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# taz.de -- Funde an der Ostseeküste: Winter der toten Robben
> Auf Rügen stranden seit dem Herbst tote Kegelrobben. Zu viele, finden
> Naturschützer. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Wer tötet Robben?
Bild: Was hat es damit auf sich?
RÜGEN taz | Ein prächtiges Exemplar, diese Kegelrobbe, wohlgenährt,
ausgewachsen, wären da nicht die Löcher im Fell, durch die die weiße
Fettschicht glänzt. Die dunklen Kulleraugen sind verwest.
Thomas Papke ist vorsichtig, der Körper könnte platzen. Mit der Spitze des
Stiefels tippt er gegen den Bauch, der ist nicht gefroren, der Kopf aber
verkeilt zwischen den wuchtigen Steinen des Deichs, über den die ersten
Spaziergänger in der Wintersonne gehen.
Papke, ein Ranger im Biosphärenreservat Rügen Südost, nimmt sein Telefon
und ruft die Kollegen mit der Seilwinde an. Anders lässt sich der Todfund,
so nennt Papke das, nicht wegbewegen.
Todfund. Leiche. Schon wieder.
Thomas Papke, Brille, Glatze, steckt in einer erdfarbenen Uniform.
„Naturwacht“ steht darauf gestickt, und das nimmt er ernst. Es gehört zu
seinem Job, zu wissen, an welchem Strand sich die Kreuzottern in der Sonne
wärmen, auf welchem Horst ein Seeadler seine Jungen aufzieht. Er freut
sich, wenn er auf einer Wiese, auf der in einem Jahr nur sieben Orchideen
blühten, im darauffolgenden dreißig zählen kann. Und es stimmt ihn traurig,
dass er den Frauenschuh nicht retten konnte, das letzte Exemplar ist bei
Abbrüchen an der Küste hinabgestürzt.
Papke hat das nicht kommen sehen. Das mit den Kegelrobben auch nicht.
## Die erste Robbe, von Spaziergängern gemeldet
Es begann im Herbst. Ein Sonntag im September, milde Temperaturen, Wind von
Süd-Süd-Ost am Greifswalder Bodden, der sich von der Südküste Rügens bis
nach Greifswald erstreckt. Am Morgen melden Spaziergänger, dass sie eine
Robbe am Strand gefunden hätten. Das ist so weit nicht ungewöhnlich, Robben
verenden, irgendwann spült die Strömung sie am Ufer an. Beginnen sie
bereits zu verwesen, treiben sie besser als die frischen, schweren Kadaver.
Kegelrobben können bis zu 300 Kilogramm wiegen.
Vier Tage später noch ein Fund. Neun und zehn Tage später wieder jeweils
eine tote Robbe. Anfang Oktober sogar zwei an einem Tag, dann drei, dann
noch mal zwei. Manchmal ist es Thomas Papke, der die Tiere bergen kann.
Einige lagert er in Kühltruhen ein, andere gehen direkt an das Meeresmuseum
in Stralsund, das für die Zählung toter Meeressäugetiere zuständig ist.
Dort landen die Tiere in einem Kühlcontainer, aufgebahrt bis zur Sektion.
Am Ende verzeichnet das Meeresmuseum 23 tote Kegelrobben, alle jung,
männlich, äußerlich unverletzt – in einem Strandabschnitt von nur wenigen
Kilometern an der Südküste der Insel Rügen gefunden.
Zum Vergleich: Im ganzen Jahr 2016 wurden an der gesamten Ostseeküste von
Mecklenburg-Vorpommern nur 23 Kegelrobben geborgen.
Mitte Januar gibt die Staatsanwaltschaft in Stralsund bekannt, dass eine
Anzeige eingegangen ist wegen Tötung einer besonders geschützten Art. Dass
sie ermitteln. Es gibt einen Verdacht: Ein Mensch tötet Robben. Kann das
sein?
Der Ranger Thomas Papke steht vor dem gestrandeten Kadaver und sagt: „Wie
soll die denn einer umgebracht haben?“
## Furcht vor der Rückkehr der Glatzen
In der Ostsee leben nur drei Arten von Robben. Viele Seehunde, einige
wenige Ringelrobben. Und die Kegelrobben. Sie sind die größten Raubtiere
Deutschlands und ziehen durch den gesamten Ostseeraum. Und sie sind schlau.
Sie lernen, Fischern und ihren Netzen zu folgen, sie zu plündern. Vor
hundert Jahren fraßen sie sich so ausdauernd durch die Netze der Fischer,
dass eine Prämie von fünf Reichsmark für jede getötete Kegelrobbe
ausgesetzt wurde. 1920 erlegte ein Fischer die letzte Kegelrobbe von Rügen.
Stefan Petry fürchtet sich vor der Rückkehr der Glatzen. Petry ist Fischer,
und die Glatzen sind die Robben, er nennt sie so. Petry steht in der
klirrenden Winterkälte am Strand, der Sand ist mit einer weißen Schicht
Frost überzogen. Petry hört dem jüngeren Fischer beim Klagen zu. Die
Heringssaison beginnt, die meisten Schiffe liegen im zugefrorenen Hafen,
nur der Jüngere ist in der Morgendämmerung hinausgefahren. Seine Netze
blieben leer.
„Sag ich ja, dass der Hering noch nicht da ist“, ruft Petry dem Jüngeren
zu. Kommt der Hering, singen die Möwen anders, und die Komorane. So war das
immer, damals schon, als er das Handwerk vom Vater lernte, und später, als
er es den Sohn lehrte. Jedes Jahr von Februar bis Mai singen die Vögel vom
Jagen, so kennt es Petry seit 40 Jahren.
„Aber die Dinge ändern sich“, raunt der Jüngere und hievt sein
Fischgeschirr aus dem Boot.
Der Hering ist noch nicht im Bodden angekommen. Die Robben sind trotzdem
da. „Wie im Zirkus ist die eine gesprungen“, erzählt der Jüngere. „Die
haben deine Fahnen gesehen“, sagt Petry.
Petry ist einer von rund einem Dutzend Fischern im Ort, der aus einer
Hauptstraße besteht, die am Meer endet. Petrys Brüder sind Fischer, sein
Sohn auch. Stefan Petry heißt eigentlich anders. Weil es um einen
Kriminalfall geht, in dem es Zeugen gibt und vielleicht auch Täter, sollen
die Fischer nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden. Auch nicht der
Ort, in dessen Umkreis die Robben angespült werden.
## Die Dinge ändern sich
Es gibt vieles, was Petry stört. Das Grollen der Bagger, die den Bau von
Windparks vorbereiten. Die neue Regel, die Menge des Fangs mit einer App an
die Behörden melden zu müssen. Am meisten aber stört ihn, dass Fischer wie
er es immer schwerer haben: höhere Auflagen, niedrige Preise und immer
weniger Jüngere, die so arbeiten wollen.
Die Dinge ändern sich. Fischer zu sein bedeutete einst, dem Rhythmus des
Jahres zu folgen, nicht den Arbeitszeiten einer Fabrik. Es bedeutete
Freiheit, selbst zu DDR-Zeiten, schließlich gehörten Fischer zu den
wenigen, die das Meer bereisen durften. Petry beschreibt das als Kribbeln
in den Fingern, dieses Gefühl, nicht zu wissen, ob es gut laufen wird oder
schlecht. Petry hat riesige Finger.
Früher verdienten Fischer in guten Jahren viel und in schlechteren
ordentlich. Heute ist das anders. Die Küstenfischer in Vorpommern gehorchen
nun dem Rhythmus des globalen Markts, ist die Nachfrage in Japan nach
Fischeiern hoch, fangen sie eben viele Fische mit Rogen. Beschließt ihr
Hauptabnehmer, ein Fischwerk in Mukran, einen niedrigeren Preis zu zahlen
als im Vorjahr, dann ist das eben so, einen anderen Käufer gibt es nicht.
Und dann ist da noch die Europäische Union. Sie hat in den vergangenen
Jahren massiv reguliert, wie viel ein Fischer fangen darf. Erst waren es
die Dorschbestände, die so gewaltig schrumpften, dass die Fangmengen
beschränkt werden mussten. Seit diesem Jahr nun auch der Hering.
Darüber spricht Petry. Noch lieber aber über die Robben, ohne dass man ihn
darum bitten muss: „Der Fischer muss sich quälen, und dann wird hier ein
offener Tierpark eingerichtet.“
Die Kegelrobben sind zurück. Im Greifswalder Bodden liegen sie auf dem
Stubber, einer steinigen Sandbank, und lassen sich von Touristen anschauen.
Oft sind es einige Dutzend, an einem Tag sollen es über 100 Tiere gewesen
sein. Ostseeweit leben heute wieder etwa 30.000 Kegelrobben. Sie sind eine
geschützte Art.
Egal, mit wem man in diesen Tagen über den Alltag eines Fischers spricht,
es sind die Robben, die für Wut sorgen. Einer, der an einem Februarabend in
der einzigen geöffneten Gaststätte im Ort eine Runde Räuberskat spielt,
tönt durch den Raum: „Ich habe nichts gegen Robben in der Nordsee, nichts
gegen Robben vor Schweden. Aber gegen die hier!“
Das Vorstandsmitglied eines Fischereiverbands sagt am Telefon: „Offiziell
werden hier zwar keine Robben angesiedelt. Vielleicht kommen die ja aber
doch aus einer Aufzuchtstation in Polen und wurden ausgesetzt.“ Dann
überlegt er. Und fährt fort: „Oder das Robbenmännchen schwimmt nach Norden
und holt sein Weibchen nach.“ Der gleiche Mann fordert in der Lokalzeitung
auch, eine Obergrenze für Kegelrobben festzulegen.
Je beliebter die Robbe, dieses niedlich wirkende Raubtier, bei Touristen
wird, je mehr sich Naturschützer um sie bemühen, umso größer wird die
Eifersucht derjenigen, die auch auf Rettung warten.
Ein Mensch, der Robben vorsätzlich tötet – ein Motiv gäbe es dafür
jedenfalls. Opfer auch. Aber hat es eine Tat gegeben?
## Wem gehört das Meer?
Der Biologieprofessor, der seit 25 Jahren dafür kämpft, dass sich die
Kegelrobben auch an der deutschen Ostseeküste wohlfühlen, sagt: „Am meisten
ärgert mich, dass die quasi direkt vor meiner Haustür ertränkt werden.“
Der Professor heißt Henning von Nordheim, ein großer Mann, mit weißen
Haaren, er arbeitet für das Bundesamt für Naturschutz. Am Morgen besteigt
er ein ehemaliges Polizeiboot, das ihn 20 Kilometer bis zu einer Insel vor
der Insel Rügen bringt, auf der zu DDR-Zeiten die Politelite Ferien machte,
Vilm. Von Nordheim leitet dort die Abteilung für Meeres- und
Küstennaturschutz. Ohne von Nordheim und sein Team ginge es den Kegelrobben
schlechter.
1992 kommt von Nordheim zum Bundesamt. Damals gibt es so gut wie keine
Konzepte, um Tiere und Pflanzen im Meer zu bewahren. Es braucht erst einen
Umweltminister, der das auf seine Agenda setzt, und noch Jahrzehnte, bis
der Meeresschutz dem Naturschutz an Land in etwa gleichgestellt wird. Von
Nordheim verhandelt europäische Abkommen mit. Er überredet Minister zu
Schutzzonen auf dem offenen Meer. Trotzdem dauert es lange, bis sich die
Robbenbestände erholen.
Da gibt es zum Beispiel krebserregende Chlorverbindungen, Weichmacher, die
jahrelang bedenkenlos verwendet wurden und bis heute in der Atmosphäre, im
Boden und in Gewässern nachweisbar sind. Vermutlich machten sie die
Robbenweibchen unfruchtbar und wurden erst 2001 verboten. Bald darauf
kehrten Kegelrobben aus dem skandinavischen Ostseeraum zurück.
Von Nordheim und sein Team bemühen sich seither, sie zu zählen. Er
beauftragte das Meeresmuseum in Stralsund damit, die Rückkehr der
Kegelrobben zu erforschen. Seit einigen Monaten erproben Fischer und
Forscher mit Geldern des Bundesamts neue Netze, die Robben nicht plündern
können und mit denen Menschen sie weniger stören. Denn mit den Robben
kehrte eine alte Frage zurück: Wem gehört das Meer?
Henning von Nordheim sagt dazu: „Es ist doch eine moralische Frage: Welches
Recht haben Menschen, die Natur so zu dezimieren, dass Bestände schrumpfen
oder ausgerottet werden?“ Wenn er über Natur spricht, zitiert er auch das
Grundgesetz, in dem der Schutz der Natur festgeschrieben ist. Er spricht
vom Gleichgewicht der Biosphäre. Im Grunde aber geht es ihm darum: Der
Mensch ist nur eine Spezies neben anderen.
Als das Meeresmuseum im September vergangenen Jahres die Zahlen der
Todfunde an von Nordheim und das Bundesamt meldet, ist er alarmiert. Er
bittet die Kollegen, die Robben so rasch wie möglich zu untersuchen.
Aus einem Sektionsprotokoll, Funddatum 14. 11. 2017: „Tod durch
Herz-Kreislauf-Versagen.“ Und: „Lunge blutgestaut; schwärzliche
Flüssigkeit.“
Dass man die Todesursache von Meerestieren nicht eindeutig klären kann,
kommt vor. 2016 strandeten tote Schweinswale vor Schleswig-Holstein – bis
heute kennt niemand sicher die Ursache dafür. Einmal fanden die Ranger eine
Kegelrobbe, deren Organe fehlten. Eine andere war von einer Schiffsschraube
zerfetzt worden. Aber 23 äußerlich unversehrte junge Männchen, die
innerhalb weniger Wochen verenden – das gab es noch nicht.
Deshalb machen sich die Biologen im Meeresmuseum noch im Herbst auf die
Suche nach den Ursachen. Es ist kompliziert, Meeressäuger zu untersuchen.
Oft sind sie schon lange verwest und selbst wenn nicht, werden sie
eingefroren, dann wieder aufgetaut und erst dann getestet.
Das Meeresmuseum bittet erfahrene Kollegen in Rostock, Greifswald, Hannover
und München um Hilfe. Sie finden bei den Kegelrobben keine Influenzaviren.
Auch keine tödlichen Bakterienmengen. Kein Herpes, keine Vergiftungen,
keine Tumore, keine eingeschlagenen Schädel oder Knochen. Dafür reichlich
Fisch in den Mägen, ein Zeichen für Gesundheit, kranke Robben hören früh
auf zu fressen. Nach 15 untersuchten Tieren legen sich die Forscher fest:
Es bleibt keine andere Todesursache als – ertrinken.
Nur ertrinken Kegelrobben nicht einfach so. Bis zu 20 Minuten können sie
tauchen, ohne Luft zu holen.
Anruf bei der Staatsanwaltschaft in Stralsund, Anfang Februar. Dort
ermittelt die Abteilung für Umweltdelikte. Bis zu drei Jahre
Freiheitsstrafe drohen dem Täter. Sollte es einen geben. Der Sprecher
windet sich: „Es gibt einen Anfangsverdacht. Aber wir müssen auch den
Kausalverlauf darstellen.“ Wenn es ein Fischer war, hat er vorsätzlich
gehandelt? Oder sind die Robben als Beifang im Fischereigeschirr gelandet,
so wie es Enten passiert, Kormoranen und eben auch immer wieder Robben?
Angeklagt ist bislang niemand, nicht einmal beschuldigt. Noch können die
Ermittler eine Frage nicht beantworten: Wann trägt ein Mensch Schuld am Tod
der Meerestiere?
Wen immer man auch fragt, eines ist sicher: Es ist nicht leicht, eine
Kegelrobbe zu erlegen. Eine schwedische Biologin erzählt, wie sie und ihr
Team eine Saison lang versucht hatten, Kegelrobben in ein gewöhnliches Netz
zu locken, und es ihnen nicht gelang. Fischer berichten von Netzen, die
zerrissen, als sich Kegelrobben daraus frei kämpften, so viel Kraft hätten
sie. Henning von Nordheim, der Meeresschützer vom Bundesamt für
Naturschutz, sagt nur so viel: „Die Robben sind mit hoher
Wahrscheinlichkeit ertrunken. Da reduzieren sich die Fangtechniken, die
infrage kommen.“
## Was kann passiert sein?
Deshalb zurück zu einem, der es wissen könnte, Stefan Petry. Was kann
passiert sein?
Petry steht in seinem Holzschuppen, hinter ihm türmen sich die Netze, Petry
lässt ein Schiffchen mit Garn durch die Maschen eines Netzes fliegen. Die
dunklen Wintermonate nutzt er, um seine Reusen zu warten.
Die meisten in seinem Ort, erklärt er, fischten mit Stellnetzen, langen
Netzwänden, in denen die Fische sich mit ihren Kiemen verhaken. Eine
einfache Technik, für die ein Fischer nur ein Boot braucht, Treibstoff und
einen guten Tag. Der Nachteil: Vögel verfangen sich darin massenhaft,
Fische, die nicht gefischt werden sollten – oder eben Robben. Die Großen
reißen sich daraus los und das Netz kaputt. Dass 23 Robben darin verenden,
ist also nahezu unmöglich. Es muss ein Fischereigerät sein, das die Robben
daran hindert, aufzutauchen, um zu atmen.
Das mit den Reusen muss man lernen, sagt Petry. Es sind komplexe Gebilde
aus Netzen und Kammern, in die die Tiere immer tiefer hineinschwimmen, bis
sie den Weg zurück nicht mehr finden. Petry erzählt, wie er mal ein System
erfand, dem auch starke Stürme nichts anhaben können, weil zwar das
Leitnetz kaputt gehen kann, Ketten reißen können, die Fangkammern aber
immer intakt bleiben. Er wollte es patentieren lassen, das war aber so viel
Bürokratie, dass er es wieder sein ließ. Den besten Fang macht er mit
Kummreusen im Frühling. Die sind teuer. Warum er die benutzt? „Mein Vater
hat das schon so gemacht.“
Und die Robben? Können die in so einer Kummreuse verendet sein? Nein, sagt
Petry, die sind doch nach oben geöffnet. „Die springen da einfach raus.“
Aber da sind auch noch die anderen Reusen, die kleineren Bügelreusen, die
sind verschlossen und unter Wasser fixiert, mehrere hundert Meter lang
liegen sie in Flachgewässern wie dem Bodden. Sie eignen sich für Aal und
Dorsch, für die Herbstsaison. Sie sind aber selten geworden.
Könnte so eine Reuse die Tatwaffe sein? Unwahrscheinlich, sagt Petry, der
Eingang ist doch viel zu klein. Und eigentlich sei es ja auch unmöglich,
dass jemand die Robbe da reinlockt, damit sie ertrinkt. „Das macht doch
keiner, das will doch keiner“, sagt Petry.
Wer hat so eine Bügelreuse in der letzten Saison benutzt? „Mein Bruder“,
sagt Petry. Und dann: „Meiner Meinung nach sind die Ermittlungen schon
Geldverschwendung.“ Da ist sie wieder, die Wut darauf, dass die Robben
etwas kriegen und die Fischer nicht.
Dabei ist der Wettbewerb von Robben und Fischern längst entschieden. Die
Robben haben die Naturschützer auf ihrer Seite und die Touristen, die Geld
bringen. Die Fischer klagen zwar über die angeblich großen Fangverluste
durch Robben, können diese aber nicht beziffern. Sie fordern trotzdem, die
Tiere abschießen zu dürfen.
Der wahre Gegner der Küstenfischer ist ohnehin die Zeit. Junge Fischer
können sich das Risiko, Kutter und Quoten zu kaufen, nur noch selten
leisten – wer die Berechtigung zu fischen nicht von seinem Vater erbt, hat
kaum eine Chance. Internationale Aktienkonzerne, die Quoten kleiner Fischer
übernehmen, hingegen schon.
Und so sind entlang des Greifswalder Boddens nur noch rund 50 Küstenfischer
geblieben, die ihrem Handwerk nachgehen. Fast allen bleiben nur noch wenige
Jahre bis zur Rente. Die irrationale Wut der Küstenfischer vom Greifswalder
Bodden auf ein paar Dutzend Kegelrobben offenbart schlicht: Angst. Davor,
zu verschwinden, als hätte es sie nie dort gegeben. So wie einst, vor 100
Jahren, die Kegelrobben.
„Jetzt wollen die hier Fischereimuseen für die Touristen bauen“, sagt
Petry, „dabei sind wir doch noch da.“
Wieder bei der Staatsanwaltschaft nachgefragt, Ende Februar: Haben Sie
mittlerweile schon die Reusen sichergestellt, um sie auf DNA-Spuren der
verendeten Tiere zu untersuchen? „Noch nicht“, teilt ein Sprecher mit, „d…
dürfen wir erst, wenn wir sicher sind, dass wir sie brauchen, um eine Tat
nachzuweisen.“
Vor Ort glauben viele die Antwort zu wissen, wie es gewesen sein muss. Man
kennt sich, zeigt mit dem Finger aufeinander, verdächtigt sich gegenseitig.
Klar ist: Wären die Robben durch Fischergeschirr ertrunken, käme nur die
seltene Bügelreuse infrage. Und: Seit dort, am Boden des Greifswalder
Boddens keine Bügelreuse mehr liegt, wurden keine frisch verstorbenen Tiere
mehr gefunden. Die jüngsten Funde waren Kadaver, die schon länger im Meer
getrieben waren.
Bald kommen wieder die Touristen. Wie jedes Jahr wird Stefan Petry einige
von ihnen einladen, mit auf sein Boot zu steigen. Er wird ihnen zeigen, wie
man Fisch räuchert. Sie schicken ihm noch Wochen später Schokolade und
Honig zum Dank. Und er wird dann die Geschichte vom vermeintlichen
Robbenmörder erzählen – und den Naturschützern, die spinnen. Eine schaurige
Geschichte, vielleicht wird nie jemand herausfinden, ob sie wahr ist oder
nicht.
Dabei könnte es einer wissen. Es stimmt zwar, dass es Stefan Petrys Bruder
war, der im Herbst eine Bügelreuse im Bodden liegen hatte.
Er selbst aber auch.
25 Feb 2018
## AUTOREN
Christina Schmidt
## TAGS
Fischerei
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Naturschutz
Mecklenburg-Vorpommern
Lesestück Recherche und Reportage
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