ist den | |
| majestätisch Auftretenden immer hilfreich, weil er die Binnengruppe der | |
| Gefolgsleute zusammenschweißt. Das können die „vergewaltigenden Mexikaner“ | |
| genauso sein wie Kurden in Syrien. Eine Kriegsdrohung oder die tatsächliche | |
| Anwendung militärischer Gewalt ist eine probate Möglichkeit der neuen | |
| rigiden Machtherrscher, zu beweisen, dass sie nationale Souveränität | |
| aufrechterhalten können. Dass damit die Kriegsgefahr, global gesprochen, | |
| deutlich ansteigt, wird hierbei billigend in Kauf genommen. | |
| Als Fazit lässt sich feststellen, dass die beschriebenen Muster auch bei | |
| vielen Analysen des Rechtspopulismus auffindbar sind, dass sie aber in | |
| einen breiteren Erzählrahmen integriert gehören: den eines | |
| nationalistischen Hardlinertums in kapitalistischen Gewändern. Der nun auf | |
| Lebenszeit zum Autokraten gemachte Xi Jinping etwa lässt sich kaum als | |
| Rechtspopulist deuten, als ein autoritärer kapitalistischer Nationalist | |
| jedoch allemal. | |
| Die Prognose des US-amerikanischen Politologen Francis Fukuyama von 1989, | |
| liberale Demokratien und kapitalistisch organisierten Wirtschaftssysteme | |
| hätten sich als Paar dauerhaft durchgesetzt, hat sich als falsch erwiesen. | |
| Doch auch die Symbiose zwischen autoritärem Nationalismus und verschiedenen | |
| Spielarten des Kapitalismus wird nicht das Ende der Geschichte sein. Eine | |
| solche Regression lässt sich jedoch nur verhindern, wenn wir, die Anhänger | |
| liberaler Demokratien und offener Gesellschaften, diese mit aller Vehemenz | |
| verteidigen. | |
| 8 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Däuble | |
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