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# taz.de -- Politisches Buch über Eliten im NS: Der Sound der Diktatur
> Opportunismus, Exzentrik und ein paar kleine Dissonanzen: Helmut Lethen
> hat das Versagen der Elite im Dritten Reich untersucht.
Bild: Wilhelm Furtwängler, 1948
Es ist die vielleicht eigenartigste Konstellation im Literaturbetrieb.
Helmut Lethen, in den 1960ern sozialisiert, Ex-Maoist, emeritierter
Literaturprofessor, erfolgreicher Autor, der 2014 den Preis der Leipziger
Buchmesse erhielt, verheiratet mit einer ehemaligen Studentin, mit der er
drei Kinder hat, sieht sich mit dem kruden Gedankengut der Identitären
Bewegung konfrontiert, bei dem er sich nicht auf historische Quellen
stützen kann, die sich mit wissenschaftlicher Distanz analysieren lassen.
Seine Frau ist eine Aktivistin der Rechten und hat ein Buch im Verlag von
Götz Kubitschek veröffentlicht, das sie auf der Leipziger Buchmesse
vorstellen wird.
Helmut Lethen geht in seinem neuen Buch „Die Staatsräte“ über die Elite im
Dritten Reich nicht darauf ein, denn seine Untersuchung rechter
Denkstrukturen unter der Nazi-Herrschaft am Beispiel von vier
Protagonisten, die auch heute noch jedem ein Begriff sind: Gründgens,
Furtwängler, Sauerbruch und Carl Schmitt (seine „Helden“ in den 1950ern,
wie er sagt), ist rein historisch.
Sie ist eine detailreiche Abhandlung über die Illusion der konservativen
deutschen Elite, unter den Nazis eine eigenständige Rolle spielen zu
können. Göring hatte diesen Bedeutung simulierenden Titel „Preußischer
Staatsrat“ ins Leben gerufen, um die Mitglieder glauben zu lassen, der
Führer wäre an ihrer Meinung interessiert.
Im psychischen Korsett der Deutschen begann sich unter den Nazis etwas
durchzusetzen, das Hannah Arendt einmal so beschrieb: „Es gab im Dritten
Reich nur wenige Menschen, die die späteren Verbrechen des Regimes aus
vollem Herzen bejahten, dafür aber eine große Zahl, die absolut bereit
waren, sie dennoch auszuführen.“ Das galt auch für die Elite des Reichs.
Allerdings waren die vier von Lethen ausgewählten Staatsräte nicht typisch
dafür.
## Senfgasversuche an KZ-Häftlingen
Der Staatsrechtler Carl Schmitt war Antisemit und von Anfang an Anhänger
der neuen Machthaber. Er denunzierte seine jüdischen Kollegen, denen er
seine Karriere verdankte. Aus seiner Hoffnung, der „Souffleur“ Hitlers zu
werden, wird nichts. Gustaf Gründgens, von 1937 bis 1945 „Generalintendant
der Preußischen Staatstheater“, steht unter dem Schutz Görings. Er genießt
eine gewisse Narrenfreiheit, die es ihm sogar erlaubt, auch mal einen
Verfolgten zu retten.
Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch ist Direktor der Charité und gibt sich
unpolitisch. Als „Generalarzt des Heeres“ findet er nichts Verwerfliches
daran, Senfgasversuche an KZ-Häftlingen vornehmen zu lassen, protestiert
aber auch gegen das Euthanasieprogramm und stellt sein Haus am Wannsee
Regimekritikern aus der „Mittwochsgesellschaft“ zur Verfügung.
Wilhelm Furtwängler, Dirigent und Komponist und ab 1934 Direktor der
Berliner Staatsoper, ist zwar gegen die Entlassung jüdischer Musiker, sucht
aber gleichzeitig die Nähe zur Macht und dirigiert zu Ehren Hitlers an
dessen Geburtstag. Er verlernt, wie Lethen schreibt, „zuweilen den
aufrechten Gang“, der allerdings in dieser Position sowieso nicht
durchzuhalten gewesen ist.
## Keine wirkliche Opposition
Allen gemein ist ihr Opportunismus, den sie durch eine gewisse Exzentrik,
die ihnen ihre gesellschaftliche Stellung erlaubt und die Nazis durchgehen
lassen, kaschieren zu können glauben. In Wirklichkeit aber bereichern sie
nur „mit kleinen Dissonanzen den Sound der Diktatur“, denn mit diesen
Dissonanzen konnte die Diktatur gut leben, so lange man seinen Job gut
machte, wie zum Beispiel der Mitbegründer der Süddeutschen Zeitung, Franz
Josef Schöningh, der zwar aus seiner Verachtung gegenüber den Nazis keinen
Hehl machte, aber dennoch „überdurchschnittliches Format“ (Himmler) bewies,
als er in Galizien die „Judenumsiedlung“ organisierte. Hier wird deutlich,
welche psychischen Leistungen nötig waren, um die Verbrechen, die man im
Auftrag der Nazis beging, von der persönlichen Verantwortung zu trennen.
Lethen zeigt auf sehr sachkundige und präzise Weise, dass es im NS-Staat
keine wirkliche Opposition geben konnte. Solange die Elite für den NS
nützlich war, konnte sie auch ein bisschen Kritik üben. Die allerdings half
ungemein in der Nachkriegszeit, als „sie von der Behauptung ihrer Unschuld“
zehrte.
Sobald Lethen jedoch die vier Staatsräte in fiktiven Gesprächen
zusammenführt, beginnt man sich zu fragen, was sich Lethen von diesem
Mittel der künstlichen Nähe verspricht? Will er die Figuren plastischer
oder glaubhafter hervortreten lassen? Aber ist die Naziprominenz
biografisch nicht sowieso ziemlich gut durchleuchtet? Worin aber besteht
dann der Sinn dieser Gespräche?
15 Mar 2018
## AUTOREN
Klaus Bittermann
## TAGS
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