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# taz.de -- Aufnahmestopp im sächsischen Freiberg: Sie könnten, aber wollen w…
> Die Stadt Freiberg möchte keine weiteren Asylbewerber mehr aufnehmen.
> IntegrationshelferInnen halten die Notsituation für übertrieben.
Bild: Fußgängerzone in Freiberg
Freiberg taz | Es ist „Küfa“-Zeit im Haus der Begegnung des VdK auf der
Freiberger Schillerstraße. An den Fasttag Aschermittwoch erinnert das
Büffet internationaler Speisen und Salate der „Küche für alle“ nicht
gerade. Ungefähr 60 Leute werden satt, die Hälfte von ihnen sind
Biogermanen, die anderen Flüchtlinge oder ausländische Studenten der
Bergakademie. Amir Mohammad aus Syrien ist über die „Mitlaufzentrale“, die
Stefan Benkert 2015 ins Leben rief, in die Runde geraten. Ungefähr 80
Personen treiben unter diesem Namen seit 2015 gemeinsam Sport, reisen sogar
bis zum Berlin-Marathon. „Die Integration kommt von beiden Seiten“, sagt
Amir und kann gar nicht verstehen, dass sich die Stadt mit ihren
Asylbewerbern angeblich überfordert sieht.
„Die Notsituation ist sehr übertrieben“, kommentiert Amir. Im gleichen Sinn
äußern sich Vereine und private Integrationshelfer, die man an diesem
Aschermittwoch in Freiberg trifft. Auch bei den munteren Plaudereien zum
Küfa-Schmaus ist das Vorgehen der Stadt kein dringendes Thema. Genau an
diesem Tag hat Freiberg nach einem Stadtratsbeschluss von Anfang Februar
offiziell bei der Landesdirektion den Antrag auf einen Stopp des
Asylbewerberzuzugs eingereicht. Nach Salzgitter, Delmenhorst, Wilhelmshaven
im Westen und Cottbus im Osten geht die traditionsreiche Stadt des
sächsischen Silberbergbaus als fünfte diesen Schritt. Adressat ist der für
die Flüchtlingsverteilung zuständige Landkreis Mittelsachsen.
Die Stadt beruft sich auf den Paragrafen 12a des Bundesaufenthaltsgesetzes,
der sowohl eine positive Wohnsitzauflage als auch das Aufenthaltsverbot
regeln kann. Oberbürgermeister Sven Krüger (SPD) spricht von einer
Notbremse. „Uns bleibt gar keine andere Wahl“, behauptet er. Das Rathaus
zählt in der Begründung für die Stadtratsvorlage zahlreiche
Integrationsbemühungen der Stadt als auch freier Initiativen und Verbände
auf. Aber um diese Integration nicht zu gefährden, könne Freiberg keine
weiteren Zuweisungen von Asylbewerbern mehr verkraften. Die Lage in
Kindergärten und Schulen sei schon durch den Geburtenanstieg angespannt. In
einigen Einrichtungen betrage der Anteil von Migrantenkindern bis zu 30
Prozent. Gemeint ist das Alt-Neubauviertel Wasserberg, wo viele Ausländer
wohnen und sich auch die einzig verbliebene Sammelunterkunft befindet.
Genannt wird eine Zahl von 2.000 Asylsuchenden, deren Anteil also fünf
Prozent der 42.000 Einwohner Freibergs ausmache. Damit wären 70 Prozent der
Flüchtlinge des gesamten Kreises Mittelsachsen auf Freiberg konzentriert.
Anfang Februar stimmten 23 der 34 Stadträte einer Antragsvorlage für einen
Aufnahmestopp zu. Die SPD drängte sogar darauf, die „Schonfrist“ von zwei
auf vier Jahre zu verlängern.
## Eine Frage der Sichtweise
Wie dramatisch ist die Situation wirklich? Masoud Ramatian aus Afghanistan
hat für seine beiden Kinder 2016 nicht sofort einen Kindergartenplatz
bekommen, berichtet er beim internationalen Essen in der Begegnungsstätte.
Von seinen Freunden an den Tischen aber spürt niemand etwas von einer
Drucksituation und wenig von einer angespannten Atmosphäre. Läufer Stefan
Benkert findet es belebend, dass in der alternden Stadt mit immer mehr
leeren Schaufenstern wieder kleine exotische Läden aufmachen. Eine seiner
„Mitläuferinnen“ hat selbstverständlich keine Angst beim Gruppenjoggen in
der Dunkelheit. „Man muss die Beziehung suchen, um Vorbehalte abzubauen“,
sagt sie.
Holger Lueg betreut am Rande des Wasserberg-Viertels ein internationales
Gartenprojekt des Naturschutzbundes Nabu. Nichts Spektakuläres, nur 600
Quadratmeter, eine mühsam beräumte Müllhalde. Ein paar Quadratmeter kann
hier jeder nach seinem Gutdünken beackern und bepflanzen. Dazu ein
steinerner Flachbau, eine Grillmöglichkeit, ein Biotop ist im Entstehen.
„Integration passiert hier nebenbei“, meint Lueg. Eine Win-win-Situation
für alle, die auch Vorbehalte verkraftet. Man hört sie auch hier von einer
älteren Dame, die ihren Garten aufgeben musste. Ihr gilt deutsche Ordnung
und Sauberkeit mehr als alles, und sie sieht eben keine spießig-exakten
Kleingartenbeete. Was dem Miteinander auf der Scholle aber keinen Abbruch
tut.
Ob man sich überfordert fühle, sei eine Frage der Sichtweise, sagt
Naturschützer Lueg. Ob das Glas also halb voll oder halb leer sei. Zur
Befassung mit Flüchtlingen ist er durch die Amokfahrt des sogenannten
„Macheten-Mannes“ gekommen, dessen Opfer er beinahe in einer Freiberger
Fußgängerzone geworden wäre. Der aus Tunesien stammende Deutsche wurde
wegen seiner Attacken 2017 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Lueg wollte
wissen, wer dieser angebliche Flüchtling war, der vor zwei Jahren
ausländerfeindliche Stimmungen in Freiberg anheizte. Ein Hinweis auf die
Vorgeschichte des aktuellen Vorgehens der Stadt. Das käme nicht aus
heiterem Himmel, sagt die Linken-Stadträtin und sächsische
Landtagsabgeordnete Jana Pinka.
## Auch Wutbürger wohnen hier
Die promovierte Geowissenschaftlerin konstatiert erst einmal mit
Genugtuung, dass es in der Stadt keine offenen Ausschreitungen gegen
Flüchtlinge gibt. Die Geschichte der Silberstadt und die weltoffene
Bergakademie prägten die Grundstimmung. „Freiberg ist nicht Cottbus“,
spielt sie auf die jüngsten Zusammenstöße in Brandenburg an.
Aber Kommunalpolitiker bedienten auch hier latente Ressentiments. Acht
neue Stellen für einen Ordnungsdienst ähnlich einer Wachpolizei wurden
geschaffen, die Videoüberwachung verschärft. Eine andere
Flüchtlingshelferin berichtet von einer eingeschlagenen
Schaufensterscheibe, hinter der eine große Collage „Fluchtwege“ ausgestellt
war. Und wer die in kläglichstem Deutsch verfassten Kommentare auf „Russia
today“ zu einem Freiberg-Video liest, weiß, dass hier auch Wutbürger
wohnen.
Im Oktober des Vorjahres verfasste der ultrakonservative CDU-Kreisverband
zehn sogenannte Freiberger Thesen. Neben dem Rücktritt der
Merkel-Mannschaft wurde auch ein Aufnahmestopp für Flüchtlinge gefordert.
Dem folgt nun der SPD-Oberbürgermeister? Oder handelt es sich nur um eine
wohlkalkulierte Provokation, um Hilfen und eine Entlastung für die Stadt
herauszuschlagen, wie neben Pinka auch viele andere vermuten? Sven Krüger
hat es ja schon einmal theatralisch wirksam versucht, als er dem
Bundeskanzleramt Kosten für die Flüchtlingsbetreuung in Höhe von 736.000
Euro für das Jahr 2016 in Rechnung stellte.
## Gleichmäßigere Verteilung möglich
Aber gerade diese Zahlen und Rechnungen zweifelt Jana Pinka an. Sie hat
Beschwerde gegen den Stadtratsbeschluss beim Landratsamt eingelegt. Bei den
genannten Ausländerzahlen würden auch gemischte Familien und Studenten
eingerechnet. Außerdem hält sie den Entscheid für rechtswidrig, weil sich
der Paragraf 12 des Aufenthaltsgesetzes auf Einzelfälle beziehe. Auch
Annett Schrenk, Ausländerbeauftragte des Kreises Mittelsachsen, spricht von
nur 1.500 Freibergern mit Migrationshintergrund. Eine gleichmäßigere
Verteilung von Asylbewerbern im Landkreis hält sie für möglich. Allerdings
würde bei manchen, die schon zwei oder mehr Jahre in Freiberg leben, dann
die erfolgreiche Integration unterbrochen.
Warum haben sich Stadt und Kreis nicht längst verständigt, wo doch OB
Krüger und sein Amtsleiter für Betriebswirtschaft und Recht Jörg Woidniok
im Kreistag sitzen, Letzterer sogar als CDU-Fraktionschef? Das Sächsische
Innenministerium will Gespräche „aktiv unterstützen und sich an der
Problemlösung beteiligen“. Im Café Momo nahe beim Obermarkt, wo das Essen
für die „Küfa“ zubereitet wird, schüttelt Jörn Grabenhorst nur den Kopf…
diesem Aschermittwoch feiert sein Bündnis „Freiberg grenzenlos“ gerade den
zweiten Geburtstag. „Freiberg kann diese Flüchtlinge stemmen“, meint er.
„Es ist nur die Frage, ob es auch will!“
22 Feb 2018
## AUTOREN
Michael Bartsch
## TAGS
Sachsen
Flüchtlinge
Rechtsextremismus
SPD
Lesestück Recherche und Reportage
Unterbringung von Geflüchteten
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Angela Merkel
Bundestagswahl2017
GroKo
Polizei Sachsen
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