# taz.de -- Musikproduzent und Reemtsma-Erbe: „Was bedeutet ‚cool‘?“ | |
> Johann Scheerer betreibt das Hamburger Tonstudio Clouds Hill Recording | |
> und hat als Mitglied der Familie Reemtsma ein Buch über die Entführung | |
> seines Vaters geschrieben. | |
Bild: Mag alte Geräte: Johann Scheerer in seinem Studio | |
taz: Herr Scheerer, wann wussten Sie, dass Sie ein eigenes Tonstudio führen | |
wollen? | |
Johann Scheerer: Ich habe mich das selber schon manchmal gefragt und konnte | |
nie so richtig eine Antwort finden. Es fühlt sich so an, als wäre das immer | |
schon dagewesen. Ich habe ja als Musiker angefangen und hatte immer schon | |
so eine Faszination für Tonstudios gehabt, auch schon mit 17 Jahren. | |
Irgendwie kam so eines zum anderen. Ich erinnere mich nur noch an den | |
Moment, als ein Freund von mir in Hamburg so einen Containerplatz gepachtet | |
hatte. Da habe ich mein erstes Studio eingerichtet. | |
Schon als Teenager hatten Sie einen Plattenvertrag als Gitarrist der Band | |
Score! … | |
Diese Band war ein Zufall. Wir waren vier Freunde, die Musik gemacht haben. | |
Nichts Besonderes. Zuerst sind wir beim SPD-Band-Battle Zweiter geworden | |
und haben in der Fabrik gespielt. Danach haben wir eine CD gemacht und die | |
bei einem Talentwettbewerb eingeschickt. So sind die Produzenten von The | |
Moffats und Caught in the Act auf uns aufmerksam geworden. Hanson haben die | |
auch gemacht. Die haben gesagt: Kommt nach New York und macht ein Album. | |
Was für eine Erfahrung war das? | |
Das war natürlich eine wahnsinnig prägende Erfahrung. Es fühlt sich aber | |
an, als ob das völlig abgekoppelt von meinem Leben passiert ist. Völlig | |
surreal. Das war der letzte Atemzug der großen Majors, da wurden wir so | |
durchgezogen. Wir bekamen viel Geld, hatten aber überhaupt keinen Erfolg. | |
Mit Ihrer aktuellen Band The Ape verfolgen Sie einen sehr experimentellen, | |
sphärischen Sound. | |
The Ape ist eher ein Studioprojekt, wir haben da nicht den Anspruch, eine | |
ernstzunehmende Rockband zu sein. Das ist eine totale Spielwiese, ein | |
Hobby. Bei Musik ist mir Unmittelbarkeit und eine gewisse Dringlichkeit | |
wichtig. | |
Was macht für Sie eine gute Musikproduktion aus? | |
Das hört sich jetzt vielleicht etwas platt an, aber ich kann nichts mit | |
Musik anfangen, die künstlich ist. Ich will, dass man dem Musiker abnimmt, | |
was er vorträgt. Das kann auch die neue Single von Kylie Minogue sein. | |
„Stop Me from Falling“ ist eine geile Produktion, finde ich. Aber es gibt | |
so viele unnötige Alben, die durch so viele Kontrollinstanzen gereicht | |
werden, dass überhaupt nichts mehr übrigbleibt. Der Erfolg zählt für mich | |
nicht. Erfolgreich ist man, wenn ein tolles Album entstanden ist. | |
Gibt es eine Band, die Sie gerne produzieren würden? | |
Da muss ich ein bisschen ausweichend antworten. Ohne dass ich es mir jemals | |
gewünscht oder vorgestellt hätte, hatte ich das Glück, mit vielen Künstlern | |
zu arbeiten, mit denen ich die Arbeit sehr genossen habe. Insofern habe ich | |
die Erfahrung gemacht, dass Sachen, die überraschend passieren, die | |
tollsten sind. Ich hätte nie damit gerechnet, dass ich einen Anruf kriege, | |
ob ich die nächste At-the-Drive-In-Platte hier im Studio mache. Das ist | |
besser als: Ach, ich wünschte, U2 würden zu mir kommen. Mir ist da auch | |
eine langfristige Arbeit mit Künstlern wichtig. | |
2005 haben Sie das Clouds Hill Studio in Rothenburgsort gegründet. Hat sich | |
der Stadtteil seitdem verändert? | |
Ich merke, dass es von allen Enden gewollt ist, dass sich der Stadtteil | |
verändert und es verändert sich auch was. Aber auf sehr unbeholfene Weise, | |
muss ich sagen. | |
Wie meinen Sie das? | |
Ich habe das Gefühl, die Stadt kriegt es überhaupt nicht hin, diesen | |
Stadtteil in der Infrastruktur zu entwickeln. Dieser irrsinnige Elbtower, | |
den sie da bauen wollen: Warum muss das als Erstes kommen? Was sich tut, | |
das geht von Privatpersonen aus. Also ich will da meine Fahne jetzt nicht | |
zu hoch hängen, aber dieses Studio, dieser Ort, den es seit knapp 15 Jahren | |
gibt, der tut natürlich etwas für den Stadtteil. Weil internationale | |
Musiker hier ein und ausgehen und auf dem Rothenburgsorter Marktplatz | |
abhängen. Hier ist die Familie Friese von Thomas-i-Punkt mit dem goldenen | |
Pavillon und so. Das ist mittlerweile ein Touristenmagnet. Als | |
Rothenburgsorter, als den ich mich inzwischen bezeichnen würde, kann ich da | |
schon fast nicht mehr hingehen, weil es so voll ist. | |
Musikerinnen und Musiker schätzen an Clouds Hill die alte analoge | |
Ausstattung. Das Herzstück Ihres Studios ist ein Neve-Mischpult aus den | |
1970er-Jahren, mit dem unter anderem das letzte Album von John Lennon kurz | |
vor seinem Tod aufgenommen und gemischt wurde. Glauben Sie an den Geist in | |
der Maschine? | |
Also ich glaube grundsätzlich, dass das Wichtigste in einem Studio der Vibe | |
ist. Der wird durch verschiedene Dinge ausgelöst. Hauptsächlich durch die | |
Menschen, die dort arbeiten. Aber eben auch durch eine gewisse Anmutung der | |
Räumlichkeiten und der Gerätschaften. Moderne Geräte haben keine Seele, | |
alte Geräte haben den Vibe. Das fängt mit einer alten Lampe an und | |
verästelt sich in so alten Mischpulten und Lautsprechern. Das ist auch | |
nicht nur klanglich so, sondern auch optisch. Was das zusammen macht, ist | |
eine Atmosphäre zu schaffen, die Kreativität ermöglicht. | |
Versuchen Sie den Sound einer bestimmten Ära nachzubilden? | |
Ganz klares Jein. Auf der einen Seite interessiert mich Nachahmung | |
überhaupt nicht. Wenn der erste Gedanke ist: Wir wollen eine Platte machen, | |
die so klingt wie Referenz XY, dann finde ich das einfach total | |
uninteressant. Die gibt es ja schon. Andererseits sind Referenzen natürlich | |
extrem wichtig, damit man weiß, worüber man spricht. Ich setze mich immer | |
mit Künstlern vorher zusammen und bespreche Folgendes: Was meinen wir | |
eigentlich, wenn wir sagen: „Fett“. Oder „Amtlich“. Was bedeutet „Coo… | |
Das ist wichtig zu klären. Es gibt Platten von dem Radiohead-Produzenten | |
Nigel Godrich oder auch ein paar Sachen von Brian Eno, da bin ich mit | |
meinem Latein am Ende. Ich weiß nicht, wie die hergestellt wurden, wie dort | |
der Sound gefunden wurde. | |
Suchen Sie dann danach? | |
Nein. Ich bin da ganz unehrgeizig und freue mich, dass die was können, was | |
ich nicht kann. Natürlich zermartere ich mir auch das Hirn, wie man das | |
hinkriegt. | |
Ihr Studio ist nach dem Refugium von Lawrence von Arabien benannt. Als Erbe | |
des Zigarettenherstellers Reemtsma haben Sie die Möglichkeiten, abseits | |
kommerzieller Verwertbarkeit anderen ein solches bieten zu können. Aber Sie | |
vermieten Ihre Aufnahmeräume auch an populäre Künstlerinnen und Künstler | |
wie Lena Meyer-Landrut oder die Sportfreunde Stiller. Sind das Brotjobs? | |
Ich habe den Anspruch, dieses Studio wirtschaftlich zu betreiben. Deswegen | |
vermiete ich das Studio an jeden, der das nutzen möchte. Außer an | |
Nazibands. Ich kuratiere dieses Studio nicht, das denken immer viele. | |
Gerade kommt alle zwei Wochen eine kroatische Bluesrock-Band, die alles | |
selbst finanzieren. Bis eben dann hin zu Lena Meyer-Landrut oder Helene | |
Fischer. Ich schränke das absichtlich nicht ein. Ich freue mich über die | |
Sportfreunde Stiller ganz ehrlich genauso wie über At the Drive-In und die | |
Beach Boys und The Killers. Ich genieße diese Vielfalt, man kann von allen | |
lernen. Und alle können voneinander lernen. | |
Inwiefern? | |
Wenn ich hier in einem Raum Pete Doherty produziere und im anderen Raum | |
machen Boy ihr Album, dann singen Boy nachher auf Pete Dohertys Album. Da | |
kann ich mir nichts Schöneres vorstellen. Gleichzeitig kann ich es mir | |
leisten, Projekte zu verwirklichen, die kein Budget haben. Aber das ist | |
vielleicht gar nicht so sehr einer Vorstellung von einem Erbe geschuldet | |
oder so. Das machen andere Produzenten auch. | |
Sie möchten nicht mehr über Ihr Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ | |
sprechen, in dem Sie über die Entführung Ihres Vaters Jan Philipp Reemtsma | |
aus Ihrer Perspektive erzählen. Warum? | |
Ich habe mit meinem Verlag abgesprochen, dass ich zwei Monate für die | |
Promotion zur Verfügung stehe. Von Ende Februar bis Ende April, dann ist | |
Schluss. Meine Mission war ja, diese Entführungsgeschichte besprechbar zu | |
machen mit allem anderen, was ich tue. Genau so, wie wir es jetzt machen. | |
Wir reden über Musik, das Studio und jetzt eben über das Buch. Was eben | |
auch heißt, ein bisschen über meine Familiengeschichte zu reden. Das habe | |
ich sehr lange nicht gemacht. Ich hielt es für notwendig, darüber mal zu | |
sprechen. | |
Sie machen darüber hinaus noch ein paar Lesungen. | |
Sehr vereinzelt, ja. Bis zum Sommer, aber immer nur in kleineren Buchläden, | |
zu denen ich auch Verbindungen habe. Ich lese in Blankenese in der | |
Buchhandlung, wo ich als Kind schon immer war. Und in einer Buchhandlung in | |
Hamm, in der ich die Verkäuferin schon lange kenne. Da passen 50 Leute | |
rein, aber es geht mir weniger darum, das Buch vorzustellen, als um den | |
Austausch mit den Leuten. Danach gibt es meistens ein Publikumsgespräch. Da | |
muss ich ganz eigennützig sagen, dass mir das immer total viel gibt. | |
Im Oktober 2018 wird in Hamburg ein Ableger des British and Irish Modern | |
Music Institute eröffnet. Sie werden dort als Head of Music Produktion | |
unterrichten. Wie kamen Sie dazu? | |
Ich finde, dass die BIMM die einzige Privatschule ist, die wirklich einen | |
guten Job macht in dem Bereich. Die haben mich gefragt, ob ich mit Clouds | |
Hill Partnerstudio sein will. Also ein Studio, wo Workshops gemacht werden. | |
Ich sehe das auch als meine spezielle Verantwortung, mit so einem gewissen | |
Bildungsauftrag den nachwachsenden Musikern etwas an die Hand zu geben, | |
weil mir das möglich ist. Basic Knowledge über Tonstudios. Ich will da gar | |
nicht von Kulturförderung sprechen, aber: Ich schulde es der Kunst. | |
Menschen, denen es möglich ist, solche Orte zu gestalten, tragen auch die | |
Verantwortung dafür, das zu machen. Der Titel interessiert mich nicht. Ich | |
kann etwas weitergeben, was ich cool finde. | |
23 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Leif Gütschow | |
## TAGS | |
Jan Philipp Reemtsma | |
Musikproduzent | |
Musikkultur | |
Musikindustrie | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2021 | |
Pete Doherty | |
Gentrifizierung | |
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