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# taz.de -- Preisverleihung Leipziger Buchmesse: Verpasste Chance
> Der Preis zur Europäischen Verständigung geht an Åsne Seierstad. Sachsens
> Ministerpräsident Kretschmer verteidigt erneut Uwe Tellkamp.
Bild: Die eine recherchiert über Rechte, der andere will ihnen Stimmen abluchs…
In Sachsen wurde die AfD mit 27 Prozent der Stimmen bei der letzten
Bundestagswahl stärkste Kraft. Ganz knapp vor der CDU. Ministerpräsident
Stanislaw Tillich (CDU) übergab danach sein Amt an den 1975 in Görlitz
geborenen Michael Kretschmer. Der junge CDU-Politiker sucht seither im
Bündnis mit der SPD Stimmen von den Rechtspopulisten zurückzugewinnen. In
„Sachsengesprächen“ tourt er durchs Land und geht ins Handgemenge.
Nun mischt er aber auch in Debatten von überregionaler Bedeutung mit. So
als er in einem Tweet am 9. März dem Schriftsteller Uwe Tellkamp beisprang,
Wortlaut: „#Tellkamp ist mir als krit. Stimme willkommen. Ärgerlich ist die
schon wieder beginnende Stigmatisierung. Wünsche mir, in der Sache zu
diskutieren. Wenn Streitgespräch zur Verurteilung einer Person führt, darf
man sich nicht wundern, wenn keine offenen Debatten mehr geführt werden.“
Im öffentlichen Gespräch mit Durs Grünbein war Buchpreisträger Tellkamp
(„Der Turm) in Dresden kurz zuvor über Migranten und Flüchtlinge hergezogen
– „die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her,
um in die Sozialsysteme einzuwandern, über 95 Prozent“ – und hatte sich
über Regierungen, Medien und deren angeblich linken Tugendterror beschwert.
Er wurde von vielen dafür gerügt, auch von Suhrkamp, seinem Verlag. Worauf
sich Kretschmers Statement bezog. Nun zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse
hätte man von Sachsens Ministerpräsident am Mittwochabend im Gewandhaus
gern gehört, warum die Zurückweisung rechter Fake-News – Migranten und
Kriegsflüchtlinge sollen zu 95 Prozent Sozialschmarotzer sein – für ihn
einer „Stigmatisierung“ einer „krit. Stimme“ gleichkomme.
Doch Kretschmer vertat die Chance, sich zu korrigieren. Dabei hätte die
Überreichung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung an
die [1][norwegische Autorin Åsne Seierstad] der beste Anlass für den Mann
sein können, der die Sachsen-CDU erneuern soll. Seierstad hat sich intensiv
mit Rechtsextremismus auseinandergesetzt. Glaubwürdig, akribisch, wenn auch
in der Methode nicht unumstritten. In Leipzig wurde sie für ihr
500-seitiges Werk über den Massenmörder Anders Breivik geehrt, „Einer von
uns“.
## Recherche einer Kriegsreporterin
Seierstad nähert sich darin den Taten Breiviks als erfahrene
Kriegsreporterin. Der 32-jährige Norweger hatte am 22. Juli in Oslo
versucht, Ministerpräsident Jens Stoltenberg von der Arbeiterpartei zu
ermorden. Dabei tötete er acht Menschen. Danach fuhr er auf die Insel Utøya
zum Sommercamp der Jugend der Arbeiterpartei. Als Polizist verkleidet
erschoss er dort 69 Menschen, die Hälfte von ihnen keine 18 Jahre alt. Es
war die ultimativ gemeine, böse Tat; irrational, jeglicher
zivilisatorischen Norm widersprechend. Seierstad rekonstruiert aus Akten,
Vernehmungsprotokollen und eigenen Recherchen die Attentate und wie aus
einem emotional vernachlässigten Kind ein Frauen- und Ausländerhasser
wurde, unglücklich, erfolglos, rechtsradikal, in der Parallelwelt des
Internets zu Hause – ohne daraus schnelle wertende Schlüsse zu ziehen.
Breivik spricht in seinen umfangreichen Pamphleten von „Multikulturalisten,
Kulturmarxisten“, „kapitalistischen Globalisten“, die Norwegen und das
christliche Europa dem Islam auslieferten. Der Faschist geriert sich als
Opfer, der den wehrlosen Nachwuchs der Arbeiterpartei ermorden darf. Aus
der Haft entsendet er Grüße an die Mordkumpane vom deutschen NSU und Beate
Zschäpe. Rechtsterroristin Zschäpe sitzt wie Breivik seit 2011 in Haft.
„Sind seine Ideen mit ihm weggesperrt?“, fragt Åsne Seierstad in Bezug auf
Breivik bei ihrer Dankesrede im Leipziger Gewandhaus. Und gab die
realistische Einschätzung: „Wenn wir heute auf Europa schauen, kann ein
erschreckender Aspekt nicht geleugnet werden: die Zunahme des
Rechtsextremismus; er ist heute stärker als zur Zeit des Terrorakts von
Breivik vor sieben Jahren.“
Spitzenpolitiker des völkischen Flügels der AfD wie André Poggenburg
diffamieren ganz ungeniert Minderheiten wie die Deutschen türkischer
Herkunft. Poggenburg nannte sie erst im Februar mal wieder öffentlich
„Kümmelhändler“ und „Kameltreiber“, die „sich dahin scheren“ soll…
sie hingehören, weit, weit, weit hinter den Bosporus zu ihren Lehmhütten
und Vielweibern“. Sachsens Ministerpräsident Kretschmer stellte in Leipzig
fest, jede Debatte habe „eine Geschäftsordnung“, an die sich auch
Rechtspopulisten halten müssten. Eine Anspielung auf Recht und Gesetz,
Konkretes sagte er nicht. Vielmehr gab er sich weiterhin erstaunt über die
angeblich unangebrachte „Aufgeregtheit“ im Falle Tellkamps.
Er hätte auch gar nichts dazu sagen brauchen. Aber seine demonstrativ zur
Schau gestellte Gelassenheit wirft dann doch Fragen auf. Immerhin
stigmatisiert Tellkamp in seinen Äußerungen 95 Prozent der Flüchtlinge und
Migranten. Vorurteile wird er nicht bekämpfen können, indem er den
zurückgelehnten Landesvater mimt und die törichten unter seinen
Landeskindern in Schutz nimmt.
15 Mar 2018
## LINKS
[1] /Buchpreis-fuer-sne-Seierstad/!5487435
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
Michael Kretschmer
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