# taz.de -- Sachbuch über Reemtsma-Entführung: „DP steht für Displaced Per… | |
> Was für ein Buch! Johann Scheerer über die Tage der spektaktulären | |
> Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma. | |
Bild: Johann Scheerer | |
Er atmet ein und richtet sich auf. Er weint nicht, er lacht nicht. In einer | |
Situation, die ohnehin hoffnungslos wirkt, verbietet er sich die | |
Verzweiflung. Das scheint ihm irgendwie logisch: Keine Hoffung, keine | |
Verzweiflung. Aber wo es darum geht, den Schmerz zu mindern, ist Logik | |
wahrscheinlich der falsche Weg. Erst recht in seinem Alter. | |
Johann Scheerer ist 13 Jahre alt, als 1996 sein Vater Jan Philipp Reemtsma, | |
Philologe, Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Initiator | |
der so wichtigen Wehrmachtsausstellung, Millionenerbe und Mäzen, vor seinem | |
Haus in Hamburg entführt und mehr als einen Monat in einem Keller gefangen | |
gehalten wird. Es ist einer der spektakulärsten Entführungsfälle der | |
Bundesrepublik. | |
Nun, 22 Jahre später und im Alter von 35 Jahren, hat Johann Scheerer ein | |
Buch über die 33 Tage der Entführung vorgelegt, in dem er den Leser | |
mitnimmt in den familiären und individuellen Ausnahmezustand von damals. | |
Und anders, als der Titel „Wir sind dann wohl die Angehörigen. Die | |
Geschichte einer Entführung“ vermuten lässt, ist sein Buch überragend. | |
Es ist der 25. März 1996, als seine Mutter Ann-Kathrin Scheerer, eine | |
Psychoanalytikerin, die Vorhänge zurückzieht, an sein Bett tritt und sagt: | |
„Wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen. Jan Philipp ist | |
entführt worden.“ Der 13-jährige Johann denkt sofort an die Lateinarbeit, | |
die er nun zum Glück nicht schreiben muss. Die Lateinarbeit, verdammt, was | |
ist schon eine Lateinarbeit im Verhältnis zu einem ganzen Leben, dem seines | |
Vaters, dem eigenen, dem Familienleben? Das schlechte Gewissen, es ist | |
sofort da. Es bleibt für Jahre. | |
## Krisenstab, provisorische Betten | |
Rauschen und Taubheit, Johann merkt bereits nach wenigen Stunden, dass er | |
ein anderer und das gemeinsame „Leben nun zu einem Tatort geworden“ ist. | |
Polizisten, Angehörigenbetreuer, Anwälte, Verwandte und Freunde der Familie | |
beziehen ihr Lager im Haus der Familie. Krisenstab, provisorische Betten, | |
Waffen und viel Technik, die Außenwelt, sie existiert nicht mehr. Zwei | |
Versuche, wieder in die Schule zu gehen, scheitern wie auch zwei Versuche | |
der Lösegeldübergabe, seltene Einkäufe erinnern an einen vergangenen | |
Alltag, und Johann bekommt die erste Gibson, sie ist in rosa Fell gebettet. | |
Die Weltverkleinerung nimmt er auch als Freiraum wahr. Immerhin ist die | |
Hölle ein Raum ohne Alltag. Er zieht sich mit Chips vor den Fernseher | |
zurück, die neue Gitarre liegt unbenutzt herum, aber in ihr konzentriert | |
sich alle Restschönheit. Dann, manchmal, doch die Sehnsucht nach Alltag, | |
„spiel doch mal was“, die Worte des Vaters kommen ihm immer wieder in den | |
Kopf. Wie verständlich und eigentlich unsinnig diese Aufforderung doch ist. | |
Die Berechenbarkeit des Vaters, „das stabile Dach“: Gemeinsam am Abend vor | |
dem Fernseher sitzen, im Glas Inseln aus Zitronensaft auf Traubenzucker, | |
danach im Badezimmer zwischen Haarwasser und Franzbranntwein nebeneinander | |
stehen. | |
Ein stabiler Rahmen. Ohne körperliche Nähe: „Er streichelte mir ab und zu | |
über den Kopf.“ In Deutschland umarmt man sich noch nicht so lange, erst | |
recht nicht im Bürgertum. „Penetrant schlau“ kommt ihm der Vater vor, hat | |
das Gefühl, gegen die Übermacht der Bücher um die Aufmerksamkeit des Vaters | |
konkurrieren zu müssen. „Er war nicht der Geduldigste, ich nicht der | |
Begabteste und diese Kombination nicht die beste.“ Eine der schönsten | |
Szenen im Buch ist die Beschreibung einer gemeinsamen Fahrt zum | |
Kindergarten, Reemtsma erklärt dem Sohn das „DP“ im Nummernschild des | |
Familien-Volvo: „DP, lieber Sohn, merk dir das, steht für Displaced | |
Person.“ | |
## Nähe, Distanz, Körper und Psyche | |
Vorhersehbarkeit gibt Sicherheit. Vielleicht ersetzt der 13-Jährige deshalb | |
die fehlenden Alltagsrituale durch die Vorstellung des sicheren Todes. Der | |
Tod des Vaters scheint ihm gewiss, das Bild dazu nimmt der Junge aus Tom | |
Sawyer; wie Indiana Joe wird der Vater vermutlich in einer dunklen Höhle | |
verenden. Noch erreichen seine Briefe Mutter und Sohn: „Ich umarme Euch | |
beide und küsse Dich, Kathrin“. Die Nähe, die sie herstellen sollen, macht | |
Johann Angst. | |
Nähe, Distanz, Körper und Psyche, zwischen ihnen herrscht ein Dualismus, | |
hier wie auch in Jan Philipp Reemtsmas Buch „Im Keller“, dem unglaublich | |
präzisen, klugen, verstörenden Buch, das er nur neun Monate nach der | |
Entführung veröffentlicht hat. Reemtsma schreibt über sich in der dritten | |
Person: „Was seinen Körper anging, so war der nicht mehr als ein Instrument | |
… sein Körper revanchierte sich, indem er nicht weiter in Erscheinung | |
trat“. Noch Wochen später, so schildert er im Buch, brauchte er immer | |
wieder den physischen Abgleich mit der Welt, einfach eine Berührung, gegen | |
das Gefühl wahnsinnig zu werden. | |
Johann Scheerer macht in seinem Eingeschlossensein eine ganz andere | |
Erfahrung. Während auch hier auf andere Art die Außenwelt nicht mehr | |
existiert, verändert sich sein Körper durch die Pubertät. „Mein Gesicht war | |
blass und schmal geworden. Mein Bauch unförmig. Länger und irgendwie | |
anders, als ich ihn in Erinnerung hatte, und dennoch irgendwie weich … | |
Meine Stimme veränderte sich … War das der Stimmbruch? Suchte mein Körper | |
die Flucht nach vorn? Dennoch überwog das Gefühl, ich sei einfach nur taub | |
und gelähmt.“ | |
Auch das, ein wahres Drama – wie dieser Junge im Spiegel bemerkt, dass sein | |
Körper sich verändert und mit nichts korrespondiert auf der Insel, auf der | |
er nur noch eine sichere Routine sucht, die wiederum in dem Moment | |
zusammenzubrechen droht, als der Erste aus der Schicksalsgemeinschaft | |
ausbricht: Anwalt Schwenn kommt nach einer gescheiterten Geldübergabe nicht | |
zurück ins Haus. | |
## Das Trauma kennt keine Entwicklung | |
Während Jan Philipp Reemtsma in seinem Buch fast ausschließlich über sich | |
in der dritten Person spricht, als wolle er das Trauma selbst, das den | |
Traumatisierten im Erzählen doch immer nur zur Reinszenierung verdammt, | |
überlisten, erzählt Johann Scheerer radikal persönlich. Kein Selbstmitleid, | |
keine langweilige Introspektion, keine lästige Kommentierung, er erzählt | |
schnell und präzise, nüchtern, aber äußerst sensibel. Er erinnert alles, | |
was kaum wundert, kennt das Trauma doch kein Außen; es ist pure Immanenz | |
und diese traurige Tatsache zeigt das Buch sehr gut. Das Trauma kennt keine | |
Entwicklung und keine Verbindung zum Davor und Danach. Es ist eine Insel. | |
Und so kommen diese beiden wunderbaren, zutiefst berührenden Bücher | |
letztlich zu dem selben Schluss. „Alles ist, wie es war, nur paßt es mit | |
mir nicht mehr zusammen“, heißt es bei Reemtsma. Und bei Scheerer: „… au… | |
22 Jahre danach, fremd in der Welt, die man kennt. Kriegsveteranen, die | |
aufgehört haben zu sprechen, weil das Erlebte unaussprechlich scheint.“ | |
17 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
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