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# taz.de -- Der lange Strand von Sankt Peter-Ording: Dann eben Nordsee
> Wer nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern die Ostsee meidet, dem bleibt
> die Nordsee. Unsere Autorin hat gelernt, wie reizvoll sie ist.
Bild: Drachenfestival 2016 am Strand von Sankt Peter-Ording
„Ach Kind, du bist ja ganz blass. Fahr doch mal an die Nordsee“, riet meine
Oma oft, wenn ich mit dunklen Ringen unter den Augen sonntags an ihrem
Küchentisch saß. Dazu seufzte sie und schüttelte mit dem Kopf, als hätte
ich Schwindsucht oder Lungenentzündung oder beides. Dabei hatte ich nur zu
viel gefeiert, war genervt oder einfach winterblass.
Für meine Oma aus Köln war die Nordsee der Inbegriff von Gesundheit. Für
mich war sie das Pseudonym für Langeweile. Es war der Ort, wo Menschen
behaupteten, es gebe kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte
Kleidung. Der Ort der dummen Sprüche. Rang eins: Spazieren im Regen bringt
Gesundheit und Segen. Rang zwei: Abhärtung ist das halbe Leben.
Für mich war die Nordsee schlechtes Wetter plus dumme Sprüche darüber. Ein
Ort, den alte und kranke Menschen besuchen, weil sie glauben, durch
schlechtes Wetter wieder gesund zu werden. Als Kind war ich einmal dort in
Kinderkur. Das war öde. Heimweh unter grauem Himmel. Und, nein, ich bin
auch nicht gesünder zurückgekommen. Danke, die Nordsee konnte mir gestohlen
bleiben.
An einem runden Geburtstag beschließe ich, meine Vorurteile, die sich im
Laufe der Jahrzehnte angesammelt haben, zu überprüfen. Punkt eins: Nordsee.
Der Zug hat mich in Sankt Peter-Ording ausgespuckt wie welker Salat:
benommen, zerknittert und schläfrig. Nun stehe ich am Bahnhof mit
Regenjacke, Gummistiefeln und Mütze. Aber es regnet gar nicht. Der Himmel
ist blitzblau, und die Luft, die ich schneidend scharf und rau als
Reizklima in Erinnerung hatte, ist weich und samtig.
Ich habe mal in einer Regentonne gebadet. Das Wasser war unvorstellbar
weich. Es fühlte sich an, als sei ich in Watte gepackt. Das Gleiche
empfinde ich jetzt mit der Nordseeluft. Nur von innen. Ich bin von innen in
Watte gepackt. Atme Watte ein, atme Watte aus. Und fühle mich bald wie ein
knackiger Kopfsalat im Morgentau. Tausche die Gummistiefel gegen Flipflops
und spaziere Richtung Ortsmitte.
Bei der Hotelsuche kommt die zweite Überraschung. Unter „Nordsee“ hatte ich
Kurhäuser und Spaßbäder, Betonsünden der sechziger Jahre abgespeichert.
Außerdem: gutbürgerliche Gästehäuser mit Namen wie „Hein und Sigrid“ od…
„Pension am Deich“, vergilbte Gardinen an den Fenstern und Terrassen, wo
sich Gäste in Regenjacken auf weißen Plastikstühlen beim Kännchen
Filterkaffee auf ihren Spaziergang durch Sturm und Nieselregen freuen.
## Sankt Peter-Ording kann auch anders
Abgesehen vom Wetter stimmt auch der Rest nur zum Teil. Sankt Peter-Ording
kann nämlich auch ganz anders. Das Kubatzki ist ein kleines, sehr
stilvolles Boutiquehotel unter alten, schattigen Bäumen mitten im Ort.
Modernes Design, zweimal täglich Yoga, Biokost im Restaurant. Andere,
ähnlich fetzige Unterkünfte sind Zweite Heimat, Strandgut und Beach Motel.
Alles außer langweilig.
Ich checke im Beach Motel ein, direkt am Deich. Die sehr jungen Leute an
der Rezeption sehen aus, als kämen sie gerade vom Surfen. Gut drauf sind
sie und duzen mich unbekümmert. Der Hoteldirektor kommt vorbei und wird –
„Hey, Marco, alles klar?“ – auch geduzt. An den Wänden hängen Surfbrett…
und gerahmte Flipflops. Ich luge um die Ecke ins Restaurant. Es ist
teilweise mit Sand ausgelegt, sehr zur Freude der Kinder, die auf
Schatzsuche gehen und buddeln, während die Eltern am Tisch auf die
Bestellung warten. Auf dem Parkplatz gibt es Stellplätze für Bullis mit
Strom- und Wasseranschluss. Duschen im Haus. Für das kleine Budget.
Eine Menge Leute scheinen diesen fröhlichen Stil den gediegenen Gasthäusern
vorzuziehen. Das Beach Motel, verrät Direktor Marco, habe eine Auslastung
von 98 Prozent. Das ganze Jahr über! So gut läuft das Konzept, dass die
bunte Truppe expandiert: In Heiligenhafen wird im Dezember ein weiteres
Beach Motel eröffnet. Seit Kurzem gibt es dort schon die Bretterbude. Noch
rustikaler, noch unkonventioneller, die kleinste Butze ab 39 Euro. Da gibt
es keine Zimmer, sondern Butzen.
## Bitte wiederkommen!
In einigen ist in den Unterbettkasten ein ausziehbares Kinderbett
integriert, für 5 Euro Aufschlag. Marco sagt, das Team sei ein Haufen
junger Leute, die eine Menge Ideen haben und sich hier austoben dürfen.
Aber man wolle auch erwachsener werden, damit das Hotel nicht einfach ein
Hype sei, sondern die Leute auch in fünfzehn Jahren noch wiederkommen.
Von mir aus müssen sie nicht erwachsener werden. Mir gefällt es so
entspannt und locker. Den anderen offenbar auch. Es gibt keineswegs nur
junge Gäste hier. Alle Altersklassen sind vertreten. An meinem Nebentisch
sitzen drei Rentner aus dem Ruhrpott, mit dem erwachsenen Enkel, der
offenbar die Location ausgesucht hat. Als er kurz mit dem Hund
verschwindet, kommt Bewegung in die schweigsame Runde.
Frau: Schön, die Zimmer, wat, Heinz-Ernst? Mann: (grummel) Joah. Aber nich
mal ’n Sessel! Andere Frau: Doch, da ist doch so ein Sack. Mann: ? Andere
Frau: Dat is ein Sitzsack, Heinz-Ernst! Mann: Joh. Aber kein Sessel. Frau:
Dat is ja auch kein Hotel, dat is doch ein Beach Motel. Andere Frau: In
meinem Zimmer gibt’s kein Licht. Frau: Da musst du den Schlüssel in den
Schlitz stecken. Neben der Tür. Andere Frau: Wie, da passt doch kein
Schlüssel rein. Frau: Hedi, die Schlüsselkarte muss da rein. Andere Frau:
Ach so.
Ich find’s gut mit dem gemischten Publikum, den Sportlern, den Kiddies, den
Hippen und den Rentnern drinnen und draußen. Der Altersdurchschnitt der
Gäste in Sankt Peter-Ording ist von 2013 bis 2015 um ein Lebensjahr auf 52
Jahre gesunken. Das ist eine Verjüngung, von der beispielsweise der WDR nur
träumen kann. Fast 2,3 Millionen Übernachtungen im letzten Jahr haben sich
auf das ganze Jahr verteilt, mit deutlichen Zuwächsen in der Nebensaison.
Die Leute finden es hier auch im Winter schön.
## Ein endloser Strand
„Ich geh' dann mal eben ans Meer“, denke ich, klettere auf den Deich – und
statt Wasser endloser Sand am endlosen Strand. Zwei Kilometer breit und
zwölf Kilometer lang. Ich bin überwältigt, hatte keine Ahnung, dass es in
Deutschland einen Ort gibt, der den Blick so weit und frei schweifen lässt.
Acht Uhr morgens, Yoga am Strand. Atmen, atmen, atmen. So viel Luft, so
viel Blau, so viel Energie! Später dann die bunten Segel der Kiter wie
Farbtupfer am Himmel. Ab und zu ein Fischerboot mit Vogelschwarm am
Horizont. Die Ebbe hat Priele gebildet, kleine Seen mit ruhigem Wasser.
Dort tummeln sich die SUPler. Sie stehen auf ihren großen Surfbrettern und
bewegen sich mit einem Stechpaddel fort. Warum setzen die sich nicht, frage
ich mich. Wegen der schönen Aussicht? Das soll Sport sein? Hein von der
Wassersportschule, muskulös und durchtrainiert, Rastalocken, strahlend
blaue Augen, erzählt mir von den Muskelkatern, die er hatte, als er mit SUP
anfing. Besonders an Füßen und Waden, Rumpf und Schulterbereich.
Gleichgewicht halten geht auf die kleine Tiefenmuskulatur. „Ein höchst
effektives Ganzkörpertraining“, zwinkert Hein.
Höchst effektiv ist auch der Wattwurm. Stefan Lindemann, über 2 Meter groß,
Gummistiefel, macht ein freiwilliges soziales Jahr im Unesco-Weltnaturerbe
Wattenmeer. Beherzt stößt er den Spaten ins Watt und will mir einen
Wattwurm zeigen. Wenn das Wasser abläuft, kommt dessen Stunde. Er ernährt
sich von Bakterien und Kleinstlebewesen im Sand. Ein gewitzter Geselle, er
scheint sich zu verstecken, wir finden keinen. Dabei sind überall seine
berühmten Spaghettihäufchen zu sehen. Die entstehen, wenn der Wurm den Sand
filtriert. Das heißt, er frisst ihn, verwertet ihn und spuckt ihn sauber
hinten wieder aus.
## Schnecken und Wattwürmer
Der Wattwurm teilt sich sein Revier mit der schnellsten Schnecke der Welt.
Sie hält einen Dreifachrekord: Mit bis zu 60.000 Artgenossen auf einem
Quadratmeter ist sie bestimmt die geselligste; außerdem ist sie mit 6
Millimetern die kleinste und mit Geschwindigkeiten von 6 Metern pro Sekunde
auf jeden Fall die schnellste Schnecke der Welt. Allerdings wendet sie
dabei einen Trick an: Sie heftet sich an die Wasseroberfläche und reist auf
der Welle. Eine Surfschnecke, wenn man so will. Stefan Lindemann ist total
begeistert. Er liebt das Watt, jeden einzelnen Wattwurm und die 12
Millionen Zugvögel, die hier rasten oder brüten.
Das muss ich erst mal sacken lassen, in der Strandbar 54 Nord, einem von
fünf Lokalen, die auf Pfählen über dem Wasser thronen und spektakuläre
Ausblicke bei leckeren Genüssen bieten. Am Strand flitzen Strandsegler
vorbei. 130 Stundenkilometer erreichen sie bei gutem Wind. Da kommt dann
auch die schnellste Schnecke nicht mehr mit. Auch Kitebuggyfahrer kommen
hier auf Speed. Sehen aus wie Kettcars mit drei dicken Rädern, die sich von
einem Winddrachen (Kite) ziehen lassen. Das geht nur an einem so riesigen
Strand wie Sankt Peter-Ording, der für diese Sportarten extra
Strandabschnitte reserviert. Das sieht nach viel Spaß aus. Vielleicht mache
ich da mal einen Schnupperkurs.
Nächstes Mal. Denn eines steht fest: Die Nordsee kann auch anders. Und am
Ende verstehe ich auch endlich, was meine Oma meinte, wenn sie vom
Reizklima der Nordsee sprach: Es reizt mich tatsächlich, wiederzukommen.
11 Sep 2016
## AUTOREN
Gitti Müller
## TAGS
Reiseland Deutschland
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Wattenmeer
Strand
Surfen
Hitze
Deutschland
Landkreis Cuxhaven
Nordsee
Schwerpunkt Klimawandel
Robert Habeck
Gentrifizierung
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