# taz.de -- Seehunde an der Nordsee: Das Missverständnis mit den Heulern | |
> Etwa 2.000 Seehunde werden jedes Jahr an der Nordsee geboren. Weil sie so | |
> niedlich sind, wollen viele Urlauber helfen. Das verursacht Probleme. | |
Bild: Da wird jedes Herz weich: Junge Seehunde in einer Station | |
„Oh, wie süß!“ Auf der Sandbank liegt ein Seehundbaby. Tollpatschig winkt | |
der Wonneproppen mit den Vorderflossen, die großen Kulleraugen blicken | |
scheinbar traurig umher – von der Mutter keine Spur. Das arme Tier. Wer | |
könnte jetzt einfach weitergehen, wer würde nicht versuchen zu helfen? Doch | |
gut gemeint ist nicht immer auch gut gemacht. | |
„Es kursieren haarsträubende Missverständnisse“, sagt Peter Lienau, Leiter | |
der Seehundstation Nationalpark-Haus in Norden-Norddeich. Lienau berichtet: | |
„Manche Leute übergießen den Seehund mit Wasser, wie einen gestrandeten | |
Delfin.“ Ganz und gar unnötig sei es auch, das Tier ins Meer zu schubsen, | |
denn im Gegensatz zu Walen und Delfinen haben Seehunde ein Fell und könnten | |
theoretisch monatelang an Land leben. | |
Etwa 2.000 Seehunde werden jeden Sommer geboren. Bei starken Gewittern oder | |
Störungen durch Menschen kann es sein, dass sie von der Mutter getrennt und | |
vereinzelt angespült werden. „Heuler“ nennt man so ein verwaistes | |
Seehundjunges, weil es lauthals nach seiner Mutter ruft. Aber nicht jeder | |
Seehund, der alleine am Strand liegt, ist ein Heuler. Lienau erklärt: „Es | |
können Jungtiere sein, die von ihren Müttern nur kurzfristig abgelegt | |
wurden, ähnlich wie es Rehe mit ihren Kitzen machen.“ Daher sei es ganz | |
falsch, neben dem Tier stehen zu bleiben und es zu bewachen, so verschrecke | |
man die Mutter. | |
Die Besucherzahlen auf den ostfriesischen Inseln von Borkum bis Wangerooge | |
nehmen zu. Von 2009 bis 2014 sind die Ankünfte um knapp sieben Prozent | |
gestiegen, jährlich übernachten mehr als fünf Millionen Gäste. Allein die | |
Insel Norderney ist im Sommer oft ausgebucht. Gleichzeitig sind die | |
Seehundbestände gestiegen, etwa 10.000 Tiere leben mittlerweile im | |
Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer – Höchststand seit Beginn der | |
Flugzählungen in den 1970er Jahren. | |
Kein Wunder also, dass Begegnungen zwischen Urlaubern und Seehunden | |
zunehmen. Es sind die kindlichen Proportionen der Tiere, die beim Menschen | |
einen Fürsorgeinstinkt auslösen. Jeder Seehund wird gemeldet, die Lage | |
spitzt sich zu. | |
Viele Feriengäste wählen den Polizeinotruf 110. In den Sommermonaten | |
treffen täglich etwa 20 Anrufe in der Leitstelle ein – Tendenz steigend, | |
bestätigt Marco Ellermann, Pressesprecher der Polizeidirektion Osnabrück. | |
Er erklärt: „Das ist problematisch, denn so werden die Leitungen besetzt | |
und echte Notrufe kommen nicht mehr durch.“ Seehundnotfälle können direkt | |
bei der [1][Seehundstation in Norden-Norddeich] gemeldet werden. | |
Dort bemühen sich die Mitarbeiter, Urlauber aufzuklären, zum Beispiel | |
mithilfe der Broschüre „Seehund, was nun?“. Das kleine blaue Faltblatt | |
wurde auf sämtlichen Fähren und in Hotels verteilt. Gleich auf der ersten | |
Seite steht: „Es ist nicht außergewöhnlich, wenn Sie am Strand einen | |
Seehund treffen – Sie befinden sich in seinem Schlafzimmer.“ Nur falls ein | |
Seehund offensichtlich verletzt ist, sollte er gemeldet werden. In der | |
Regel benötigen die Tiere keine Hilfe, sondern Ruhe. | |
## Ganzjährig Schonzeit | |
„Es ist schwierig zu differenzieren, wann ein Tier Hilfe braucht und wann | |
nicht“, sagt Lienau, das zu beurteilen sei Aufgabe sogenannter | |
Wattenjagdaufseher – Seehunde unterliegen dem Jagdrecht, sind jedoch | |
ganzjährig geschont. Ein Jungtier mitzunehmen, auch aus guter Absicht, wäre | |
dem Gesetz nach Jagdwilderei. | |
Das ehrenamtliche Fachpersonal beobachtet normalerweise aus der Distanz, ob | |
die Mutter in der Nähe ist. Erst wenn sie nach mehreren Stunden nicht | |
zurückkommt, wird eingegriffen. | |
„Ein engagierter Wattenjagdaufseher ist schon einmal während eines | |
Schneesturms 24 Stunden lang auf Beobachtungsposten geblieben“, berichtet | |
Lienau. Während Seehunde nämlich hauptsächlich im Juni geboren werden, | |
kommt der Kegelrobbennachwuchs im Dezember und Januar zur Welt. | |
Zwei Robbenarten leben in der Nordsee: Seehunde und Kegelrobben. Letztere | |
sind allerdings viel seltener. Den Unterschied erkennt man zum Beispiel an | |
der Kopfform. Seehunde haben eine Art Hundeschnauze, Kegelrobben haben – | |
wie der Name schon sagt – ein kegelförmiges Profil. | |
Auch in ihrer Größe unterscheiden sich die beiden Robbenarten: Kegelrobben | |
sind mehr als doppelt so groß wie Seehunde, die Bullen bringen bis zu 300 | |
Kilogramm auf die Waage. Unterschiede gibt es auch im Sozialverhalten: | |
Seehunde sind Individualisten. Auch wenn 400 Tiere zusammen auf einer | |
Sandbank liegen, ist das nur ein Zweckverband. Kegelrobben dagegen leben im | |
Sozialverband. | |
Die Seehundstation Nationalpark-Haus in Norden-Norddeich ist ein | |
Betreuungszentrum für Meeressäuger. Kranke und verwaiste Tiere werden dort | |
aufgepäppelt, um sie später wieder auszuwildern. In der Station befindet | |
sich über das ganze Jahr verteilt etwa ein Prozent der gesamten | |
Seehundpopulation des Wattenmeers. | |
Das Betreuungszentrum verfügt über eine Umweltbildungsstation und ist | |
regelmäßig für Besucher geöffnet. Durch eine Glasscheibe hindurch kann man | |
dort Seehunde und manchmal auch Kegelrobben aus nächster Nähe beobachten. | |
So mancher Besucher ist vielleicht überrascht, wie wendig die kleinen | |
Dickerchen unter Wasser sind. | |
## Verhängnisvolle Störungen | |
„Viele Jungtiere sind durch den Menschen erst zu Heulern geworden“, sagt | |
der Leiter der Seehundstation, Peter Lienau. Auf den Sandbänken haben die | |
Mütter nur bei Niedrigwasser Gelegenheit zu säugen. Werden sie gestört, | |
drehen sie sich auf den Bauch oder flüchten. So entgeht dem Jungtier nicht | |
nur die fettreiche Milch, sondern es verbraucht zusätzliche Energie bei dem | |
Versuch, der Mutter zu folgen. „Regelmäßige Nahrungsaufnahme ist für junge | |
Seehunde lebenswichtig“, erklärt Lienau. Jungtiere werden vier bis sechs | |
Wochen lang von der Mutter gesäugt und dann in die Selbstständigkeit | |
entlassen. Bis dahin sollten sie um die 20 Kilo wiegen. Schon bei fünf Kilo | |
zu wenig werden sie anfällig für Parasiten und sterben oft an | |
Folgeerkrankungen. | |
Lienau empfiehlt Inselbesuchern, ausgewiesene Ruhezonen zu respektieren und | |
auf das Fotografieren aus nächster Nähe, etwa mit dem Smartphone, zu | |
verzichten. Um die Energiereserven der Tiere zu schonen, solle man Abstand | |
halten, 300 Meter wären optimal, mindestens aber 50 – auch zur eigenen | |
Sicherheit, warnt Lienau. Trotz des niedlichen Aussehens sind Seehunde | |
Raubtiere mit scharfen Zähnen. | |
Die Kegelrobbe ist sogar das größte Raubtier Europas, noch vor dem | |
Braunbären. Lienau sagt: „Robben würden nie aktiv angreifen, allerdings | |
können sie sich wehren, wenn sie sich bedroht fühlen.“ Ein | |
Aufeinandertreffen mit einem freilaufenden Hund wäre für beide Tiere fatal. | |
Daher gilt auf allen Inseln ganzjährig Leinenpflicht. | |
Wer Seehunde in ihrer natürlichen Umgebung beobachten möchte, dem rät | |
Lienau, an einer zertifizierten Nationalparkfahrt teilzunehmen. Diese | |
Touren zu den Seehundbänken bieten alle großen Redereien an. | |
17 Jun 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.seehundstation-norddeich.de/2014/seehundstation/ | |
## AUTOREN | |
Adriane Lochner | |
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