| # taz.de -- Für den Leipziger Buchpreis nominiert: Überwachen und straffen | |
| > Matthias Senkels literarische Spielfreude in „Dunkle Zahlen“ ist | |
| > bemerkenswert. Manch einer wird sich aber auch vor den Kopf gestoßen | |
| > fühlen. | |
| Bild: Alle gegen alle: das geheimnisvolle Moskauer Hotel „Kosmos“ im Jahr 1… | |
| Vielleicht ist unsere Galaxie nur ein flimmernder Nebel in einem | |
| Einweckglas. Es steht in einem weiß gekachelten Kubus auf einem Labortisch. | |
| Mit einer Lupe, die darüber angebracht ist, kann man ins Innere zoomen. | |
| Dann taucht plötzlich unser Sonnensystem auf und schließlich ein | |
| blau-weiß-brauner Planet, die Erde. Neben dem weißen Kubus erstreckt sich | |
| eine Lagerhalle. Hier reiht sich „Hochregal an Hochregal, und jedes | |
| einzelne ist vom unteren bis zum oberen Fach mit leicht getrübten, leer | |
| anmutenden Einweckgläsern bestückt“. | |
| Klingt fantastisch? Gut, möglicherweise ist all dies auch nur Resultat | |
| eines Moskauer Drogentrips im Perestroika-Jahr 1985. Das multidimensionale | |
| Szenario wäre demnach Teil eines Albtraums von Mireya Fuentes, | |
| Fachübersetzerin der kubanischen Auswahl bei der Internationalen | |
| Spartakiade junger Programmierer. Mireya wiederum ist die Protagonistin | |
| eines russischen „Poems“ über ihr Spionage-Abenteuer, das von einer | |
| „Golemartigen Literaturmaschine“ (GLM-3) errechnet worden ist, „Deutsch | |
| von Matthias Senkel“. | |
| So weit zur Herausgeberfiktion des Romans „Dunkle Zahlen“, der für den | |
| Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist. [1][Nach seinem Debüt „Frühe | |
| Vögel“] hat Matthias Senkel fünf Jahre an diesem zweiten Werk gearbeitet. | |
| „Dunkle Zahlen“ bietet eine auf den ersten Blick glaubwürdige Zeitreise | |
| zurück zum Kalten Krieg, betrachtet aus der Perspektive junger Architekten | |
| und Nachwuchsinformatiker, die sich in aberwitzigen Vor- und Rückblenden um | |
| die Heldin Mireya gruppieren. | |
| Alle überwachen sich in dieser alternativen Technikgeschichte gegenseitig, | |
| und die genaue Identität vieler Gestalten bleibt ungewiss. Mireyas | |
| kubanische Spartakiden-Kollegen werden vor Wettbewerbsbeginn aus dem | |
| Verkehr gezogen und an geheimem Ort in eine angebliche Quarantäne | |
| verbracht. Wir folgen Agentin Fuentes, die sich auf die Suche nach ihren | |
| Landsleuten macht, durch eine achterbahnartige Satire auf den Bond-Film | |
| „Liebesgrüße aus Moskau“ (1963), am Vorabend von Tschernobyl (1986) und | |
| Mathias Rusts Kreml-Flug (1987). | |
| Sexszenen und Zensur | |
| Der akrobatische Zitatismus, der bereits „Frühe Vögel“ kennzeichnete, geht | |
| hier erneut auf Rekordkurs: Senkel ruft die beklemmende Bilderwelt des | |
| Melodrams „Das Leben der Anderen“ im Kopf des Lesers ab, um die | |
| antikommunistische Schnulze in einem satirischen Abhörroman zu | |
| subvertieren, dessen pornografisches Lachkabinett entfernt an Arno Schmidts | |
| „Gelehrtenrepublik“ (1957) denken lässt. | |
| Zwar werden bei Senkel keine Gehirne verpflanzt, aber dafür sitzt ein müder | |
| Ulrich-Mühe-Klon auf seinem Abhörposten im Spartakiden-Hotel „Kosmos“ und | |
| stöpselt sich auf seiner erfolglosen Suche nach muntermachenden Sexszenen | |
| durch die akustischen Auftritte in den überwachten Zimmern. Doch dies ist | |
| nur eine der vielen voyeuristischen Ideen in dem Roman. | |
| Die futuristischen Programmier- und Zensur-Szenarien, die in Senkels Buch | |
| von Sowjet-Funktionären durchgespielt werden, sind im Social-Media- und | |
| Drohnen-Zeitalter längst Realität: Russische Hacker haben, so die plausible | |
| Vermutung, anhand von Methoden, die in „Dunkle Zahlen“ diskutiert werden, | |
| die letzten Wahlen in den USA beeinflusst und Trump zur Macht verholfen. | |
| Matthias Senkel erinnert uns daran, dass die Realität von 2018 sogar noch | |
| viel verrückter aussieht als in dem 1985 in die Blockbuster-Kinos | |
| gekommenen Film „Zurück in die Zukunft“: Darin hat der Zeitreisende Marty | |
| McFly im Jahr 1955 Schwierigkeiten damit, einem Wissenschaftler zu | |
| erklären, dass der drittklassige Westerndarsteller Ronald Reagan drei | |
| Jahrzehnte später US-Präsident sein werde. | |
| Noch Fragen? | |
| Der Roman scheint auf das 1836 begonnene Automatengedicht „Die Welt“ des | |
| genialischen Autors Gawriil Jefimowitsch Teterewkin zurückzugehen, der 1841 | |
| bei einem Duell starb. In Senkels halsbrecherisch strukturiertem Roman | |
| steht eine literaturgeschichtliche Abhandlung über Teterewkin, die | |
| mittendrin als „Nachwort“ auftaucht und den Eindruck erweckt, es handele | |
| sich um einen Exkurs über einen realen Autor. | |
| Unter der Rubrik „Enzyklopädisches“ ist sogar ein Screenshot eines | |
| Wikipedia-Eintrages zu Teterewkin abgedruckt. Googelt man danach, so findet | |
| man nur eine Stelle in Senkels „Frühe Vögel“, an der Teterewkin erstmals | |
| auftauchte. Dieser Phantomdichter soll nun also ein vergessenes Werk | |
| geschrieben haben, dessen poetologisches Konzept als Vorstufe des uns | |
| vorliegenden totalen Gedichts aus dem Elektronenhirn eines „eisernen | |
| Erzählgolems“ erscheint – ebenjener verschollenen Literaturmaschine GLM-3, | |
| die den nun von Senkel angeblich übersetzten Roman „Dunkle Zahlen“ verfasst | |
| haben soll. | |
| Noch Fragen? Mit diesem Avantgarde-Monstrum von einem Text wird Senkel | |
| sicher viele Leser vor den Kopf stoßen. Bei der Lektüre kommt die Frage | |
| auf, warum man eine Art sowjetisches Handbuch für Elektrotechniker lesen | |
| und wo der abstruse Multi-Plot überhaupt hinführen solle. Zudem hat dem | |
| 1977 geborenen Autor noch niemand verraten, dass er damit aufhören muss, in | |
| jedem zweiten Satz das Unwort „nichtsdestotrotz“ zu verwenden. Doch die | |
| erzählerische Spielfreude Matthias Senkels bleibt bemerkenswert. Der | |
| Literaturbetrieb kann sich warm anziehen: Fast sieht es danach aus, als sei | |
| dies alles erst der Anfang gewesen. | |
| 12 Mar 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan Süselbeck | |
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