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# taz.de -- Buchpreis für Åsne Seierstad: Geradezu beängstigend produktiv
> Zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse erhält die norwegische Autorin Åsne
> Seierstad den Preis zur Europäischen Verständigung.
Bild: Entschlossen: die norwegische Schriftstellerin Åsne Seierstad
„Verdammt, was mache ich hier?“ Als sie sich die Frage gestellt habe, sei
es allerdings schon zu spät gewesen, sagt Åsne Seierstad. Da habe sie
„zwischen bleichen, dünnen, blutjungen Rekruten, die Angst um ihr Leben
hatten“, in einem Transportflugzeug des russischen Militärs gesessen auf
dem Weg nach Grosny. „Solltest du als junge Frau nicht lieber über Mode
schreiben?“, hatte sie einige Tage zuvor noch ein Beamter im russischen
Verteidigungsministerium gefragt, als sie sich nach den Möglichkeiten
erkundigt hatte, in einem Truppentransporter mit nach Tschetschenien zu
fliegen.
Es ist Mai 1996. Das was später der Erste Tschetschenienkrieg genannt
werden sollte, ist ein paar Monate alt und Seierstad ist Journalistin. Das
wollte sie eigentlich nie werden. „Etwas mit internationaler Arbeit“ war
der Berufswunsch der 19-Jährigen, deren Eltern an Hochschulen lehrten und
mit denen sie 2 Jahre in Frankreich gelebt hatte, als sie 1989 in Oslo
begann, Spanisch, Russisch und Ideengeschichte zu studieren: „Vielleicht
eine internationale Organisation oder eine akademische Laufbahn.“
Nach Russland kam sie 1993, um ihr Russisch zu perfektionieren und
Staatswissenschaft zu studieren. Eines Tages fragte sie ein Assistent des
russischen Parlamentspräsidenten Ruslan Chasbulatow, ob sie Interesse habe,
den mal zu treffen. „Als ich vor dem pfeifenrauchenden Mann saß, der die
Nummer zwei hinter Boris Jelzin war, und ihm einige schnell ausgedachte
Fragen stellte, war mir klar, dass ich nie mehr etwas anderes machen wollte
als Journalismus.“
## Reportage aus Tschetschenien
Das Chasbulatow-Interview bot sie der Osloer Tageszeitung Arbeiderbladet
an, deren Russland-Korrespondentin sie daraufhin gleich wurde. „Keiner
hatte sie je getroffen, da war nur das Foto einer Mittzwanzigerin mit
blonden langen Haaren und sie war geradezu beängstigend produktiv“,
erinnert sich die Journalistin Hanne Mauno, die damals ihre Texte
redigierte.
Eines Abends habe Seierstad am Telefon erzählt, dass sie gerne eine
Reportage aus Tschetschenien machen würde. Am Ende eines langen Telefonats,
in dem der Auslandsredakteur ihr das als viel zu gefährlich auszureden
versucht und angekündigt hatte, keinen ihrer Texte zu veröffentlichen,
falls sie doch dorthin fahre, sagte sie nur: „Ich mache es trotzdem.“
Bis 1996 war sie Arbeiderbladet-Korrespondentin in Moskau, anschließend ein
Jahr in Peking. Bevor sie seit 2001 begann als Freelancerin für norwegische
und internationale Medien aus Kriegs- und Krisengebieten wie Afghanistan
und dem Irak, Serbien und Syrien zu berichten, arbeitete sie als Reporterin
für das öffentlich-rechtliche norwegische Fernsehen NRK.
## Der erste Medienpreis für die Kosovo-Berichterstattung
Für ihre Kosovo-Berichterstattung erhielt sie 1999 ihren ersten
Medienpreis. Rund ein Dutzend weitere sollten folgen. Zuletzt 2016 der
„Nashorn-Preis“ der linken Tageszeitung Klassekampen: „Für unbeugsame
Entschlossenheit“ und „weil sie immer dazu steht, was sie denkt, auch wenn
es nicht dem Zeitgeist entspricht“.
Sechs Bücher hat die 48-Jährige, die mit ihren beiden Kindern in Oslo lebt
und gerade mit Schriftsteller-Kollegen wie Jostein Gaarder und Karl Ove
Knausgård eine Verfassungsklage gegen den norwegischen Staat wegen dessen
Ölpolitik in der Arktis unterstützt, mittlerweile geschrieben.
2002 erschienen, in 40 Sprechen übersetzt und international am
bekanntesten, aber auch am meisten in Frage gestellt: „Der Buchhändler aus
Kabul“. Der fühlte sich und seine Familie durch Teile des Buchinhalts mit
intimen Schilderungen des Familienlebens verleumdet und führte mehrere
Prozesse gegen die Journalistin, die vier Monate lang in seinem Haus gelebt
hatte. In letzter Instanz haben Seierstad und ihr Verlag vor drei Jahren
gegen alle Klagen recht bekommen.
## Über Frauen beim IS
Aktuell arbeitet sie an einem Buch über die USA Donald Trumps: „Weil ich es
unheimlich wichtig finde zu begreifen, was da derzeit passiert.“ Ums
Verstehen geht es auch in ihrem letzten und noch ins Deutsche übersetzten
Roman „Zwei Schwestern“: Ayan und Leila, die sich in einem Vorort Oslos
radikalisieren und sich entschließen nach Syrien zu reisen und dem IS
anzuschließen.
Mit dem „beeindruckenden Versuch, zu verstehen“, begründet auch die Jury
des „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung“ die Ehrung der
Norwegerin. Seierstad wird den Preis am 14. März für „Einer von uns“
verliehen bekommen, ihren dokumentarischen Roman über den rechtsradikalen
Terroristen und Massenmörder Anders Behring Breivik: der Fragen aufwirft
„über Zugehörigkeit und Gemeinschaft und über die notwendigen
Voraussetzungen für ein zugewandtes, würdiges Zusammenleben“.
14 Mar 2018
## AUTOREN
Reinhard Wolff
## TAGS
Journalismus
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Norwegen
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